Botschafter des Heils in Christo 1876
Gnade und Wahrheit
„Das Gesetz wurde durch Moses gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ In diesen wenigen aber wichtigen Worten zeigt uns der Geist Gottes den Wechsel oder vielmehr den Gegensatz, welcher bezüglich der Handlungsweise Gottes gegen den Menschen durch das Kommen seines Sohnes in die Welt stattgefunden hat. Johannes – indem er von der göttlichen und persönlichen Herrlichkeit dessen redet, der seinen Platz unter den Menschen genommen – sagt: „Das Wort war bei Gott und das Wort war Gott ... und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ Es wohnte unter den Menschen, aber „voller Gnade und Wahrheit“ für den Menschen.
Mit Moses kam das Gesetz, welches die Aussprüche Gottes an den Menschen enthielt. Gott forderte darin die völlige Unterwerfung des Menschen unter dessen Autorität, während es zugleich die Grundlage der Beziehungen des Menschen zu Gott bildete – eine Grundlage, welche den Gehorsam gegen den bekannten Willen Gottes zur Bedingung des Segens machte. Das Gesetz sagte dem Menschen, wie er sein sollte, und sicherte ihm nach der gerechten Regierung Gottes die Segnungen, falls er dessen Forderungen erfüllte, während es ihn aus demselben Grund ohne Barmherzigkeit verdammte, wenn er auch nur in einem Punkt fehlte. Moses zeigte stets in seiner Rechten und Linken die Forderungen Gottes als ein Licht, durch welches der Mensch sehen konnte, wie er sein sollte. Er offenbarte die Grundsätze, nach welchen Gott allein mit dem Menschen nach dem Zustand, in welchem das Gesetz ihn fand, verkehren konnte. In jedem Fall deckte dieses Licht mehr oder weniger nur das Böse auf, so dass nach dem Grundsatz der Regierung keine Segnung stattfinden konnte. Und Paulus erklärt uns als Lehre das Resultat dieser Frage mit den Worten: „Denn so viele aus Gesetzes Werken sind, sind unter dem Fluch.“ Es bleibt also für den Menschen, insofern er nach dem Grundsatz des Gesetzes mit Gott in Beziehung ist, keine andere Aussicht, als das Gericht. Und je mehr das Licht des Gesetzes sein Herz und seine Wege beleuchtet, umso mehr sagt ihm sein Gewissen, dass sein Gericht ein gerechtes ist, ohne dass ihm das Gesetz auch nur den entferntesten Ausweg zum Entrinnen zeigt.
Der Grund von all diesem ist sehr klar; denn das Gesetz zeigt nie, was Gott in sich selbst für den Menschen ist, sondern was Gott in seiner Autorität von dem Menschen in dem Zustand erwartet, worin derselbe sich befindet. Moses hatte die Aufgabe, Gott nicht anders als nur auf der Grundlage der menschlichen Verantwortlichkeit zu offenbaren. Weiter ging jene Haushaltung oder die durch Mose dargestellte Beziehung Gottes zu den Menschen nicht. Das Licht, welches er in Bezug auf Gott und Menschen offenbarte, war nur teilweise und begrenzt, wie auch die Wahrheit, die er zu dem Bewusstsein des Menschen brachte. Und dieses beschränkte Maß von Wahrheit enthielt nicht eine Idee von Gnade, welche den durch dieselbe offenbarten Zustand hätte heilen können. Folglich war sein Dienst ein Dienst des Todes und der Verdammnis; nur Elend und Seelenangst bezeichneten seinen Pfad. Und wo auch noch jetzt das Gesetz seine Stimme hören lässt, hat es dieselben unausbleiblichen Folgen.
Während der Haushaltung des Gesetzes, welche mit Moses beginnt und endet, gab es nur Finsternis und Dunkelheit, welche durch das Licht des Gesetzes nur noch schärfer hervorgehoben wurde. Und anstatt dass das Evangelium eine Fortsetzung oder Entwicklung der vorhergehenden Haushaltung ist, bildet es vielmehr in allen seinen Zügen einen offenbaren Gegensatz zu derselben. Es beginnt, wo das Gesetz endet. Moses und seine Haushaltung verschwinden von dem Schauplatz, um Christus Platz zu machen, mit dessen Eintritt ein vollständiger Wechsel in der Handlungsweise Gottes mit dem Menschen eingetreten ist. Es handelt sich hier nicht um einen Wechsel in der Haushaltung, auch nicht bloß einfach darum, dass eine andere Person mit der Fülle der Macht und mit anderen Grundsätzen gekommen ist, um von Seiten Gottes einen neuen Grund der Beziehungen mit Gott einzuführen, sondern der Gekommene ist „Gott offenbart im Fleisch“. Nicht mehr handelte es sich um Forderungen, deren Erfüllung Gott von dem Menschen erwartete, und deren Gerechtigkeit der Mensch anerkennen musste, obgleich sie ihn unter die Verdammnis brachte, sondern Gott selbst kam als solcher, wie Er in sich selbst ist, „voller Gnade und Wahrheit“, für die, zu denen Er kam. Moses und seine Haushaltung mussten sich notwendig aus der Gegenwart dessen zurückziehen, der in der Fülle seiner eigenen Person kam, um selbst mit dem Menschen zu verkehren, und zwar nicht nach dem Grundsatz dessen, was der Mensch für Gott sein sollte, sondern was Gott für den Menschen sein wollte.
