Botschafter des Heils in Christo 1875
Gemeinschaft
In diesem Kapitel ist unter anderem die Rede von Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn und von Gemeinschaft unter einander. Lassen wir uns daher durch das Wort Gottes unterweisen, ob und wie wir in Gemeinschaft wandeln.
Unter „Gemeinschaft“ versteht man gewöhnlich, dass wir mit all unseren Bedürfnissen und in all unseren Umständen zu Gott gehen und bei Ihm suchen, was wir in jeder Lage an Licht, Kraft und Trost nötig haben; allein in diesem Fall würde nur dann von Gemeinschaft die Rede sein können, wenn außergewöhnliche Bedürfnisse und Umstände vorhanden wären, während im entgegengesetzten Fall keine Gemeinschaft bestehen könnte. Doch wie herrlich das Vorrecht ist, mit allen Bedürfnissen und in allen Umständen zum Vater gehen zu können, so ist dieses doch nicht die Gemeinschaft, sondern nur eine Folge davon.
Gemeinschaft ist auch nicht das Wandeln zweier Personen auf einem und demselben Wege oder das Wohnen derselben in einem und demselben Haus. Sie können dieselbe Straße gehen, und dennoch weit voneinander entfernt sein und Zugleich in Zank und Zwietracht leben. Ein Herr kann mit seinem Knecht, ein Mann mit seinem Weib in einem und demselben Haus Verkehr haben, ohne dass der Herr seinem Knecht, oder ohne dass selbst der Mann seinem Weib in vertraulicher Weise seine Gedanken und Pläne mitteilt; ja, die tägliche Erfahrung zeigt nur zu oft, wie in den genannten Fällen selbst das Gegenteil von Gemeinschaft vorhanden sein kann.
Gemeinschaft besteht nicht in äußeren Dingen, sondern ist ein Zustand des Herzens. Nicht das Wandeln desselben Weges, nicht das Bewohnen desselben Hauses, nicht das Hilfesuchen des einen bei dem anderen macht die Gemeinschaft zweier Personen aus, sondern sie ist nur dann vorhanden, wenn die Gesinnung, die Gefühle, die Neigungen des einen gleich denen des anderen sind. Wenn zwei Personen in ihren Neigungen und Bestrebungen übereinstimmen, wenn sie durch dieselben Triebfedern, durch dieselben Beweggründe geleitet werden, dann besteht zwischen ihnen eine Gemeinschaft, welche sich durch die Richtung zweier Herzen nach einem und demselben Ziele, sowie durch den Besitz einer und derselben Natur, eines und desselben Lebens sofort kennzeichnet.
Gemeinschaft ist also nicht möglich zwischen dem unheiligen Sünder und dem heiligen Gott. Das Ziel und die Beweggründe des einen sind von denen des anderen gänzlich verschieden. Christus, der Sohn, diente hierbei zum Prüfstein. Der Vater fand sein Wohlgefallen an Ihm, und der Mensch verwarf Ihn. Wie könnte auch der Mensch als solcher dieselbe Gesinnung, dieselben Gefühle wie der Vater offenbaren, da er den Vater nicht kennt (Mt 11,27), und auch aus sich selbst Ihn nicht kennen kann. Der Mensch mag das eine oder das andere von Gott wissen; aber den „Vater“ kennt niemand, solange es Ihm nicht gefällt, sich zu offenbaren. Das ewige Leben war bei dem Vater und ist offenbart worden (V 2), und zwar in der Weise, dass Johannes von sich und seinen Mitaposteln sagen konnte: „Wir haben es gehört, wir haben es mit unseren Augen gesehen, wir haben es angeschaut, und unsere Hände haben es