Botschafter des Heils in Christo 1875
Was ist die Heiligung nach der Schrift - Teil 1/2
Es gibt in unseren Tagen viele wahre Gläubige, deren Herzenszustand ein höchst unbefriedigter ist. Sie fühlen eine nicht auszufüllende Leere, einen Mangel, für welchen sich ihnen nirgends ein Ersatz zeigt. Das Wort Gottes spricht von einem Überfluss des Lebens, von einem Frieden, der allen Verstand übersteigt, von einer völligen Freude für den Gläubigen; aber sie genießen all diese Vorrechte mehr oder weniger in einem geringen Maße. Es darf vorausgesetzt werden, dass viele dieser Seelen, wenn sie anders aufrichtig sind, mit Ernst und tiefer Betrübnis die Ursache davon zu erforschen suchen. Nur ist zu bedauern, dass sie sich nicht einfach zur wahren Quelle aller Weisheit, zum Wort Gottes wenden, sondern entweder den eigenen Gedanken, die so oft irreführen, oder auch wohl solchen Lehrern das Ohr leihen, deren Theorien selbst nicht völlig aus jener untrüglichen Quelle geschöpft sind und, als ein Gemisch von göttlichen und menschlichen Gedanken, oft eine umso willigere Aufnahme finden, je mehr sie der menschlichen Natur schmeicheln und dieselbe erheben.
Es wird nun, wie ich voraussetzen darf, den meisten Lesern dieser Zeilen nicht unbekannt sein, dass in unseren Tagen vornehmlich die Frage der Heiligung viele Herzen der Gläubigen beschäftigt und wohl gar beunruhigt. Gewiss ist es dem Herrn wohlgefällig, wenn wir jede Wahrheit der Schrift zu erforschen suchen; ja es ist dieses eine unserer ernstesten Pflichten: jedoch haben wir sorgfältig darüber zu wachen, dass unsere Auffassungen in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes sind. Nur aus einem geistlichen Verständnis der Wahrheit entspringt ein wirklicher Segen, während anders, wenn wir diese göttliche Wahrheit mit unseren eigenen Gedanken messen oder vermengen, nur Unsegen und oft höchst traurige Verirrungen die Folge sein können. Deshalb lasst uns bei Betrachtung dieser so wichtigen Frage der Heiligung nur zu dem Wort Gottes, als der allein lauteren und untrüglichen Quelle, unsere Zuflucht nehmen; und der Herr, reich an Gnade, möge durch seinen Geist uns leiten! 1.: Es gibt in der Tat in der Heiligen Schrift keine Wahrheit, die unter den Gläubigen so viele mangelhafte Begriffe und selbst falsche Auffassungen hervorgerufen hat, als die Lehre von der Heiligung. Während die einen dabei nur an das fortschreitende Werk des Heiligen Geistes in der Seele denken und mithin, wie wir später zeigen werden, nur eine Seite derselben ins Auge fassen, gibt es andere, welche in der Heiligung eine Veredlung oder Verbesserung der alten Natur oder des alten Menschen erblicken und die frommen Gefühle und andächtigen Regungen ihres Gemüts als einen Fortschritt in derselben bezeichnen; und endlich wieder andere, welche die Behauptung aufstellen, dass die Heiligung bei den Christen durch eine Übergabe an den Herrn ohne Vorbehalt – wie sie es auszudrücken pflegen – zur wirklichen Tatsache werde, und zwar in der Weise, dass man dadurch in einem Nu aus einem unreinen und darum unseligen Zustand in einen neuen, besseren hinüberspringe und, gestützt durch allerlei geistliche Übungen, sich darin zu erhalten vermöge – eine Behauptung, die in der jüngsten Zeit viele Anhänger zählt. Beim Erforschen der Schrift bezüglich dieses Gegenstandes werden wir indessen sehen, wie haltlos und irrig eine solche Auffassung ist, und wie wenig sie ihre Quelle und ihren Grund in den Gedanken Gottes hat.
Es muss jedem aufrichtigen Bekenner des Wortes Gottes einleuchtend sein, dass jede Bemühung, unsere Natur zu veredeln oder zu verbessern, eine Verneinung der gänzlichen Verderbtheit des natürlichen Menschen in sich schließt und mit der Lehre der Schrift in völligem Widerspruch steht. Das Wort Gottes lehrt weder, dass eine allmähliche, noch dass eine plötzliche Umwandlung unserer alten Natur möglich sei, sondern erklärt vielmehr mit allem Nachdruck: „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott; denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan; denn sie vermag es auch nicht“ (Röm 8,7). Dieses ist deutlich genug. Das Fleisch unterwirft sich dem Gesetz Gottes nicht, ja es kann sich demselben nicht unterwerfen. Die alte Natur ist nichts anders, als Feindschaft, Hass, Finsternis usw. Wer sie kennt, hält ihre Verbesserung für unmöglich; und wer Versuche dieser Art anstellt, wird finden, wie fruchtlos seine Anstrengungen, wie eitel seine Bemühungen sind. Er mag das Fleisch bekämpfen, peinigen, kasteien; aber es wird stets Fleisch, Feindschaft wider Gott, sein und bleiben. „Was vom Fleisch geboren ist, ist Fleisch;“ weder durch eine anhaltende Beschäftigung mit himmlischen Dingen, noch durch die andächtigsten Übungen, um eine ununterbrochene Gemeinschaft mit Gott zu unterhalten, vermag man eine Umwandlung seines Wesens zu bewirken. Paulus war bis in den dritten Himmel, bis in das Paradies entrückt worden und hatte dort unaussprechliche Worte gehört; aber sein Fleisch, seine alte Natur, war unverändert geblieben, so dass er sogar, um sich der hohen Offenbarungen wegen nicht zu überheben, eines Domes für das Fleisch bedurfte, und von sich stets sagen musste: „In mir, das ist in meinem Fleisch, wohnt nichts Gutes“ (Röm 7,18). Auch belehrt er die Galater, dass zwischen dem Fleisch und dem Geist ein fortwährender Kampf bestehe; „denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind einander entgegengesetzt, auf dass ihr nicht das tut, was ihr wollt.“ Das Fleisch kann wohl durch die Kraft des Geistes niedergehalten und unterjocht, nie aber verbessert oder verändert werden.
