Botschafter des Heils in Christo 1875
Der "alte Mensch", der "neue Mensch" und "ich"
Ein aufrichtiger Christ stellte vor kurzem folgende Frage: „Wenn, wie die Heilige Schrift uns lehrt, unser ‚alter Mensch‘ mit Christus gekreuzigt und gestorben ist, was in uns bedarf dann noch der Reinigung und Läuterung? Da der ‚alte Mensch‘ tot ist und der ‚neue Mensch‘ nicht sündigen kann und mithin keiner Läuterung bedarf, was bleibt dann noch übrig?“ Diese Frage ist höchst seltsam; aber dennoch ist sie eine solche, die sich vielen aufdrängt.
Ohne Zweifel besteht unter den Christen große Unklarheit über den Unterschied zwischen dem „alten“ und „neuen“ Menschen. Wir sind geneigt, unser Ich als bestehend aus einem „alten Menschen“, der als tot angesehen werden soll, und aus einem „neuen Menschen“, der Gottes Schöpfung in Christus und darum vollendet und vollkommen ist, zu betrachten und so zu zerteilen, dass das persönliche „Ich“ ganz verloren geht. Auf diese Weise aber wird weder das Vorhandensein des Bösen, noch der Kampf im Herzen erklärt, und dieses bereitet Schwierigkeit und Not.
Vor allen Dingen aber muss das Herz „in der Gnade feststehen.“ „in Liebe gewurzelt und gegründet“ sein. Eine Seele, die in der Liebe Gottes wirklich selig ist, wird nie durch solche Fragen sehr beunruhigt werden; denn sie weiß, wenn sie auch die Tragweite biblischer Wahrheiten nicht zu erklären vermag, an wen sie glaubt, überlässt Gott die Fragen, die sie zu lösen nicht im Stande ist, und zweifelt nicht, dass Er, der ihr solche Liebe erwiesen, zu seiner Zeit und auf seine Weise ihr seine Worte und Wege erklären und bewahrheiten werde. Nichtsdestoweniger sind einige Seelen beunruhigt, andere verwirrt: und viele, obwohl aufrichtig, verwechseln und missbrauchen die Ausdrücke der Heiligen Schrift.
Der Gläubige wird im Wort Gottes auf dreifache Art betrachtet, obwohl stets, wenn von ihm die Rede ist, das persönliche Fürwort „Ich“ gebraucht wird. Er wird betrachtet 1. als Mensch, als eine Person – abgesehen von seinem Zustand – als jemand, dessen Verantwortlichkeit indessen, je nachdem er als Sünder oder als Heiliger beschaut wird, eine ganz verschiedene ist; dann 2. als Sünder, dessen Schuld Christus am Kreuz zugerechnet und von Ihm übernommen wurde, indem in der Person des Herrn Jesus, dem Stellvertreter des Sünders, die Straft für dessen Sünden und die Verdammung seines Ichs getragen worden ist; und endlich 3. als Besitzer des ewigen Lebens, der Gabe Gottes, welchem, als einer neuen Schöpfung, der Heilige Geist innewohnt, und der also fähig und verantwortlich ist, auf demselben Platze, wo er als Sünder gelebt, nun als Heiliger und als Sohn Gott zu leben.
Der Mensch – sei er Sünder oder Heiliger – ist ein für sich bestehendes, persönliches Wesen. Jeder Mensch – ob Mann oder Weib – lebt, atmet, isst, trinkt, liebt, hasst, sündigt und wirkt für sich und für sonst niemanden. Er hat also eine für sich bestehende Persönlichkeit, die nicht einem anderen übertragen, noch mit jemandem geteilt werden kann, wie geschrieben steht: „So denn wird ein jeglicher von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben“ (Röm 14,12). Ein jeder steht als ein persönliches Wesen vor Gott; und wenn die Seele eines Menschen in die Gegenwart Gottes gebracht worden ist, so wird diese Persönlichkeit und die daran sich knüpfende Verantwortlichkeit empfunden. Von dem gefallenen Adam an wiederholt sich dieselbe Geschichte immer wieder. „Ich schämte mich“, war der erste Ausspruch des ersten Sünders; und so oft eine Seele in das Licht Gottes gebracht wird, wiederholt sich, wenn auch in anderen Worten, dieser das Bewusstsein der Individualität, der Verantwortlichkeit und der Schuld bekundende Ausdruck.