betastet“ (V 1). Jesus selbst war das offenbarte Leben. Seine Person, so wie Er auf Erden vor den Augen der Jünger stand und handelte, war das Leben in seiner göttlichen Vollkommenheit. Er konnte sagen: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ Der Vater würde, wenn Er auf Erden gewesen wäre, dieselben Gedanken gehegt, dieselben Worte gesprochen, dieselben Taten verrichtet haben, wie der Herr Jesus. Dieselbe Gesinnung, die wir bei Jesu gewähren, ist die Gesinnung des Vaters; bei dem Vater und dem Sohn herrscht, bezüglich der Triebfedern, der Beweggründe, der Gefühle und der Neigungen die vollkommenste Harmonie. Wie herrlich, dass das Leben nicht beschrieben, sondern gezeigt, nicht angedeutet, sondern offenbart ist! Es war ein Mensch, den die Jünger sahen und hörten; sie konnten mit Ihm Umgang haben und mit Ihm sprechen; sie konnten in seinem Schoß liegen (Joh 13) und, so zu sagen, die Pulsschläge seines Herzens vernehmen. Das Gesetz verhieß dem Menschen unter gewissen Bedingungen das Leben; in dem Sohn ist es zu den Menschen gekommen. Der Mensch kannte das Leben nicht; in dem Sohn wird es ihm offenbart. Der Mensch besaß das Leben nicht; in dem Sohn wird es ihm mitgeteilt. Johannes sagt: „Dies ist das Zeugnis, dass Gott uns das ewige Leben gegeben hat; und dieses Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, hat das Leben“ (1. Joh 5,11–12).
Da also dieses Leben, welches bei dem Vater war, in dem Sohn ist, so kann niemand dasselbe kennen, ohne den Sohn selbst zu kennen. Dieses Kennen besteht nicht in dem Wissen, dass Er der Erlöser ist, sondern darin, dass wir in seine Gedanken und Gefühle eingehen und die Neigungen und Bewegungen seines Herzens kennen und teilen. In dieser Weise ist man in Gemeinschaft mit dem Sohn. Diese Gemeinschaft war das herrliche Teil der Apostel, die, während sie mit Ihm „aßen und tranken“, mehr sahen, als das natürliche Auge zu unterscheiden vermochte, und die durch die Herrlichkeit und Lieblichkeit seiner Person so sehr angezogen wurden, dass sie, selbst als viele Ihn verließen, ausrufen mussten: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens!“ Jedoch soll diese Gemeinschaft nicht ihr Teil sein, während andere ausgeschlossen sind: denn Johannes sagt: „Was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir euch, auf dass auch ihr mit uns Gemeinschaft habt“ (V 3). Die Verkündigung dessen, was die Apostel gesehen und gehört haben, ist also das Mittel, dass wir mit ihnen an derselben Gemeinschaft Teil haben sollen.
Wie herrlich, dass wir hinter denen nicht zurückstehen, die mit dem Herrn Jesus gegessen und getrunken haben, sondern dass Er uns durch die Verkündigung der Apostel in solch lebendigen Zügen vorgestellt wird, dass wir Ihn gleichsam mit unseren Augen sehen und mit unseren Händen betasten können, dass wir in dieser Verkündigung nicht nur seine Geschichte, sondern sein Lebensbild vor unsere Seelen treten sehen, und dass wir mit seinen Gedanken und Gefühlen, mit seiner Gesinnung und den Bewegungen seines Herzens nicht nur vertraut, sondern auch derselben teilhaftig werden! Auf diesem Weg teilen wir mit den Aposteln dieselbe Gemeinschaft.