Die Lehre der Heiligen Schrift bezüglich der Unverbesserlichkeit des Fleisches oder der alten Natur ist also klar und unbestreitbar. Gott hat dessen Verderbtheit nach unzähligen Proben als eine traurige, aber unumstößliche Wirklichkeit ans Licht gestellt und dasselbe schließlich in Christus Jesus auf dem Kreuz gerichtet und hinweggetan. Der bußfertige Sünder denkt nun freilich zu Anfang weniger an den Zustand seines Fleisches, als vielmehr an seine Sünden, deren er sich in Gesinnung, in Worten und Werken schuldig gemacht hat; und nach dieser Richtung hin sucht das Gewissen Ruhe und Frieden gegenüber einem gerechten und heiligen Gott. Welch eine Freude aber füllt sein Herz, wenn es, durch die Gnade geleitet, im Glauben seinen Blick zum Kreuz erheben und dort den Herrn als den Sündenträger erblicken darf! Er schaut das kostbare Blut Jesu, welches ihm zum Eintritt in das Heiligtum Freimütigkeit gibt; und mit glücklichem Herzen lauscht er auf die Worte: „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt von aller Sünde“ (1. Joh 7). – Er kann also in gläubigem Vertrauen ausrufen: „Christus hat alle meine Sünden getragen und mich durch sein Blut so reingewaschen, dass das alles durchdringende Auge eines heiligen und gerechten Gottes keinen Flecken mehr sieht!“ Wunderbare Gnade! Was die vielen Opfer des alten Bundes nicht vermochten und wozu sie auch nicht gegeben waren, hat das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Christi vollbracht. Dieses Opfer hat uns für immer von unseren Sünden gereinigt; denn sie sind alle ins Gericht vor Gott gekommen, sind getragen, gesühnt, und zwar durch den, der „unserer Sünden wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt ist“. Wir haben jetzt ein vollkommenes, das ist ein gutes Gewissen vor Gott; nie Mehrbedarfes einer nochmaligen Reinigung durch Blut, denn „durch ein Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (Heb 10,14). Der Heilige Geist selbst bezeugt uns, dass unsere Sünden nie mehr in das Gedächtnis vor Gott kommen werden (Heb 10,15). Christus ist „mit seinem eigenen Blut ein für alle Mal in das Heiligtum droben eingegangen, als Er eine ewige Erlösung erfunden hatte“ (Heb 9,12). Nicht mehr die Menge unserer Sünden, sondern das Blut Jesu, das sie für immer gesühnt und getilgt hat, ist vor dem Angesicht Gottes. Der Vorhang, der den heiligen und gerechten Gott von dem schuldigen und fluchwürdigen Sünder trennte, ist zerrissen, der Weg ins Heiligtum geöffnet; denn dasselbe Opfer, welches allen Bedürfnissen eines armen, verlorenen Sünders entsprach, hat zugleich Gott so vollkommen verherrlicht, dass wir jetzt als gereinigte Anbeter einem verherrlichten Gott nahen können. Es bedarf keines Vorhanges mehr. Das Blut Christi gibt uns völlige Freimütigkeit zum Eintritt ins Heiligtum. Denn der große Hohepriester, der dort eingegangen ist, hält unsere Beziehung zu Gott auf Grund seines kostbaren Blutes aufrecht.
Jedoch handelt es sich nicht nur um die Wegnahme unserer Sünden, sondern auch um die Beseitigung unseres ganzen Zustandes von Natur. Es ist wahr, unsere Sünden sind getragen und hinweggetan; aber dieses ist nur der eine Teil des Werkes Christi. Dieses Werk hatte es nicht bloß mit unseren Sünden, als den schlechten Früchten, sondern auch mit uns selbst, als dem schlechten Baum, zu tun. Und welch eine Gnade, im Blick auf das Kreuz sagen zu dürfen, dass nicht nur unsere Sünden vergeben sind, sondern dass auch die Sünde im Fleisch gerichtet, der alte Mensch mitgekreuzigt und hinweggetan ist. Es lagen nicht nur unsere Sünden auf Christus, sondern Er ward auch für uns zur Sünde, d. h. zu dem gemacht, was wir von Natur sind (vgl. Röm 4,25 mit 2. Kor 5,21). Er, der Sünde nicht kannte, nahm auf dem Kreuz unseren Platz, beladen mit unseren Sünden und für uns zur Sünde gemacht, im Gericht vor Gott ein. Dort war Er an unserer statt von Gott verlassen, an unserer statt unter dem Zorn Gottes. Dort wurden an Ihm unsere Sünden und unser sündiger und verderbter Zustand gerichtet. Ich kann meinen Blick im Glauben zum Kreuz erheben und sehe dort meine Schuld bezahlt und alles Böse in mir, meinen ganzen Zustand von Natur, verurteilt und gerichtet. „Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem Er, seinen eigenen Sohn in Gleichheit des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleisch verurteilte“ (Röm 8,3). Der Kreuzestod Christi hat meinem alten Zustand, als dem eines Nachkommen des ersten Adam, für immer ein Ende gemacht. „Indem wir dieses wissen, dass unser alter Mensch mit gekreuzigt ist, auf dass der Leib der Sünde abgetan sei, dass wir der Sünde nicht mehr dienen“ (Röm 6,6). Wir haben „den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen und den neuen angezogen“ (Kol 3,9–10). „Die Wahrheit in dem Christus ist, dass ihr, was den früheren Lebenswandel betrifft, abgelegt den alten Menschen ... und angezogen habt den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,21–24). „Die aber des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Lüsten“ (Gal 5,34). „Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott“ (Kol 3,3).