Die Persönlichkeit des Menschen scheint eine so selbstverständliche Sache zu sein, dass es kaum nötig erscheinen möchte, dabei zu verweilen. Dennoch aber ist es wichtig, dieselbe in Bezug auf die Stellung und den Zustand des Christen vor Gott zu betrachten. Sie wird stets – mag es sich um eine einzelne Person, oder um mehrere Personen handeln – in der Heiligen Schrift anerkannt. „Ich – mich – wir – uns“ – sind Worte, die wiederholt gebraucht werden, um sowohl den Sünder, als auch den Heiligen, sowohl das, was der Christ war, als auch was er ist und sein wird ans Licht zu stellen. So z. B. lesen wir: „Indem wir taten den Willen des Fleisches und der Gedanken und von Natur Kinder des Zornes waren“ (Eph 2,3). „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater gegeben, dass wir sollen Gottes Kinder heißen“ (1. Joh 3,1). „Wir wissen aber, dass, wenn Er offenbart ist, wir Ihm gleich sein werden; denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist“ (1. Joh 3,2). Hier sehen wir also die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Gläubigen als Individuen oder Einzelwesen: einst Sünder, nun Heilige und Söhne, Erben der ewigen Herrlichkeit.
In dieser Anerkennung einer nie zu verlierenden Persönlichkeit liegt eine große Wirklichkeit und ein großer Trost für das gläubige Herz. Ja, es ist in der Tat köstlich, die Versicherung zu haben, dass unsere Einführung in die Herrlichkeit mit geistiger und leiblicher Fähigkeit dieselbe verstehen und genießen zu können, keine Beseitigung der Persönlichkeit in sich schließt, welch unbeschreibliche Umwandlungen unseres Zustandes und der Verhältnisse auch stattfinden mögen. Das „Ich“, welches einst der Welt angehörte und der Sünde diente, welches dahin geführt wurde, die Gnade Gottes und die Liebe Christi kennen zu lernen, zu schmecken und sie als Heiliger und als Knecht auf dem Pfad durch die Welt zu erproben – dieses „Ich“ soll in der Herrlichkeit weiter fortleben und in der klaren Erinnerung der Vergangenheit und der darin gemachten Erfahrungen nur umso vollkommener die herrliche, ewige, einstige Gegenwart erfassen und genießen. Folglich ist es nicht die Hoffnung des Heiligen, in einen Engel oder in ein anderes Wesen verwandelt zu werden, sondern in Ewigkeit als ein Mensch in der Herrlichkeit Gottes bei Christus zu sein.
Wie sehr sollte uns dieses Bewusstsein anregen, die gegenwärtige Zeit auszukaufen, um „für uns selbst eine gute Grundlage auf die Zukunft zu sammeln“ (1. Tim 3,19), damit uns „reichlich dargereicht werde der Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilands Jesu Christi“ (2. Pet 1,11). In der Tat, es ist ein feierlicher Gedanke, dass das „Ich“ ewiglich leben wird, dass meine Persönlichkeit, die bei meiner Geburt ihren Anfang nahm, bis in die Ewigkeit Gottes hineinreicht.
Wer ist nun aber der „alte Mensch“, wer ist das „Ich“, welches mit Christus gekreuzigt worden ist?
Der Ausdruck „alter Mensch“ kommt nur dreimal in der Heiligen Schrift vor. In Römer 6,6 lesen wir: „Wir wissen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt ist, auf dass der Leib der Sünde abgetan sei, so dass wir der Sünde nicht mehr dienen.“ Dann in Epheser 4,22: „Dass ihr, was den früheren Lebenswandel betrifft, abgelegt den alten Menschen, der nach den Lüsten des Betrugs verdorben ist.“ Und endlich in Kolosser 3,9: „Belügt euch einander nicht, da ihr den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen habt“, In jeder dieser drei Stellen ist von dem alten Menschen in der Vergangenheit die Rede, nämlich, dass er „mitgekreuzigt“, d. h. in dem Gericht, welches Christus getroffen, gerichtet oder von Seiten des Christen sowohl durch den Glauben als auch im praktischen Wandel „abgelegt“, d. h. bei Seite getan worden ist.