Moses erwartet alles von Seiten des Menschen für Gott, mit Jesus Christus kommt alles von Seiten Gottes zu den Menschen. Das eine ist Gesetz, das andere unergründliche Gnade, welche nach der Natur der Sache alles ausschließt, was sie nicht selbst ist. Das Gesetz fordert alles und gibt nichts; die Gnade fordert nichts und gibt alles. Das Gesetz wirkt Zorn, die Gnade wirkt Segen und nur Segen.
Es ist daher unmöglich, dass der Mensch auf dem gemischten Grundsatz von Gesetz und Gnade mit Gott in Beziehung sein kann. Können Moses und Christus die Herrlichkeit einer gemeinschaftlichen Haushaltung teilen? Kann jemand, der nur fordert und der die, welche seiner Forderung nicht entsprechen, verdammt, in einer übereinstimmenden Wirksamkeit erfunden werden mit dem, der nur gibt und nichts als Segnungen zu spenden hat? Können Zorn und Liebe sich die Hand reichen, um mit demselben Gegenstand Verkehr zu haben? Unmöglich.
Die Stelle: „Das Gesetz ist durch Moses gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“, hat also nicht die Bedeutung, dass durch den einen das Gesetz, durch den anderen Gnade und Wahrheit eingeführt sind, sondern enthält die Ankündigung, dass die eine Handlungsweise mit dem Menschen einer anderen nach der Vollkommenheit der Wege Gottes Platz gemacht hat. Und nicht nur dieses, sondern es steht beziehungsweise auch die Würdigkeit beider Personen, die das eine und das andere eingeführt haben, zu einander im Gegensatz. So ist z. B. Gnade und Wahrheit nicht bloß gekommen, sondern ist in dieser göttlichen, ins Fleisch gekommenen Person lebendig vertreten, so dass solche, die zu Jesu kommen, nichts anders als „Gnade und Wahrheit“ finden und sagen können: „Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade.“
Aber wodurch kennzeichnet sich die Gnade, welche keine Vermengung zulässt? Einfach durch die göttliche Liebe inmitten der Sünder – eine Liebe, die Gegenstände sucht, für welche sie sich verwendet. Solches vermochte nur die Gnade in einer Welt, wo alle Sünder sind, deren Zustand gerade die Tätigkeit der Liebe in dem Charakter der Gnade hervorruft. Sie fand von Seiten des Menschen nichts als Sünde, Hass und Elend; aber sie vergibt die Sünde, tilgt den Hass und heilt das Elend. Ja, noch mehr: Sie gab sich in den Tod, um alles, was den Segnungen ihrer Gegenstände hindernd im Weg stand, hinweg zu räumen. Alles, was unter den Menschen als die „Gnade“ offenbart wurde, war auch Zugleich die „Wahrheit“, welche alles in seinem wahren Zustand vor Gott offenbarte – alles in seinem wahren Verhältnis zu Gott durch die Gegenwart Christi auf einmal ins Licht stellte. Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit, Gott und Mensch – kurz die Wahrheit von allem ist in jeder Beziehung unter dem Strahl dieses Lichts enthüllt worden; und alles, was der Mensch zu tun hat, ist, dass er dieses Licht – die Wahrheit – annimmt. Das Licht nimmt nichts von dem Schauplatz an, in welchen es eindringt, sondern es scheint einfach auf alles und zeigt die wahre Gestalt. Das Gesetz bringt Zwar Wahrheit, aber nicht „die Wahrheit“, welche alles offenbart, was offenbart werden kann. Wenn ein Mensch zu dem Gesetz kommt, so sieht er sich allerdings in dem Licht desselben als einen Übertreter, über welchen das Tod und Verdammnis bringende Gericht Gottes verhängt ist. Doch wenn er zu Jesu kommt, so sieht er alles, weil er zu „dem Licht“ gekommen ist, welches ihm die ganze Wahrheit sagt. Er sieht nicht nur, dass er ein Übertreter, sondern dass er ein Sünder in seiner Natur und ein Feind Gottes ist: er erblickt alle die Folgen eines solchen Zustandes Gott und der Ewigkeit gegenüber. Aber er erblickt dieses alles in Gegenwart einer Liebe, welche herabgekommen ist, um ihn von all diesem, was durch das Licht offenbart worden, zu befreien; denn „das Licht ist das Leben der Menschen.“ Und anstatt dass die Angst und der Schrecken des Todes und der Verdammnis die Seele erfüllen, kehrt Friede und Freude in das Herz ein. Während die Wahrheit sich ganz und gar mit dem Gewissen beschäftigt, erfüllt die Gnade das Herz und treibt alle Furcht aus, weil die göttliche Liebe in Tätigkeit ist, um einen Sünder zu segnen.
Das sind die Erfahrungen einer Seele, welche einfach zu Jesu kommt; „Gnade und Wahrheit“ nehmen Besitz von ihr: und sie findet Frieden mit Gott und Freuds in Gott „Gott ist die Liebe.“ „Gott ist Licht.“ Dieses ist und war Er in seiner Natur von Ewigkeit her. Und Er – die Liebe und das Licht – ist offenbart worden in Christus Jesus als „Gnade und Wahrheit“, – offenbart in dem Charakter, der dem Menschen, und zwar nicht dem unschuldigen Menschen, sondern dem Sünder angepasst ist. – Das Gesetz verkehrt mit solchen, welche gerecht sein sollten, und verdammt sie; die Gnade und Wahrheit verkehrt mit Sündern und errettet sie.
Geliebter Leser! Auf wen ist dein Ohr gerichtet? Auf Moses oder auf Christus Jesus? Moses kann dir nur das Gesetz und dessen schreckliche Drohungen geben; Jesus Christus hat für dich nur Gnade und Wahrheit mit all den Segnungen, welche die göttliche Liebe gewähren kann.