Diese Stellen werden hinreichen, uns – ich rede natürlich nur von Gläubigen – zu überzeugen, dass unser Zustand von Natur, das Fleisch, unser alter Mensch, der erste Adam, nicht einer Verbesserung fähig ist, sondern als gänzlich verwerflich in dem Tod Christi ein Ende gefunden hat. Bezüglich dieses Zustandes sind wir gerichtet, gekreuzigt, gestorben und begraben. Der alte Mensch ist ausgezogen und vor Gott hinweggetan. So lehrt uns das Wort Gottes, und so urteilt unser Glaube, der allem aus diesem Wort schöpft und auf diesem Wort ruht. Ein Christ kann der Wahrheit gemäß nur sagen, dass sein alter Mensch mit Christus gestorben und begraben, dass der Leib der Sünde hinweggetan ist. Jede Behauptung, die dieses leugnet, steht im Widerspruch mit dem Wort Gottes und ist darum falsch und verwerflich.
Nun ist aber Christus nicht nur, als für uns zur Sünde gemacht, auf dem Kreuz gestorben, sondern Er ist auch wieder auferweckt und ohne Sünde, als das Haupt einer neuen Schöpfung, zur Rechten Gottes im Himmel erhöht worden. Durch seine Auferweckung aus den Toten, sowie durch seine Erhöhung zur Rechten Gottes hat Gott auf das für uns vollbrachte Opfer Christi das Siegel seiner Anerkennung gedrückt und in feierlichster Weise erklärt, dass Er vollkommen verherrlicht und seine Gerechtigkeit in Bezug auf uns völlig befriedigt worden ist. Durch die Auferweckung Christi und durch sein Sitzen zur Rechten Gottes ist uns der Beweis gegeben, dass das aus Golgatha für uns vollbrachte Werk bei Gott völlige Annahme gefunden hat. Da Er aber um unsertwillen, an unserer statt, im Gericht war, so ist seine Annahme vor Gott die unsrige, und seine vollkommene Rechtfertigung vor Gott die unsrige. Wir sind nicht nur mit Ihm gestorben und begraben, sondern auch mit Ihm lebendig gemacht und auferweckt, und mithin in Ihm von Gott angenommen und gerechtfertigt; wir haben nicht nur den alten Menschen ausgezogen, sondern auch den neuen angezogen, wie uns die oben angeführten Stellen in klarster Weise belehren. Dieser neue Mensch aber ist Christus. Wir sind des Lebens des auferstandenen Christus teilhaftig geworden; Er selbst ist unser Leben (Kol 3,4); und in Ihm sind wir schon in die himmlischen Örter versetzt (Eph 2,6). Wir sind, bezüglich der Verantwortlichkeit des alten Menschen, dem Gericht über die Sünde so völlig entronnen wie Christus selbst. „So ist denn nun keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind“ (Röm 8,1). Und noch mehr. Nicht nur ist Christus selbst unsere Gerechtigkeit, sondern auch wir sind Gottes Gerechtigkeit geworden in Ihm (vgl. 1. Kor 1,30 mit 2. Kor 5,21). Wir gehören jetzt dem zweiten Adam an, sind mit dem Haupt der neuen Schöpfung in Verbindung, wie wir früher dem ersten Adam und der alten Schöpfung angehörten. Der für uns geschehene Kreuzestod Christi hat dieses alte Verhältnis völlig abgebrochen und aufgelöst, während das Leben des auferstandenen und zur Rechten Gottes erhöhten Christus jene neue Verbindung für immer angeknüpft und versiegelt hat. „So denn, wenn jemand in Christus ist – eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden“ (2. Kor 5,17). Dieses ist unser Zustand und unsere Stellung in Christus vor Gott, wiewohl noch unser Leben, wie Christus selbst, in Gott verborgen ist. Wenn aber der Herr kommen und den Leib unserer Niedrigkeit seinem verherrlichten Leib gleichförmig machen wird, dann wird dieser Zustand und diese Stellung offenbar werden in Herrlichkeit. Wir werden dann schauen, was wir jetzt nur durch den Glauben genießen können. Der Glaube richtet den Blick auf den gekreuzigten und gestorbenen Christus und sieht in Ihm das Ende des alten Menschen mit seiner ganzen Verantwortlichkeit; er erhebt das Auge auf den auferstandenen und verherrlichten Christus und erblickt in Ihm das Leben und die Herrlichkeit des neuen Menschen. „Wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt“ (1. Joh 4,17). „Christus alles und in allen“ (Kol 3,11).