Und diese, unsere Gemeinschaft ist „mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus.“ In Folge der Gemeinschaft mit dem Sohn haben wir auch Gemeinschaft mit dem Vater, denn der Vater hat keine andere Gesinnung, keine anderen Gefühle, als der Sohn. „Wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat“ (Joh 12,45). Wir haben mit dem Vater vornehmlich darin Gemeinschaft, dass wir den Sohn lieben und ehren, wie der Vater Ihn liebt und ehrt. Die Welt kennt den Sohn nicht; sie hasst und verwirft Ihn. Wir hingegen teilen die Gedanken des Vaters bezüglich seines Sohnes. Es herrscht in dieser Beziehung also eine völlige Übereinstimmung zwischen dem Vater und uns in Bezug auf den Sohn, der der Prüfstein für alle ist. Der Vater erklärte, dass Er sein Wohlgefallen an dem Sohn habe, und wir erklären dasselbe von ganzem Herzen. Er, der von Ewigkeit her der Gegenstand der Wonne des Vaters war, ist auch der Gegenstand unserer Wonne geworden. Der Vater und wir begegnen einander in diesem Sohn. Welch eine unaussprechliche Gnade! Das ist weit mehr als persönliche Errettung und Sündenvergebung. Das ist der höchste Genuss der Seligkeit. Johannes sagt: „Dieses schreiben wir euch, auf dass eure Freude völlig sei“ (V 4). Wenn wir diese Dinge verstehen, hat unsere Freude den höchsten Grad erreicht. Was könnte auch noch hinzugefügt werden? Was könnte uns, nun wir Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn haben, noch Höheres geschenkt werden? Nichts würde unsere Freude noch vermehren können.
Lieber Leser! Wie steht es mit dir in Betreff dieser Dinge? Ist auch dein Herz von der Freude dieser Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn erfüllt? Besteht auch Zwischen dir und dem Vater und Sohn eine Gemeinschaftlichkeit in Betreff der Gesinnung und der Gefühle, und ist es dieses, was deine Freude vollmacht? Wirst du stets mehr nach dem Bild gestaltet, welches du in Christus vor dir hast, und steigert dieses deine Freude? Paulus, früher ein Verfolger Christi und der Seinen, konnte später an die Philipper schreiben: „Gott ist mein Zeuge, wie ich mich nach euch allen sehne mit dem Herzen Christi Jesu.“ Welche Umwandlung! Früher ein Herz im Streit mit Christus Jesus, jetzt das Herz Christi Jesu. Er hatte jetzt Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn. Er besaß dasselbe Herz, dieselben Gefühle, die Jesus Christus hatte. Die Gesinnung, die in Christus Jesus war, war auch in Ihm; sowie Christus nach den Gläubigen verlangte, so verlangte auch er nach ihnen. Hier sehen wir also, dass die Gemeinschaft, d. h. der gemeinsame Besitz derselben Gesinnung und derselben Gefühle eine Wirklichkeit ist. Aber dieser Paulus konnte auch sagen: „Das Leben ist für mich Christus“, – und: „Was ich im Fleisch lebe, das lebe ich durch den Glauben an den Sohn Gottes.“ Außer Christus war das Leben für ihn nichts als Tod.
Also ist es grundsätzlich bei allen, die zur Gemeinschaft mit dem Vater gebracht sind. Außer Christus liegt für sie alles im Tod und ist Finsternis. Doch „Gott ist Licht und ist gar keine Finsternis in Ihm.