Der „alte Mensch“ kennzeichnet also den Gläubigen in seinem vergangenen Zustand als verantwortlicher Sünder – ein Zustand, der sein Gericht und sein Ende in dem Tod Christi am Kreuz gefunden hat. Tatsächlich bin ich es in meinem Zustand und in meiner Verantwortlichkeit als Sünder, für welchen Christus starb, und dessen Zustand und Verantwortlichkeit der hochgelobte Herr auf sich nahm, und um dessentwillen Er zum Tod verurteilt wurde. Dieses „Ich“ gehört also der Vergangenheit und nicht der Gegenwart an; es heißt „alter Mensch“, weil es der Vergangenheit angehört und der Zustand sowie die Verantwortlichkeit, die damit verknüpft waren, nach dem Ratschluss Gottes vergangen sind, wie geschrieben steht: „Das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden. Alles aber aus Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesus Christus“ (2. Kor 5,17–18).
Es handelt sich hier nicht um mich als eine Persönlichkeit, denn in diesem Sinn bin ich nicht gestorben,– sondern es handelt sich um mich in dem Zustand und der Art der Verantwortlichkeit, denen durch das Kreuz und den Tod Christi ein Ende bereitet worden ist. Wir können in diesem Sinn also sagen, dass Christus durch den Tod eine so vollkommene Erlösung für uns vollbracht hat, dass wir durch den Glauben mit Ihm am Kreuz eins gemacht sind und in seinem Tod unseren eigenen Tod als verantwortliche Sünder vor Gott erblicken dürfen. In demselben Sinne kann auch im Blick auf das Kreuz Christi gesagt werden: „Ich bin mit Christus gekreuzigt“, und „wodurch mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt“ (Gal 2,20; 6,14). Hier zeigen die Wörtchen „mir“ und „ich“ meine verantwortliche Eigenschaft als eines Sünders, für welchen Christus gestorben ist. Also auch: „Die aber des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Lüsten;“ (Gal 5,24) d. h. durch den Glauben erkennen sie im Kreuz Christi die Vollziehung des Urteils und Gerichts Gottes über sie als Menschen im Fleisch.
Jedoch muss hervorgehoben werden, dass der Gläubige durch den Glauben und nicht tatsächlich gestorben ist. Nur Christus ist in Wirklichkeit unter dem Gericht gestorben und nicht der Gläubige. Tatsächlich lebt das „Ich“ in demselben Leib, auf demselben Platze und gewöhnlich in ganz denselben Umständen, in denen es einst, der Sünde dienend, lebte. Nur durch den Glauben kann der Gläubige auf das Kreuz zurückblicken und sagen: „Unser alter Mensch ist mit Christus gekreuzigt.“ Dieses gibt ihm nicht nur Ruhe des Herzens, sondern auch ein klares Bewusstsein der Kraft gegenüber der Sünde und der Macht des Todes. Er ist noch nicht tatsächlich von dem Platz und von den Umständen getrennt, wo Sünde und Kampf vorhanden sind; aber durch den Glauben hat er den Wert, den der Tod Christi vor Gott für ihn hat, kennen gelernt und kennt also nicht nur den Frieden mit Gott, sondern auch die moralische Kraft und den Sieg, den nur das Einssein mit Christus in seinem Tod zu geben vermag. Wenn daher die Sünde an uns herantritt, so gilt nur das Wort: „Wir, die wir der Sünde gestorben sind, wie sollen wir noch in derselben leben?“ (Röm 6,2) Denn wir sind aufgefordert, das „Ich“, den Sünder, der einst der Sünde diente, für tot zu halten.
Es wird also – wir wiederholen es – nicht behauptet, dass es keine Leiden, keinen Kampf, keine Sünde, keinen Tod mehr gibt, sondern dass durch den Glauben an den Tod Christi der Gläubige moralisch über alle diese Dinge erhaben ist und freudig auf die große Tatsache zurückblicken kann, dass „unser alter Mensch mit Ihm gekreuzigt ist.“ Gott sagt es; und der Glaube zweifelt nicht an dem Wort Gottes, sondern fügt sein Amen hinzu.
