Botschafter des Heils in Christo 1875
Wo ist euer Glaube
Am Schluss des Evangeliums des Matthäus richtet der Herr die tröstenden Worte an die Seinen: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters.“ Er gibt ihnen die Verheißung seiner bleibenden Gegenwart, und zwar verbunden mit der Erklärung: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Dieses Bewusstsein der persönlichen Gegenwart Jesu, sowie die Überzeugung, dass alle Gewalt sich in den Händen dessen befindet, der mit uns ist, gibt unseren Herzen während der Reise durch diese Welt in das Land der Herrlichkeit eine vollkommene Ruhe. Wenn wir über unsere Errettung durch Christus und unsere Annahme in Ihm, dem Auferstandenen, ein noch so klares Verständnis haben, und seiner Fürbitte für uns zur Rechten Gottes und seiner baldigen Wiederkunft, um uns aus den gegenwärtigen Szenen und Umständen dieses Lebens zu sich ins Vaterhaus aufzunehmen, noch so völlig gewiss sind, so bedürfen wir doch noch etwas mehr. Man kann dieses alles wissen und dennoch durch die Ereignisse, welche uns auf dem bewegten Ozean des Lebens begegnen, sehr beschwert und beunruhigt sein. Nur in dem Bewusstsein der lebendigen Gegenwart Jesu und der Ihm zu Gebote stehenden unerschöpflichen Hilfsquellen vermögen unsere Herzen dieses aufgeregte Meer in friedlicher Ruhe zu durchsegeln.
Christus ist und bleibt stets für uns alles das, was Er uns in seiner Liebe verheißen hat. Er verändert sich nie. „Er ist derselbe gestern und heute und in die Zeitalter.“ Und nicht allein Er selbst ist unveränderlich, sondern auch sein Verhältnis zu uns bleibt unverändert dasselbe. Nimmer weicht Er von unserer Seite. Nichts in uns kann dieses Verhältnis stören oder Ihn auch nur um eines Haares Breite von uns entfernen. Nicht nur besitzen wir sein untrügliches Verheißungswort: „Ich werde euch nicht als Waisen lassen; ich komme zu euch“, sondern Er versichert uns auch in seiner unfehlbaren Treue: „Ich will dich nicht versäumen, noch dich verlassen.“ Alles dieses hängt von Ihm selbst ab – von Ihm, der allein mit göttlichem Recht sagen kann: „Ich will!“ und dessen liebevolles Herz stets bereit ist.
Wie gesegnet ist dieses für uns! Aber ach, wie oft leben unsere armen Herzen noch außerhalb dieser gesegneten Gegenwart Jesu! Ich sage „unsere armen Herzen“, weil nur in Betreff ihrer dieses stattfinden kann; denn tatsächlich sind wir Ihm oder vielmehr ist Er uns immer nahe. Wir können misstrauisch gegen Ihn sein – und dieses sind wir leider nur zu oft – aber seine Liebe und Macht sind immer in Tätigkeit, um uns zu segnen und uns wieder zu dem Bewusstsein seiner Gegenwart zurück zu rufen. Und wenn Er uns zurückgerufen hat, so hören wir keinen Tadel von Ihm, wohl aber die tief ergreifenden Worte: „Wo ist euer Glaube?“
Jene Szene auf dem galiläischen Meer, bei welcher der Herr diese denkwürdigen Worte sprach, ist sehr rührend und belehrend. Die Jünger waren im Blick auf die Entfaltung der Macht, welche sie von dem nach ihrer Voraussetzung unausbleiblichen Wassertode errettete, mit Erstaunen und Bewunderung erfüllt. Aber sicherlich mussten jene Worte sie belehrt haben, wie grundlos ihre Befürchtungen gewesen waren. Sie wussten, dass Er bei ihnen war. Sie wandten sich in ihrer Drangsal an Ihn. Aber ach, wie wenig hatten sie die Liebe und Fülle dessen erkannt, der sich in ihrer Mitte befand? Konnte das Schiff, in welchem Jesus war, in die Tiefe hinabsinken? Konnten die sturmgepeitschten Wogen des Meeres den Sohn Gottes verschlingen? Konnten die Wasser der Schöpfung ihres Schöpfers vergessen und Ihn verderben, der sie ins Dasein gerufen? Für dieses alles waren ihre Augen geschlossen; und selbst die Worte und Handlungen der Güte des Herrn, welcher das Toben der Wellen zum Schweigen gebracht, hatten nur Furcht und Schrecken in ihren Herzen zurückgelassen. Obwohl nach außen jetzt alles „ruhig“ war, und die Umstände keinen Anlass mehr zu irgendwelcher Befürchtung boten, so lesen wir dennoch: „Erschrocken aber erstaunten sie und sagten unter einander: Wer ist denn dieser, dass Er auch den Winden und dem Wasser gebietet, und sie Ihm gehorchen?“
„Arme Jünger!“ Ist das alles, was ihr bis jetzt von Ihm, der mit euch das wild tobende Lebensmeer durchschiffte, gelernt habt? Zuerst zeigt ihr Misstrauen gegen Ihn und nachher Furcht und Erstaunen über die Antwort seiner Liebe auf euren Angstruf, der Ihn in seiner Ruhe gestört hatte. Ist das die einzige Sprache unserer Herzen, wenn wir auf Jesus, unseren Begleiter, blicken? Wie beschämend würde dieses für uns sein! Sicher kennen wir den Herrn besser, wie damals die Jünger; aber vertrauen wir Ihm deshalb auch mehr? Wir haben mehr von seiner wunderbaren Macht gesehen als sie; aber sind wir deshalb weniger überrascht, wenn Er durch seine Hilfe auf unseren Angstschrei antwortet?