“ Es ist daher unmöglich, mit Ihm, der Licht ist, Gemeinschaft zu haben und Zugleich in Finsternis zu wandeln. Finsternis und Licht können nicht vereinigt werden. Wohin das Licht dringt, da muss die Finsternis weichen. Wie könnte ich daher das Leben Gottes haben – das Leben, welches in Christus seine Freude findet – und mich Zugleich ergötzen an den Dingen der Welt? In der Welt, die Christus verwirft, sich vergnügen und Zugleich Christus hochachten, das kann unmöglich vereinigt werden. Die Welt wird durch den Fürsten der Finsternis beherrscht; Finsternis und Sünde gehören zusammen. Der natürliche Mensch liebt die Finsternis mehr denn das Licht, weil seine Werks böse sind. In diesen Dingen offenbart sich das Leben außer Gott. Wer aber Gemeinschaft mit Ihm hat, weil er das Leben aus Gott besitzt, ist aus der Finsternis in das Licht versetzt: die Finsternis – das Gebiet der Sünde – ist nicht mehr die Sphäre, in welcher er sich bewegt. Er wandelt dort nicht mehr, weil er ein Kind des Lichts ist. Er wandelt im Licht, wie Gott im Licht ist (V 7). Der durch das Werk Christi gereinigte Sünder ist nicht nur von Sünde und Schuld befreit und vom Verderben gerettet, sondern weil Christus, der keine Sünde kannte, am Kreuz für ihn zur Sünde gemacht ist, ist er Gerechtigkeit Gottes in Christus geworden, und da nun auch Gott durch dasselbe Werk bezüglich meiner Sünde vollkommen verherrlicht ist, so hat es Ihm Wohlgefallen, Christus zu seiner Rechten mit Ehre und Herrlichkeit zu krönen. Die Verherrlichung Christi durch Gott ist die Gerechtigkeit Gottes, wodurch Er den vollen Wert des Werkes am Kreuz anerkennt. Und weil Christus, so wie ich bin, nämlich als die Sünde, am Kreuz war, so bin ich, wie Christus, nämlich als Gottes Gerechtigkeit, zur Rechten Gottes. Der Grenzstein meines Werkes war für Christus das Kreuz – der Grenzstein des Werkes Christi ist für mich die Herrlichkeit Gottes.
Bin ich nun in Christus Gottes Gerechtigkeit geworden, dann lässt es sich erklären, dass ich da sein kann, wo Gott ist, ja dass ich mich dort vollkommen ruhig fühle und durch nichts bestraft oder getadelt werde. Ich werfe nicht aus der Ferne einen zwar hoffnungsvollen aber doch schüchternen Blick nach dem Licht, sondern ich fühle mich völlig ruhig in dem Licht; ich wandle im Licht. Das Licht sagt mir nicht, dass ich durch mein Werk ein verdammungswürdiges Geschöpf, sondern dass ich durch das Werk Christi Gottes Gerechtigkeit in Ihm geworden bin. Wenn von dem Thron Gottes Blitze und Stimmen und Donner ausgehen, so bleiben die Ältesten ruhig auf den vier und zwanzig Thronen sitzen, welche den Thron des Gerichts umgeben (Off 4). Wie es mein Recht ist, so ist es auch meine Freude, im Licht zu wandeln. Ja, ich fühle mich gerade dort auf meinem Platz. Dort ist durch die unaussprechliche Herrlichkeit der Gnade Gottes mein Daheim, wo ich ohne Furcht meinen Verkehr haben kann. Ja, ich – einst ein verlorener Sünder – befinde mich jetzt ohne Furcht in dem Licht Gottes und werde sogar ermahnt und aufgemuntert, „hinzuzutreten“, nicht nur weil ich die Freiheit, sondern weil ich die Freimütigkeit dazu habe. Durch das Zeugnis des Heiligen Geistes, der von dem verherrlichten Christus spricht, weiß ich nicht nur, dass ich hinzutreten darf, sondern dass dieses mit wahrhaftigem Herzen und in voller Gewissheit des Glaubens geschehen kann. Ich habe nicht nur den Zugang zu der Gnade, sondern ich stehe in der Gnade und rühme mich in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes. Möchte doch jeder wahre Christ das Vorrecht des Wandelns im Licht, wie Gott im Licht ist, erkennen! Und möchte doch niemand, der sich dieses Vorrechts rühmt, durch sein tägliches Verhalten diesen Ruhm zunichtemachen! Wie kräftig würde das Zeugnis aller wahren Christen hienieden sein, wenn sie ihre Stellung vor dem Angesicht Gottes verwirklichten, wenn sie mit ihren Beweggründen, Gedanken und Handlungen im Licht ständen, und wenn es ihnen zur Freude diente, stets unter dem Auge Gottes zu sein! O möchte der Herr uns allen die Gnade schenken, stets so zu wandeln, wie es Kindern des Lichts geziemt.