Während nun die Bezeichnung „alter Mensch“ der Ausdruck dessen ist, was Gott in Christus in Bezug auf unseren Zustand und unsere Verantwortlichkeit als Sünder getan hat und der Glaube sich aneignet, drückt die Bezeichnung „neuer Mensch“ das aus, was wir als neuerschaffen in Christus empfangen haben.
Sobald Er, in dem das Leben war, in diese Welt kam und seinen Dienst unter den Menschen begann, er? klärte Er: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh 3,3). Und wiederum: „Dies ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an Ihn glaubt, das ewige Leben habe; und ich werde ihn auferwecken am letzten Tage“ (Joh 6,40). Ja, es war der Wille des Vaters, dass, wie Adam die Sünde und den Tod in die Welt brachte, Christus das Leben hineinbringen sollte, und zwar ein Leben, das „der Sünde und dem Tod nicht unterworfen ist.“
Da das Leben des Menschen durch die Sünde verwirkt war, so bedurfte derselbe einer neuen Schöpfung – eines ewigen Lebens, das nicht verwirkt werden kann, wenn er anders das Reich Gottes sehen und hineingehen sollte. Obwohl Christus den Gläubigen aus dem Zustand eines verantwortlichen Sünders vor Gott, sowie von den Folgen dieses Zustandes, dem Tod und dem Gericht, erlöst hat, und derselbe, weil eins mit Christus, von Sünde und Tod im vollen Sinne des Wortes befreit ist, so bedarf es dennoch einer neuen Schöpfung, der Wiedergeburt des Menschen, damit derselbe fähig sei, in die Herrlichkeit Gottes einzugehen und dieselbe zu genießen. „Jeder, der an Ihn glaubt, hat das ewige Leben“ (Joh 3,36). Es ist die dem glaubenden Sünder dargereichte Gabe Gottes. „Und dies ist das Zeugnis: dass Gott uns das ewige Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn“ (1. Joh 5,11). „Die Gnadengabe Gottes aber ist ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Röm 6,23). „Wenn jemand in Christus ist – eine neue Schöpfung“ (2. Kor 5,17). Nicht nur, dass der Gläubige eine neue Schöpfung zu sein glaubt, oder dass er moralisch verändert ist, sondern er hat das Leben, ein neues, geistiges Leben, welches ihm ebenso wirklich verliehen ist, wie ihm sein natürliches Leben bei seiner Geburt in die Welt gegeben wurde.
Wie von alters her wird noch heute gefragt: „Wie kann dieses geschehen?“ Aber warum sollte es so seltsam erscheinen, oder warum sollte es Gott unmöglich sein, in der Ausübung seiner Gnade und seiner Kraft aus einer neuen Quelle das Leben mitzuteilen, wie Er das erste Leben gegeben hat? Der Gläubige ist als der Besitzer des Lebens, dessen Geber Gott, und dessen Quelle der auferstandene und verherrlichte Christus ist, eine „neue Schöpfung“, und soll, nachdem er „den neuen Menschen angezogen, der nach Gott geschaffen ist in Gerechtigkeit und wahrhaftiger Frömmigkeit“, nicht nur nach dem Maß eines gerechtfertigten und versöhnten Menschen der alten Schöpfung, sondern nach dem Maß und Muster Christi, des Hauptes der neuen Schöpfung, wandeln, in welchem dieses Leben zur Rechten Gottes ist. Die Quelle dieses Lebens und die demselben entsprechenden Verhältnisse sind im Himmel und der erhabensten Herrlichkeit Gottes angemessen; und der Gläubige, der sich in dem Besitz dieses Lebens befindet und es kennt, ist berufen, als Nachahmer Gottes hienieden zu leben und zu handeln, wie geschrieben steht: „Seid nun Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder, und wandelt in Liebe, gleich wie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch“ (Eph 5,1–2).