Es ist demnach eine ganz falsche und schriftwidrige Behauptung, dass der Gläubige aus zwei Menschen, aus dem alten und dem neuen Menschen, bestehe. Wenn, wie die Schrift uns lehrt, der alte Mensch gestorben und begraben ist, so kann von seinem Dasein nicht mehr die Rede sein. Vielmehr ermahnt uns das Wort: „Haltet euch der Sünde für tot“ (Röm 6,11). Der alte Mensch ist der Sünde unterworfen, ist ein Sklave derselben; aber der Gläubige kann im Blick auf diesen Zustand bekennen: „Ich bin mit Christus der Sünde gestorben.“ Der alte Mensch stand entweder buchstäblich oder grundsätzlich unter der Verantwortlichkeit des Gesetzes; aber der Tod hat den Gläubigen völlig davon befreit; „denn“ – sagt Paulus – „ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, auf dass ich Gott lebe; ich bin mit Christus gekreuzigt; und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,19–20). Auch ruft er den Kolossern zu: „Wenn ihr mit Christus den Elementen der Welt (dem Gesetz) gestorben seid, was unterwerft ihr euch den Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt?“ (Kol 3,20) Der alte Mensch steht mit dieser Welt in Verbindung; aber der Tod auf dem Kreuz hat jedes Band mit der Welt durchschnitten. „Von mir aber“ – sagt Paulus – „sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“ (Gal 6,14). Immer ist es der Tod, der jede Verbindung des Fleisches oder des alten Menschen aufgelöst hat. Die Sünde, das Gesetz und die Welt sind immer noch vorhanden; aber der in seinem alten Zustand ihnen unterworfene Mensch ist mit Christus gestorben und begraben. Der Gläubige ist ein neuer Mensch, lebendig gemacht und auferweckt mit Christus; er ist nicht mehr im Fleisch, sondern im Geist (Röm 8,9); er ist nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (Röm 6,14); er ist nicht von dieser Welt, sondern von Oben; er ist aus Gott geboren.
Nichtsdestoweniger aber dürfen wir es nie aus dem Auge verlieren, dass, ungeachtet unserer neuen Stellung, die Sünde in unserem sterblichen Leib vorhanden ist. „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1. Joh 1,8). Und Paulus sagt: „Ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt“ (Röm 7,18). „Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch“ (Gal 5,17). „So herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leib, um seinen Lüsten zu gehorchen“ (Röm 6,12). Die Sünde und das Fleisch sind in mir; aber seitdem ich mit Christus gestorben und auferstanden, seitdem ich durch den Geist mit Ihm vereinigt bin, habe ich aufgehört, ein Sklave der Sünde zu sein, und bin ein Sklave Gottes geworden (Röm 6,22). Das Vorhandensein der Sünde in meinem Fleisch verunreinigt mich nicht; dieses wird nur dann der Fall sein, wenn ich ihr zu wirken erlaube. Zudem wohnt der dem Fleisch entgegenstehende Geist in mir; und wenn ich im Geist wandle, werde ich die Lust des Fleisches nicht vollbringen (Gal 5,16). Jedenfalls aber wird das Vorhandensein der Sünde im Fleisch eine beständige Quelle von Unruhe und Zweifel sein, wenn wir unsere neue und wahre Stellung in Christus nicht durch den Glauben einnehmen, oder in unserem Wandel gleichgültig und nachlässig sind. Haben wir hingegen unsere Stellung wirklich erkannt, so wissen wir, dass die in uns wohnende Sünde gerichtet ist, und dass wir in Christus und im Geist vor Gott sind: und wir werden stets mit Freimütigkeit nahen und in seiner Gegenwart glücklich sein.
Das Blut Christi sichert uns also unseren Platz im Heiligtum und hat uns fähig gemacht in der Gegenwart Gottes zu weilen, um Ihm die Opfer des Lobes darzubringen (Heb 13,15). Das ist ohne Ausnahme das Vorrecht aller, die von Herzen an Christus glauben. Ihr gesegneter Platz ist das Heiligtum droben, wo Christus selbst eingegangen ist, um für sie vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen (Heb 9,24). Nur Unkenntnis des vollendeten Werkes Christi kann ein gläubiges Herz mit Unruhe und Furcht erfüllen, wenn es an die Gegenwart Gottes denkt. Freilich erleidet, wenn wir in unserem Wandel fehlen oder sündigen, unsere praktische Gemeinschaft eine Unterbrechung; und zur Wiederherstellung derselben bedarf es des Bekenntnisses unserer Sünden und des Selbstgerichts, um Vergebung und Reinigung zu erlangen (1. Joh 1,9). Und welch eine gnadenreiche Vorsorge, dass wir, wenn jemand gesündigt hat, einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus, den Gerechten, haben! Wir dürfen also allezeit hinzunahen, sind immer willkommen und annehmlich nach dem Wert und der Kostbarkeit des Blutes Christi und nach dem Wert und der Annehmlichkeit der Person Christi selbst, der Gott vollkommen verherrlicht hat. 2.: Selbstredend kann erst dann, wenn die Seele ihre wahre Stellung in Christus und vor Gott erkannt hat, die Frage der Heiligung, wie die Schrift sie darstellt, in nähere Erwägung gezogen werden. Bevor wir jedoch zu diesem Abschnitt unserer Betrachtung übergehen, wird es nützlich sein, die Ausdrücke „geheiligt“, „heilig“ einer kurzen Prüfung zu unterziehen. In dem ganzen Wort Gottes, sowohl Alten als Neuen Testaments, bezeichnen dieselben die Absonderung oder Trennung von einer Person oder Sache – eine Absonderung von etwas und für etwas, mag sie sich äußerlich oder innerlich, dem Fleisch oder dem Geist nachvollziehen. Es ist das Ausgehen aus einer bisher bestandenen, und das Eingehen in eine neue Verbindung. Gott heiligte den siebenten Tag; d. h. Er sonderte ihn von den übrigen Tagen ab, damit derselbe nicht gleich diesen der Arbeit, sondern der Ruhe gewidmet sei. Ebenso wurde alles Erstgeborene in Israel, unter Menschen und Vieh, dem Herrn geheiligt; es gehörte Ihm an und wurde für Ihn abgesondert. Israel, als Volk, war geheiligt; es war eine heilige Nation, abgesondert von allen anderen Völkern; es war ein Eigentum des Herrn.