Selbstredend würde dann auch mehr Gemeinschaft „unter einander“ sein. Johannes sagt: „Wenn wir im Licht wandeln, wie Gott im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft mit einander.“ Die mangelhafte Gemeinschaft mit den Brüdern ist eine Folge der mangelhaften Gemeinschaft mit Gott. Wenn an irgendeinem Ort die Christen nicht in Gemeinschaft mit Gott wandeln, d. h., wenn sie andere Gesinnungen und Gedanken haben, als Gott sie hat, so wird sich ihr Herz diesen und jenen Dingen zuwenden, die außer Christus sind. Das Herz des einen wird mit Geld und Gut, das des anderen mit Ehre und Ansehen, das des dritten mit den Lüsten und Begierden, das des vierten mit christlichen Werken usw. erfüllt sein. Ein jeder von ihnen wird seinen eigenen Gegenstand haben, der seinen besonderen Neigungen entspricht. Sie haben keine gleiche Gesinnung, keine gleichen Gefühle, und darum kann von einer Gemeinschaft nicht die Rede sein. Im Gegenteil werden sie gegen einander gleichgültig sein, oder sogar in Feindschaft mit einander leben. Wenn hingegen selbst getrennt lebende Christen in Gemeinschaft mit Gott wandeln, so dass ein jeder für sich selbst in Christus den Gegenstand seines Herzens besitzt, welcher ihn ganz einnimmt und befriedigt, so werden sie alle in dem Augenblick, wo sie sich begegnen, Gemeinschaft mit einander haben. Da das Auge eines jeden auf dasselbe Ziel gerichtet ist, so werden sie sich augenblicklich verstehen, sich mit einander verbunden fühlen, mit einander glücklich sein usw.
In der Welt ist keine Gemeinschaft. Dort gibt es keinen Anziehungspunkt für alle. Ein jeder trachtet für sich nach den Dingen, worin er seine Befriedigung zu finden hofft. Was der eine hat, kann der andere nicht Zugleich haben. Was in der Welt genossen wird, muss ein jeder für sich genießen, oder es hört auf, ein Genuss für ihn zu sein. Unter den Kindern Gottes ist dieses jedoch anders. Wovon der eine genießt, kann der andere Zugleich genießen, ohne dass jemand etwas einzubüßen hat. Ja, je mehr der eine von Christus kostet, desto reichhaltiger ist das Teil, welches dem anderen zufällt. Wenn viele Christen glücklich in Gott sind, wird keiner den anderen beneiden, vielmehr wird der Anblick des Glücks des einen den Genuss des anderen erhöhen. Alle nähren sich von Christus und halten mehr übrig, als sie genießen. In der Familie Gottes kann also Gemeinschaft sein, aber die Gemeinschaft mit einander wird stets von der Gemeinschaft der Kinder Gottes mit ihrem Vater abhängen. Man genieße nur die herrliche Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus, und sicher wird auch das Bild einer friedlichen Familie, deren Glieder dieselben Gefühle, dieselben Ziele haben, zu erkennen sein. Wo indessen diese Gemeinschaft „mit einander“ mangelt, da mangelt auch sicher der Genuss der Gemeinschaft „mit dem Vater und mit seinem Sohn.“ Mögen sie, was ihre Stellung betrifft, im Licht wandeln, so wandeln sie doch nicht nach dem Licht, und darum fehlt die Gemeinschaft „mit einander.“