Es geht hieraus deutlich hervor, dass weder unsere eigene unzerstörbare Persönlichkeit, noch unsere gegenwärtige Verantwortlichkeit durch die Kreuzigung unseres „alten Menschen“ oder durch die Anziehung des „neuen Menschen“ vertilgt oder beseitigt wird. Der Gläubige wohnt in demselben Leib und bewegt sich nach wie vor seiner Bekehrung in derselben Welt. Durch den Glauben und nur durch den Glauben eignet er sich aus dem Wort Gottes die Segnungen und die Wunder der göttlichen Gnade zu. Er schaut zurück auf das Gericht, in welchem der Gerechte für uns, die Ungerechten, zur Sünde gemacht wurde: er schaut empor und weiß, dass derselbe Gerechte nur für ihn zur Rechten Gottes lebt; er schaut hinaus in die Zukunft und erwartet mit Überzeugung und Zuversicht, dass der Kommende kommen und nicht verziehen, dass Er uns zu sich nehmen wird, damit auch wir dort seien, wo Er ist. Er weiß, dass Gott ihm ein ewiges Leben gegeben hat, sowie auch das Pfand des Geistes, um die Dinge zu erkennen, die ihm von Gott so reichlich gegeben worden sind. Wenn er also im Glauben wandelt, wird er sich der Kraft des göttlichen Lebens in sich bewusst – jener Kraft, die sein Herz zu Gott und zu dem Volk Gottes hinzieht, und kann dann sagen: „Wir lieben Ihn, weil Er uns zuerst geliebt hat“, und: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben“ (1. Joh 4,19; 3,14). Der Geist des Herrn ist in ihm und mit ihm, macht ihn zu einem Tempel Gottes und leitet ihn in den Wegen Gottes. Nun er im Geist wandelt, vollbringt er nicht die Lüste des Fleisches; denn wie das Fleisch wider den Geist gelüstet, also auch der Geist wider das Fleisch (Gal 5,17).
Der Gläubige ist also in seiner eigenen Person der Platz eines Kampfes, in welchem die göttliche und geistliche Natur über die irdische und fleischliche den Sieg davonträgt. Seine Persönlichkeit bleibt unverändert. Seine menschliche Natur, sowie seine natürlichen Fähigkeiten und Neigungen – mögen sie gute oder schlechte sein – hängen ihm nach wie vor an; aber er hat das Vorrecht, auf die vergangene Zeit seines Lebens als wirklich vergangen zurückblicken zu dürfen. Er kann sich durch den Glauben in Christus für tot halten, insofern er ein Sünder war und in dem Kreuz Jesu Christi das erblickt, was seinen Sünden, sowie seiner Verantwortlichkeit als Mensch vor Gott für immer ein Ende gemacht hat. Er kennt auch die Gegenwart und die Kraft des Geistes Gottes, als des Spenders und Erhalters des neuen und ewigen Lebens, welches Gott in Christus ihm geschenkt hat. Durch diesen Geist tötet er die Handlungen des Leibes; er stellt seinen Leib dar als ein lebendiges Schlachtopfer. Er hat seine Seele gereinigt durch den Gehorsam der Wahrheit, indem er der Wahrheit gehorchte. Sein Herz ist durch den Glauben gereinigt (Apg 15,9). Er bleibt in Christus und reinigt sich, und hierdurch sind Leib, Seele und Herz unter den gegenwärtigen Einfluss des Heiligen Geistes gebracht worden.