Im Neuen Testament lesen wir: „Der ungläubige Mann ist geheiligt durch das Weib, und das ungläubige Weib ist geheiligt durch den Mann“ (1. Kor 7,14). Der ungläubige Teil in der Ehe war durch und für den Gläubigen von der Welt abgesondert, so dass letzterer sich durch das bestehende Band nicht verunreinigte. Es werden auch die Gläubigen in der Schrift „Geheiligte in Christus Jesus“ genannt; sie sind von der Welt abgesondert und Kinder Gottes geworden. – Ebenso hat auch das Wörtchen „heilig“ die Bedeutung der Absonderung und ist sowohl auf Personen, als auf Dinge angewandt. Heilige Brüder, heilige Apostel, heilige Geräte, heiliger Berg, heilige Stadt. Letztere Bezeichnung fand selbst dann noch auf Jerusalem ihre Anwendung, nachdem diese Stadt bereits den Messias verworfen und gekreuzigt hatte (Mt 27,53), weil der Herr sie aus allen Stämmen Israels auserwählt hatte (2. Chr 12,13). Dieses wird genügen, um den allgemeinen Sinn der Ausdrücke „geheiligt“, „heilig“ verstehen zu lassen, deren Anwendung jedoch von unterschiedlicher Tragweite ist, indem sie, wie gesagt, bald eine äußerliche, bald eine innerliche Absonderung, bald eine Absonderung nach dem Fleisch, bald eine nach dem Geist bezeichnen. Bei Israel unter dem Gesetz war die Heiligung eine äußerliche, zeremonielle Absonderung von Personen oder Dingen, während sie bei uns, die wir unter der Gnade stehen, mehr eine innere, geistliche Absonderung bezeichnet, bewirkt durch das Opfer Christi und durch den Heiligen Geist. Wir lesen in Hebräer 10,10: „Durch welchen Willen (den Willen Gottes) wir geheiligt sind durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi.“ Der Wille Gottes ist die Quelle, die Ursache, und das ein für alle Mal geschehene Opfer Christi das Mittel unserer Heiligung. Durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes werden wir derselben teilhaftig gemacht. Unsere Absonderung von der Sünde hat also den Willen Gottes und das Werk Christi zur Grundlage. „Das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte“ (Joh 17,4). Unsere Heiligung ist mithin eine innere und gänzliche Absonderung von der Sünde, mit der wir verbunden waren.
Wenn wir jetzt auf einige Stellen des Neuen Testaments, die auf unseren Gegenstand Bezug haben, unsere Blicke richten, so werden wir darin die Belehrung finden, dass einerseits alle Gläubigen in Christus geheiligt sind, und andererseits geheiligt werden müssen oder der Heiligung nachzujagen haben: dass die Heiligung hinsichtlich der Stellung des Gläubigen eine abgeschlossene, vollendete, hinsichtlich ihres Wandels aber eine fortschreitende Sache ist. Beschäftigen wir uns zunächst mit dem ersten Fall.
Wir lesen in 1. Korinther 6,11: „Aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt in dem Namen unseres Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes.“ Es wird einem jeden einleuchtend sein, dass dieser Vers den Zustand oder die Stellung kennzeichnet, in welcher jeder Gläubige in Christus vor Gott steht. Das Geheiligtsein oder die Heiligung ist eine ebenso vollzogene Tatsache als die Rechtfertigung: denn nirgends finden wir eine Ermahnung, abgewaschen, geheiligt und gerechtfertigt zu werden. Wir sind, sobald wir an Jesus glauben, sowohl geheiligt, als abgewaschen und gerechtfertigt. Alle Gläubigen – ob jung oder alt, schwach oder stark, ob Kinder oder Väter an Erfahrung und Erkenntnis – sind abgewaschen, geheiligt und gerechtfertigt. Sie sind es in gleichem Grad, in gleich vollkommenem Maß, weil Christus selbst das Maß ihres Geheiligtseins ist. Hier ist kein Wachstum möglich. Sie sind alle in Christus und darum für immer und vollkommen von der Welt, von der Sünde und von allem, was damit in Verbindung ist, abgesondert. Sie werden alle ohne Unterschied in der Schrift „Heilige“ oder „Geheiligtein Christus Jesus“ genannt (vgl. Kol 3,12; 1. Kor 6,1–2; Eph 4,12; Röm 12,13; Apg 9,12), Paulus schreibt an „die Geliebten Gottes, die berufenen Heiligen, die zu Rom sind“; an „die Geheiligten in Christus Jesus zu Korinth“; an „alle die Heiligen, die in ganz Achaja“; an „die Heiligen, die zu Ephesus“; an „alle Heiligen in Christus Jesus, die zu Philipp: sind.“ Hier handelt es sich keineswegs um den praktischen Zustand der Seelen, um den Grad der Erkenntnis und der Erfahrung, oder um den Fortschritt im Wandel, sondern vielmehr werden in diesen Stellen alle Gläubigen „Heilige und Geliebte“ genannt, weil sie an Christus glauben und in Ihm sind.