Sicher besteht die Gemeinschaft mit einander nicht darin, dass viele Christen zusammen einem und demselben Gottesdienst beiwohnen, oder dass sie Mitglieder einer und derselben Vereinigung sind, sondern, als die Frucht der Gemeinschaft mit Gott, offenbart sie sich in der Richtung der Herzen nach einem gemeinsamen Gegenstand, und dieser Gegenstand muss Christus sein. Die ersten Christen, von denen wir lesen, dass sie in der Gemeinschaft ausharrten, zeigten in Wahrheit, dass sie durch einen und denselben Gegenstand angezogen wurden, dass sie dieselbe Gesinnung, dieselben Gefühle hegten: denn von ihnen steht geschrieben: „Die Menge derer, die gläubig geworden, war ein Herz und eine Seele“ (Apg 4,33). Sie waren eine Menge; aber sie machten nur ein Herz und eine Seele aus. Hier ist also die „Gemeinschaft miteinander“ in ihrem wahren Charakter dargestellt. Dass – wie wir weiterlesen – „keiner sagte, dass etwas von seiner Habe sein eigen wäre“, dass sie einem jeglichen nach seinem Bedürfnis mitteilten, dass sie bei einander blieben usw. dieses alles war eine Folge der Gemeinschaft, die sie mit einander hatten; aber es war die Gemeinschaft selber nicht. Diese bestand darin, dass sie – wie verschieden diese Tausende bezüglich ihres Alters, ihres Ranges, ihres Geschlechts, ihrer natürlichen Anlagen, ihrer Erziehung, ihrer Kenntnis der Wahrheit usw. auch sein mochten – durch eine und dieselbe Person angezogen wurden. Ein jeder für sich teilte mit dem Vater und dem Sohn dieselbe Gesinnung, dieselben Gefühle, und darum hatten sie auch unter einander dieselbe Gesinnung und dieselben Gefühle, d. h. sie hatten „Gemeinschaft mit einander.“ Alle Anstrengungen der gegenwärtigen Zeit, um durch äußere Bande eine Gemeinschaft herzustellen oder zu unterhalten, sind daher nichts als Selbsttäuschung, wenn nicht auf erster Linie die Frage steht: „Wo befindet sich das Herz, wohin sind die Neigungen gerichtet?“ Ist Christus nicht der gemeinsame Gegenstand der Herzen, so besteht, wie christlich das Bekenntnis auch lauten, und wie eng verbunden die Körperschaft, der man sich angeschlossen hat, auch scheinen mag, keine wahre Gemeinschaft, weil nicht ein Herz und eine Seele da ist.
Die ersten Christen, bei denen wir die wirkliche Gemeinschaft angetroffen haben, und welche in dieser Gemeinschaft verharrten, verharrten jedoch zu allererst „in der Lehre der Apostel“ (Apg 2,43). Wie Johannes über die „Gemeinschaft“ denkt und lehrt, ebenso denkt und lehrt auch Paulus darüber; denn er schreibt an die Philipper: „Wenn irgendeine Gemeinschaft des Geistes, so erfüllt meine Freude, dass ihr einerlei gesinnt seid und dieselbe Liebe habt, einmütig, eines Sinnes“ (Phil 2,1–2). Und die Korinther ermahnt er, dass sie zusammengefügt sein möchten „in demselben Sinne und in derselben Meinung“ (1. Kor 1,10). Auch Petrus ermahnt die Gläubigen „gleichgesinnt“ zu sein (1. Pet 3,8). Dieses Beharren in der „Gemeinschaft“, wodurch die Menge ein Herz und eine Seele ausmachte, und die mithin etwas ganz Inneres war, fand dann auch seinen Ausdruck in dem Brechen des Brotes und in den Gebeten als der äußeren Offenbarung der inneren Einheit. Das Innere, das Wesen, ging dem Äußeren, der Form, voraus, nicht umgekehrt.