Unstreitig hätte das Benehmen der Jünger ein anderes sein sollen; und der Herr, der sie so sehr liebte, tadelte sie mit den Worten mitleidigen Vorwurfs: „Wo ist euer Glaube?“ Aber sollen diese Worte nur dazu dienen, dass sie den Zustand der Jünger vor unsere Augen stellen? Sollen sie nicht vielmehr den Zweck haben, unsere eigenen Herzen aufzudecken? Könnte es wohl ein passenderes Wort für uns geben? Ist es nicht ein beständiger Vorwurf für uns, wenn es uns in den mannigfaltigen Wendungen und Krümmungen des Lebens begegnet, wo es gilt, das Bewusstsein der Gegenwart dessen zu bewahren, der stets mit uns ist, und dessen Gemeinschaft man nur auf dem Pfad des Glaubens genießen kann?
Der Herr ruft uns durch sein Wort: „Wo ist euer Glaube?“ nicht nur zu dem Bewusstsein seiner Gegenwart zurück, sondern offenbart uns auch durch dasselbe die Ursache all unseres Kummers. Wir suchen oft diese Ursache in dem Wechsel der uns umgebenden Umstände, anstatt in der Veränderung unserer Herzen gegenüber dem, der inmitten dieser Imstande bei uns ist, in welche Er uns selbst geführt und über welche Er die vollständige Aufsicht führt. Ein Blick auf die vor uns liegende Szene macht uns dieses klar. Nicht nur war Jesus mit seinen Jüngern im Schiffs, sondern Er selbst hatte auch zu ihnen gesagt: „Lasst uns übersetzen an das jenseitige Ufer des Sees.“ Sie stießen auf sein Geheiß vom Land, und während sie schifften, „schlief Er ein.“ War es ein Versehen vom Herrn, das Er sie auf den See führte und sie dem unerwartet hereinbrechenden „Sturmwinde“ aussetzte? War es Selbstsucht, dass Er einschlief und die Jünger einer Gefahr preisgab, welche nach seinem Willen über sie kam, als ob Er bezüglich ihrer Furcht gleichgültig sei? Es scheint fast, als hätten ähnliche Gedanken ihre Herzen erfüllt: denn indem sie den Herrn weckten, schrien sie: „Meister, Meister, wir gehen verloren!“ – oder wie Markus es ausdrückt: „Lehrer! liegt dir nichts daran, dass wir umkommen?“
Geliebter Leser! Hast du nie die Liebe und Weisheit dessen, der unser gebrechliches Boot durch das Meer der Zeit führt, in Frage gestellt? Hast du nie den Herrn mit Gefühlen geweckt, welche deine Zweifel an seiner Liebe andeuteten?
Seine Liebe steht heute wie ehemals über all unseren Schwachheiten, überall unserem Elend; und oft bringt Er in seiner Barmherzigkeit unsere Widerwärtigkeiten zum Schweigen, während Er durch die Worte: „Wo ist euer Glaube?“ uns demütigt und uns die Torheit unserer Befürchtungen zeigt. Ist die Gefahr auf stürmischem Meer größer, oder auf ruhigem geringer? Wenn unsere Herzen durch die brausenden Wogen beunruhigt werden und sich nur in Ruhe befinden, wenn die Wellen ruhig sind, so ruhen sie sicher nicht auf dem, der mit uns im Schiff ist, sondern sie ruhen auf den Wellen, in den Umständen. Kann der Herr durch die tobenden Wellen beunruhigt werden? Hätten die Jünger auf den schlafenden Jesus geblickt, hätten sie gefühlt, wer Er war, und an die Liebe gedacht, die Ihn herabgeführt hatte, um bei ihnen zu sein, so würden sie keine Furcht gehabt und Ihn nicht geweckt haben. Sicher würde der Herr in dem rechten Moment die Wogen zum Schweigen gebracht und ihren Glauben anerkannt haben, der Ihm vertraute und in Ihm ruhte, während die Umstände dem Anschein nach ihnen entgegen waren.
Ja, Jesus – gepriesen sei sein Name! – ist der Urheber unserer Reise von Ufer zu Ufer. Er ist mit uns im Schiff, und unsere einzige Aufgabe besteht darin, dass wir das Auge auf Ihn gerichtet halten. Und dann ist es ganz dasselbe, ob das Meer stürmisch oder ruhig ist. Wir können die Stürme dieses Lebens nicht umgehen; sie sind ein Teil seiner Wege in Betreff unserer; aber mag Er auch für den Augenblick seinen starken Arm nicht ausstrecken, um den Sturm zu stillen, so ruht doch der Glaube in der Liebe, die uns auf unseren Pfaden begleitet, und die alles zu ordnen vermag. Dieses sollte zu allen Zeiten der bleibende Zustand unserer Seelen sein; denn alles andere ist nur Sünde und Unglauben. Und alles, was Er uns zu sagen hat, wenn wir Ihn vergessen und seine Macht und Liebe für einen Augenblick aus dem Auge verlieren, oder seine liebevolle Fürsorge in Zweifel ziehen, ist: „Wo ist euer Glaube?“ Welch ein ernstes, beachtenswertes Wort! Er verbirgt uns keineswegs die Wahrheit, sondern sagt uns offen: „In der Welt habt ihr Trübsal;“ – aber Er fügt mit liebender Sorgfalt auch hinzu: „Seid gutes Mutes; ich habe die Welt überwunden.“
Möge der Herr in seiner Gnade uns ein einfältiges Auge bewahren, welches im Glauben auf Ihm ruht, bis wir Ihn schauen und bei Ihm in seiner Herrlichkeit sein werden!