Zuweilen wird die Frage aufgeworfen: „Ist es das alte Herz, wovon die Rede ist?“ Wir antworten: „Die Schrift spricht nirgends davon, dass der Christ zwei Herzen habe. Was sie uns lehrt, ist, dass der Gläubige gerade mit denselben Gliedern, die er ehedem als Werkzeuge der Ungerechtigkeit gebrauchte, Früchte der göttlichen Natur hervorbringen und deren Kraft ans Licht stellen soll: denn der Leib gehört dem Herrn“ (1. Kor 6,13). Deshalb ist der Mund, der einst voll Fluchens und Bitterkeit war, nun mit dem Opfer des Lobes erfüllt; das Herz – ein trotziges und verzagtes Ding, welches niemand ergründen kann, ist nun die Wohnung Christi durch den Glauben. Die Füße – einst „schnell, Blut zu vergießen“ – sind nun „beschuht mit der Zubereitung des Evangeliums des Friedens“ (Röm 3,15; Eph 6,15); die Hände – einst nach unrechtem Gut sich ausstreckend – arbeiten jetzt, schaffend, was gut ist, damit der Gläubige „etwas mitzuteilen habe dem Dürftigen“ (Eph 4,28). Christus soll jetzt, sei es durch Leben, sei es durch Tod, hocherhoben werden an seinem Leib (Phil 1,20). Die neue göttliche Kraft in das alte irdene Gefäß gelegt worden, um hier im Überwinden und Zerstören aller bösen Lüste, sowie in der Unterjochung des Eigenwillens sich wirksam zu erweisen und „Geist, Seele und Leib“ des Gläubigen in vollkommene Unterwerfung zu bringen, damit sie „ganz und gar untadelig bewahrt seien bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christi“ (1. Thes 5,33). Er empfängt diese Kraft durch den Glauben an die Wahrheiten bezüglich des Todes des „alten Menschen“ und des Bestehens des „neuen Menschen“ vor Gott. Im Glauben daran, dass Gott sagt: „Ihr seid gestorben“ (Kol 3,3), tötet er alles, was mit dem Kreuz und dem Tod Christi unvereinbar ist. Weil „sein Leben mit Christus in Gott verborgen ist, sucht er die Dinge, die droben sind“, und lebt auf der Erde als ein himmlischer Mensch, indem er Gottes Gedanken und Grundsätze auf jede Einzelheit seines Lebens überträgt. Er denkt daran, dass unser Herr durch den Tod gehen musste, als Er die Stelle des Sünders im Gericht annahm, und darum fällt er, durch den Glauben, über sich selbst, über seinen ganzen vergangenen Zustand als Sünder, sowie über jede Regung des Fleisches, über jede Nachgiebigkeit gegen dasselbe das gleiche Urteil des Todes.
Dieses und nichts weniger ist das eigentliche, wahre Christentum. Gott muss in dieser Welt, in jedem einzelnen Christen, dem der Heilige Geist innewohnt und der unter der Leitung desselben steht, verherrlicht werden. In der Auferstehungsherrlichkeit wird der Gläubige einen Leib empfangen, gleichförmig dem verherrlichten Leib Christi (Phil 3,21). Aber auch jetzt ist es die Bestimmung Gottes, ein Volk zu besitzen, welches so völlig in der Kraft des Lebens wandle, dass Er in ihren Leibern, welche Gottes sind, verherrlicht werde. Ein Gläubiger dieser Art kann sagen: „Ich bin mit Christus gekreuzigt: ich lebe aber, nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20). Hier finden wir also die drei „Ich“ 1.: „Ich“, der alte Mensch – mit Christus gekreuzigt; 2.: „Ich“, der neue Mensch – Christus, der in mir lebt: 3.: „Ich“, die Persönlichkeit, die zwar im Fleisch aber durch den Glauben an den Sohn Gottes lebt, an Ihn, „der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.“ Man beachte es wohl. Er hat mich geliebt, nicht den alten Menschen, nicht den neuen Menschen, sondern mich, denselben Menschen, der einst ein Sünder war, nun aber, durch seine Liebe gedrungen, nicht sich selbst, sondern Ihm lebt, der für uns gestorben und aus den Toten auferstanden ist.
Es gibt zwei Wahrheiten, welche mit dem „neuen Menschen“ im Zusammenhang stehen, und welche unterschieden werden müssen: 1. die Tatsache, dass der Gläubige die Gabe Gottes, das ewige Leben in Christus, besitzt, und 2. der moralische Einfluss dieser Wahrheit auf sein Dasein in der Welt. Zuerst also: Gott hat uns das ewige Leben gegeben, und dieses Leben ist in seinem Sohn: dann aber wie Paulus sagt: „Das Leben ist für mich Christus“ (Phil 1,21). Der Apostel lebte hienieden kein Leben für sich, sondern für einen anderen, für Christus, der aus den Toten auferweckt war. In demselben Sinne sagt Johannes: „Wer da sagt, dass er in Ihm bleibe, der ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie Er gewandelt hat“ (1. Joh 2,6).