Selbstredend gibt es auf die Frage: Welches ist die Grundlage unserer Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn? – keine andere Antwort als: „Das durch Christus vollbrachte Werk.“ Wir wandeln im Licht, d. h. wir haben Gemeinschaft mit Gott; dieses tuend sind wir zusammen ein Herz und eine Seele, d. h. wir haben Gemeinschaft mit einander, und die Grundlage von allem ist „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde“ (V 7). Das von aller Sünde reinigende Blut hat es möglich gemacht, dass wir, die wir einst unrein waren, nun im Licht wandeln und mit dem heiligen Gott Gemeinschaft haben. Zum Glück kann diese Gemeinschaft eigentlich nie abgebrochen werden, denn sie ist Leben; und wenn dieses Leben je aufhören könnte, so wären wir unrettbar verloren. Die Gemeinschaft ist wie ein Lebensstrom, der, von Gott ausgegangen, uns mit Ihm verbunden hat. Würde dieser Strom auch nur einen Augenblick in seinem Lauf gehemmt, so wäre es um uns geschehen. In Adam waren wir geistlich tot, in Christus sind wir geistlich lebendig gemacht. Könnte nun dieses geistliche Leben ausgelöscht werden, durch wen oder in wem könnten wir es wiederfinden? Wenn das Werk Gottes in Christus an uns seinen Zweck verfehlte, welches Werk könnte sich dann als kräftig erweisen?
Unterbrechen denn die Sünden, die wir begehen, diese Gemeinschaft nicht? Nicht nur eine begangene Sünde, sondern sogar jeder einzelne sündige Gedanke ist an und für sich schon eine Ursache, diese Gemeinschaft zu unterbrechen. Dass sie dennoch nicht unterbrochen wird, verdanken wir einfach dem Umstand, dass wir „einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten“, haben (1. Joh 2,1). Das ist die göttliche Vorsorge, wenn jemand „gesündigt hat.“ Jesus Christus, der Gerechte – unsere Gerechtigkeit – ist stets bei dem Vater. Das Blut der Versöhnung, die Grundlage unserer Gemeinschaft, verliert nie seinen Wert. Auf Grund dieser beiden Tatsachen hat die Dazwischenkunft unseres Sachwalters bei dem Vater die Folge, dass der, welcher gesündigt hat, seine Schuld erkennt, fühlt und sich darüber demütigt, und dass also die zwar gestörte Gemeinschaft nicht abgebrochen wird. Die Wirksamkeit des Lebens, aber nicht das Leben selbst hatte aufgehört: die Übung der Gemeinschaft, aber nicht die Gemeinschaft selbst war unterbrochen worden, die Frucht der Verbindung mit Gott, aber nicht die Verbindung selbst, gegründet im Blut Jesu auf göttliche Gerechtigkeit, war verloren gewesen. Durch die Dazwischenkunft Christi wird die Seele – auf dem Weg des Selbstgerichts – wieder zu dem Genuss der Gemeinschaft zurückgeführt. Welch eine unaussprechliche Gnade, die uns nicht nur in diese herrliche Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn gebracht hat, sondern uns auch darin bewahrt!
Selbstredend schließt diese Gemeinschaft alle Gemeinschaft mit der Welt aus. „Welche Gemeinschaft hat Licht mit Finsternis?“ (2. Kor 6,14) Ach! die Frage, die heutzutage noch Tausende von Gläubigen beschäftigt, ist hauptsächlich diese: „In welcher Weise sollen wir die Gemeinschaft des Lichtes mit der Finsternis, die kirchliche Verbindung der Gläubigen mit den Ungläubigen regeln?“ Die Antwort Gottes ist: „Ihr sollt diese Gemeinschaft nicht regeln, sondern abbrechen.“ „Geht weg aus ihrer Mitte und sondert euch ab, spricht der Herr!“ Und seine Verheißung ist: „Ich werde euch aufnehmen, und ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr, der Allmächtige“ (2. Kor 6,17–18).
O Geliebte! Möchten wir alle die Gnade suchen, um uns stets so zu betragen, wie es mit der Gemeinschaft, in die wir gebracht sind, in Übereinstimmung ist! Wir sind durch Christus in den Himmel versetzt; wir wandeln jedoch noch kraft des Glaubens und nicht des Schauens; aber bald kommt Jesus, um uns in das Haus des Vaters zu führen, und dann werden wir sein Angesicht schauen. Welch eine Aussicht! „Der dieses bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald! – Amen! komm Herr Jesu!“ (Off 22,20)