Es ist daher von der höchsten Wichtigkeit, unsere Stellung in Christus, die allein in seinem vollbrachten Werk ihre Grundlage hat, klar zu erkennen und vor allem zu verstehen, dass wir in Ihm geheiligt, dass wir von der Sünde und von allen, womit wir nach unserem verdorbenen Zustand von Natur verbunden waren, völlig abgesondert sind. Unser Friede, unsere Ruhe, unsere Freimütigkeit und unser Genuss sind von dieser Erkenntnis ganz und gar abhängig; denn wenn diese Erkenntnis mangelt, so werden wir nicht in das Licht der Gegenwart Gottes, „dessen Augen zu rein sind, um Böses zu sehen“ (Hab 1,13), zu treten wagen, noch im Stande sein, einen heiligen, Gott wohlgefälligen Wandel zu führen. Wir werden uns dann, bewusst oder unbewusst, immer unter dem Gesetz befinden und umso unglücklicher sein, je ernster wir uns bemühen, Gott wohlzugefallen; denn die Sünde, von der wir unserem Bewusstsein nach noch nicht abgesondert sind, scheidet uns von Ihm und macht all unser Tun verwerflich. Die letzte Hälfte von Römer 7 stellt den Zustand einer solchen Seele klar vor Augen.
Wäre die Heiligung, wie einfach angenommen wird, nur eine auf den Wandel des Gläubigen bezügliche Frage, so würde der Apostel in obiger Stelle sicher eine andere Ordnung gewählt und der Rechtfertigung nicht den letzten Platz angewiesen haben. Denn wie könnte von einem heiligen Wandel die Rede sein, wenn jemand nicht gerechtfertigt wäre? Aber hier sagt der Heilige Geist: „Ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt“, und dann erst folgt: „Ihr seid gerechtfertigt.“ Unmöglich kann es sich daher hier um die praktische Heiligung im Wandel handeln, sondern vielmehr nur um das, was als die gesegnete Frucht des Werkes Christi und durch den Heiligen Geist das Teil aller Christen ist. „Ihr seid abgewaschen.“ Wir begegnen ähnlichen Ausdrücken öfters in der Schrift. Wir lesen: „Dem, der uns geliebt und uns von unseren Sünden ab gewaschen hat in seinem Blut.“ – „Sie haben ihre Kleider gewaschen und haben sie weiß gemacht im Blut des Lammes.“ „Wie vielmehr wird das Blut des Christus euer Gewissen reinigen von toten Werken usw“ (Off 1,5; 7,14; Heb 9,14). Jedoch spricht der Apostel in der oben angeführten Stelle von der „Waschung der Wiedergeburt“ (Tit 3,5), oder „der Waschung mit Wasser durch das Wort“ (Eph 5,26) – eine göttliche Wirkung, von welcher natürlich das Blut Christi die Grundlage ist. Es ist die Anwendung des Wortes Gottes auf die Seele in der Kraft des Heiligen Geistes, um dieselbe von ihrem gottlosen und verdorbenen Zustand zu reinigen und für Gott passend zu machen. „Ihr seid abgewaschen ... in dem Namen unseres Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes.“ Das Wort Gottes übt seine lebendig machende Kraft auf die Seele aus. „Ihr seid wiedergeboren durch das lebendige und bleibende Wort Gottes“, sagt Petrus. Dieses ist das Wasser, welches reinigt, indem es auf das Gewissen und das Herz, auf die inneren Gefühle, Gedanken und Neigungen, sowie auch auf die äußeren Handlungen seine Wirkung geltend macht und neue Gedanken, Beweggründe und Neigungen hervorruft. Der Herr sagt zu Nikodemus: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: es sei denn, dass jemand aus Wasser und Geist geboren worden sei, so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen“ (Joh 3,5). Der Mensch von Natur ist tot in Sünden und Vergehungen; das Wort macht ihn lebendig: es reinigt ihn in moralischer Beziehung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Wir dürfen aber nie aus dem Auge verlieren, dass die Reinigung durch Wasser, ebenso wie die durch Blut, mit dem Tod Christi in einer unzertrennlichen Verbindung ist. „Dieser ist es, der gekommen ist durch Wasser und Blut, Jesus, der Christus, nicht durch das Wasser allein, sondern durch das Wasser und das Blut“ (1. Joh 5,6). Das wahre Wasser, welches in geistlichem Sinn reinigt, ergoss sich aus der Seite eines gestorbenen Christus. Er kam durch Wasser und Blut und bewirkte in Wahrheit die Reinigung und die Versöhnung. Er konnte zu seinen Jüngern sagen: „Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe“ (Joh 15,3). Sie waren durch das lebendig machende Wort seines Mundes gereinigt, sie waren wiedergeboren. Diese Reinigung oder Waschung ist eine einmalige und bedarf keiner Wiederholung. „Wer gebadet ist“ – sagt der Herr – „hat nicht nötig, denn sich die Füße zu waschen, sondern ist ganz rein“ (Joh 13,10). Die Priester, welche Gott im Zelt der Zusammenkunft dienten, wurden bei ihrer Einweihung ganz gewaschen. Diese Handlung wiederholte sich nimmer; allein so oft sie zur Verrichtung ihres Dienstes Gott nahten, mussten sie ihre Hände und Füße waschen. Welch ein treffendes Vorbild! Auch wir sind ein für alle Mal gewaschen, ein für alle Mal wiedergeboren, und keine Wiederholung findet statt. Allein in unserem tagtäglichen Wandel kommen wir mit der Sünde und der Welt in Berührung, und deshalb bedürfen wir fortdauernd des Waschens unserer Füße – der Anwendung des Wortes in der Kraft des Heiligen Geistes auf das Gewissen – damit jede Verunreinigung beseitigt, die unterbrochene praktische Gemeinschaft mit Gott wiederhergestellt und die Kraft zum Dienst aufs Neue dargereicht werde.