Jeder einzelne Christ ist also für sich selbst verantwortlich; und es ist ihm die nötige Kraft verliehen, um sich in Wahrheit der Sünde für tot halten, Gott aber leben zu können. Wie er in Adam gestorben ist, so ist er auch in Christus lebendig gemacht worden. Jedoch ist er es selbst, der durch den Glauben tot ist, und der durch die Gnade nur Gott lebt. Nichts ist gefährlicher, als all das Böse, welches man in sich entdeckt, dem alten Menschen auf Rechnung zu setzen, als ob der Gläubige nicht an und für sich selbst verantwortlich wäre, nach innen und nach außen heilig zu sein. Das Gefühl der moralischen Verantwortlichkeit wird auf diese Weise geschwächt; und die Gefahr ist vorhanden, die Wirksamkeit und Frucht der Sünde in unseren Gliedern mit mehr oder weniger Gleichgültigkeit, als ein unvermeidliches Hebel zu betrachten, anstatt sie in der Kraft des Geistes Gottes zu richten und zu töten.
In einem engeren Sinne des Wortes hat der „alte Mensch“ kein gegenwärtiges Dasein, Er ist, wie bereits gesagt, der Ausdruck eines vergangenen Zustandes der Verantwortlichkeit, den der Tod Christi übernommen und beseitigt hat. „Ich“, ein Gläubiger, bin es, der noch lebt; und nicht nur mein „alter Mensch“, sondern ich, der Gläubige in Christus, kann wohl sündigen, soll es aber nicht tun. „Wenn wir sagen, dass wir nicht gesündigt haben, so machen wir Ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns. Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, damit ihr nicht sündigt“ (1. Joh 1,10; 2,1). Die Gnade Christi und die Kraft des Heiligen Geistes sind das herrliche, allgenügende Teil des Gläubigen. „Denn die Sünde wird nicht über ihn herrschen;“ und er soll sie nicht mehr in seinem sterblichen Leib herrschen lassen, ihr zu gehorchen in seinen Lüsten (Röm 6,12.14). Findet er dennoch die Sünde vorhanden, so darf er sie nicht zu seiner Entschuldigung dem „alten Menschen“ auf Rechnung setzen, sondern muss sich mit aller Aufrichtigkeit selbst die Schuld beimessen und sie bekennen; denn nur „wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt, und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh 1,9). Jedoch darf er, wie bereits vorher bemerkt, immer wieder durch den Glauben auf die beseligende Tatsache zurückkommen, „dass unser alter Mensch mitgekreuzigt ist, auf dass der Leib der Sünde abgetan sei, so dass wir der Sünde nicht mehr dienen“ (Röm 6,6); und hierin wird er stets eine sichere Zufluchtsstätte des Herzens und einen mächtigen Hebel wider die Zulassung der Sünde finden.
Die Antwort auf die ursprüngliche Frage ist also, dass das „Ich“, als der Ausdruck meiner Persönlichkeit, in keiner Weise seines Daseins beraubt wird. Ich, der ich einmal, als dem ersten Adam angehörend, unter der Sünde und unter dem Gericht stand, bin nun, eins mit Christus, durch seinen Tod und seine Auferstehung von dem früheren Zustand und der früheren Verantwortlichkeit befreit und in einen neuen Zustand eingeführt worden, mit dem weder die Sünde, noch der Tod, noch das Gericht verknüpft sind. In meinem Wandel hienieden muss ich entweder dem einen oder dem anderen verwandtschaftlichen Verhältnis entsprechend handeln, muss entweder das Leben eines Kindes Adams, oder dasjenige eines Menschen in Christus oder eines Kindes Gottes offenbaren. Ich habe durch den Glauben die Kraft und das Vorrecht, mich durch den Tod und die Auferstehung Christi von Adam, dem ersten Menschen, getrennt zu halten und mich mit Christus, dem zweiten Adam, dem „Herrn vom Himmel“, zu verbinden. Ich also, als einzelne Person betrachtet, ein Glaubender an Christus, der ich erlöst, gerechtfertigt, lebendig gemacht bin und auf die Offenbarung der Herrlichkeit Christi warte, bin nach dem Ratschluss Gottes noch als ein verantwortliches Wesen hier auf Erden, um eine kleine Weile „die Tugenden dessen zu verkündigen, der mich berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht“ (1. Pet 2,9), und um die ganze, durch den Geist im Wort offenbarte Wahrheit in der Welt darzustellen und ihre Kraft zu beweisen, nicht nur in Bezug auf die kommende Herrlichkeit, sondern auch auf den Sieg in diesem und über diesen „gegenwärtigen, bösen Zeitlauf.“ – H. C. G. B.