Die Abwaschung ist nun zwar enge mit der Heiligung verbunden und kann in einer Seele, welche unter die lebendig machende Kraft des Wortes Gottes gebracht ist, nicht davon getrennt werden. Dennoch aber sind Abwaschung und Heiligung zwei verschiedene Dinge. Dieses wird uns deutlich in den Worten gezeigt: „Gleichwie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, auf dass Er sie heiligte, sie reinigend durch die Waschung mit Wasser durch das Wort“ (Eph 5,26). Wir sehen auch hier, dass die „Waschung“ und „Heiligung“ trotz ihrer Zusammengehörigkeit zwei für sich bestehende Begriffe sind. Die eine Tätigkeit geht der anderen voraus; die Waschung ist das Mittel, die Heiligung der Zweck. Das Wort Gottes wirkt auf das Gewissen des Sünders; dieser erkennt seine Sünden, verabscheut und verurteilt sie vor Gott, und es findet eine Bekehrung bei ihm statt. Das ist seine Abwaschung. Zu gleicher Zeit aber wird ein anderer Gegenstand vor seine Seele gestellt, der seine Anziehungskraft auf ihn ausübt; und er wendet sich von allem ab, worin er bisher sein Leben hatte, und tritt auf die Seite Gottes. Dieses ist seine Heiligung. Nun folgt seine Rechtfertigung, so dass er mit Paulus sagen kann: „Da wir nun sind gerechtfertigt worden aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 3,1). In Kraft des Wortes Christi, in Kraft seines Todes und seiner Auferstehung ist nun die Rechtfertigung ein wirklicher Zustand vor Gott. Durch den Glauben hat er Teil an dem vollbrachten Werk der Versöhnung nach dem ganzen Wert und der unendlichen Tragweite desselben, und steht vor Gott als „gewaschen, geheiligt und gerechtfertigt in Christus Jesus.“
Eine ähnliche Belehrung gibt uns der Apostel Petrus in seinem ersten Brief (Kap 1,2), worin er den in Kleinasien Zerstreuten Christen aus dem Judentum schreibt, als „den auserwählten Fremdlingen … nach Vorkenntnis Gottes des Vaters, durch Heiligung des Geistes, zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi.“ Auch hier geht die Heiligung der Blutbesprengung voraus, welche letztere mit der Rechtfertigung in 1. Korinther 6,11 gleichbedeutend ist; und diese Ordnung der Reihenfolge widerspricht der einseitigen Auffassung vieler Christen, welche die Heiligung nur in ihrem praktischen Charakter kennen und darum notwendig die Rechtfertigung voraussetzen müssen. Allein hier lesen wir von den Auserwählten, dass sie von Gott, dem Vater, zuvor erkannt, durch den Heiligen Geist geheiligt oder abgesondert, und zum Gehorsam 1 und zur Blutbesprengung Jesu Christi gelangt sind. Dies ist die göttliche Ordnung. Der Heilige Geist sonderte sie zu dem Zweck ab, um sie unter die Blutbesprengung zu bringen. Er ist es, der die ersten Regungen in der Seele hervorbringt. Er weckt das Gewissen auf, macht das Bewusstsein der durch ein Leben voller Sünden und Vergehungen aufgehäuften Schuld vor einem heiligen und gerechten Gott fühlbar, zeigt das kommende Gericht, wo alles in dem Licht der Wahrheit offenbar und gerichtet werden wird, und eine wachsende Unruhe, Furcht und Angst, ein sich steigender Abscheu wider die Sünde und ein lebhaftes Verlangen nach Errettung – das sind in der Seele die ersten Früchte der Wirksamkeit des Heiligen Geistes, welcher Zugleich den Blick des bußfertigen Sünders auf die erbarmende Liebe Gottes in Christus Jesus, auf die Notwendigkeit und Vortrefflichkeit des Kreuzes und endlich auf die Vollgültigkeit des Opfers Christi richtet. Es erwacht – Dank der fortlaufenden Tätigkeit des Heiligen Geistes! – in dem bekümmerten Herzen Vertrauen zu jener Liebe, sowie eine immer klarere Erkenntnis des Versöhnungswerkes, bis schließlich die Seele mit Dank und Anbetung alles in lebendigem Glauben ergreift, was Gott in Christus Jesus aus Gnaden gegeben hat. War vorher die Seele durch die Heiligung des Geistes erweckt oder bekehrt, so ist sie jetzt unter die Besprengung des Blutes Christi gekommen; sie ist gerechtfertigt, sie hat Frieden mit Gott.
Werfen wir einen Blick auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn! Ohne die Wirkung des Geistes in der Seele eines Sünders wird nimmer eine solche Umwandlung in der Gesinnung des Herzens, wie uns in diesem Gleichnis vorgestellt wird, stattfinden können. Ohne diese Wirkung wird kein wahres Gefühl, keine wirkliche Traurigkeit über die Sünde erwachen; ohne dieselbe würde der verlorene Sohn sich nicht mit dem Bekenntnis genaht haben: „Ich habe gesündigt ... ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen“ (Lk 15,21). Nur der Heilige Geist vermag in dem Herzen eines Sünders ein solches Urteil über sich selbst, einen solchen Zug zum Vater und eine solche Sehnsucht zum Haus des Vaters wach zu rufen; nur der Geist Gottes vermag eine solche gänzliche Veränderung in den Gefühlen, eine solche moralische Absonderung von allem, worin der Sünder bisher sein Leben hatte, in der Seele hervor zu bringen und Gefühle für den zu wecken, von welchem er sich bisher am weitesten entfernt hatte. Und dieses ist die Heiligung des Geistes. Ein Sünder in diesem Zustand ist erweckt, er ist bekehrt; er verurteilt sein bisheriges Leben, er wendet sich davon ab und befindet sich auf dem Weg zum Vater. Erst nachher, wenn der Verlorene in den Armen des Vaters ist, wenn er den Ring an seinem Finger, die Schuhe an seinen Füßen trägt, wenn das beste Kleid angezogen, das gemästete Kalb geschlachtet ist und das Fest der Freude im Haus des Vaters gefeiert wird, erst dann ist er gerechtfertigt nach der Schrift; und der Sünder ist sich dessen völlig bewusst. Freilich hat er nie vorher die Sünde in solcher Hässlichkeit und Verwerflichkeit gesehen, als in dem Augenblick, da er gereinigt und bekleidet seinen Platz im Haus des Vaters eingenommen hat. Aber dennoch ist alle Unruhe, Furcht und Angst völlig verschwunden, und sein Herz ist mit Friede, Freude, Dank und Anbetung erfüllt; denn nimmer hat er die erbarmende Liebe des Vaters in solch einer Schönheit und Herrlichkeit gesehen, als in diesem Augenblick, da ihr unumwölkter Glanz ihn umstrahlt.
Aus diesen Anführungen, deren Zahl wir mit leichter Mühe vermehren könnten, wird es dem Leser klar vor die Seele treten, dass die Heilige Schrift alle Gläubigen, wie verschieden ihr praktischer Zustand auch sein mag als geheiligt betrachtet. Es ist völlig wahr, dass sie als Heilige wandeln sollen; allein bevor von einem heiligen Wandel die Rede sein kann, müssen sie „abgewaschen, geheiligt und gerechtfertigt“ sein: und dieses geschieht, wie wir gesehen, durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes und ist gegründet auf das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi. Wenn wir daher in diesem Sinn von der Heiligung reden, so ist jeder Gedanke an ein Wachsen in der Heiligung ausgeschlossen. Alle Gläubigen ohne Unterschied sind in gleicher und vollkommener Weise geheiligt: ja, alle, die von Herzen an Jesus glauben, sind ganz und für immer „abgewaschen, geheiligt und gerechtfertigt.“ Ihre Stellung ist in Christus vor Gott; und diese Stellung ist göttlich vollkommen, unveränderlich, ewig. Der Apostel hatte in Bezug auf den Wandel der Korinther vieles zu tadeln. Allerlei traurige Dinge waren in ihrer Mitte offenbar geworden; aber dennoch nennt er sie „Geheiligte in Christus Jesus“ und ruft ihnen zu: „Ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerechtfertigt.“ Ohne die Erkenntnis dieser unserer vollkommenen und unantastbaren Stellung in Christus kann das Herz keinen wahren Frieden haben und nimmer mit völliger Freimütigkeit in seiner heiligen Gegenwart erscheinen. Welch ein Trost für uns, dass sein Wort selbst mit der völligsten Klarheit und Bestimmtheit unsere Stellung in Christus als vollkommen, unwandelbar und ewig bezeichnet, so dass uns, wenn wir sie in Wahrheit erkannt und eingenommen haben, nichts im Weg steht, um als Gereinigte, Geheiligte und Gerechtfertigte, als Kinder Gottes, in dieser Welt zu wandeln und mithin der Heiligung nachzujagen (Schluss folgt).
Fußnoten
- 1 Es ist hier der Gehorsam gegen Christus und nicht der Gehorsam gegen das Gesetz. Sobald die Seele durch den Heiligen Geist abgesondert wird, um von Seiten Gottes zu stehen, entsteht in ihr das Verlangen, den Willen Gottes zu tun. Der auf dem Weg nach Damaskus durch die Erscheinung des Herrn zu Boden geworfene Saulus fragt: „Was soll ich tun, Herr?“ Der Gehorsam unter dem Gesetz wurde ausgeübt, um gewisser Segnungen teilhaftig zu werden; der Gehorsam gegen Christus hat, wie der Gehorsam Christi selbst, nur die Liebe zu Gott und das Wohlgefallen an seinen Geboten zum Beweggrund.