Botschafter des Heils in Christo 1875
Gedanken, gesammelt aus Vorträgen von George Vicesimus Wigram - Teil 8/18
Christus erkennen als den, welcher Ruhe geben kann, ist eine ganz andere Sache, als mit Ihm zu wandeln und sein Joch so zu tragen, dass wir die Ruhe genießen, wenn alles wider uns ist, und sagen können: „Mein einziges Verlangen ist, meinem Herrn wohl zu gefallen, Ihm zu dienen und in allen Umständen Ihn, meinen Vater, zu preisen.“ Aber ach! wie selten ist dieses bei uns der Fall. Wir haben unsere eigenen Pläne, wir wählen unsere eigenen Wege, und wir lieben es nicht, dass Christus sie uns durchkreuze und uns unter sein Joch zurückführe. Er will, dass sein Licht uns bestrahle und alles, was in uns ist, zum Vorschein bringe, und dass wir nach diesem Licht wandeln. Unter seinem Joch gibt es keinen Platz für den Eigenwillen. Wenn Christus mir Ruhe gegeben und mich unter sein Joch gestellt hat, so kann Er mir nicht erlauben, meinen eigenen Weg zu gehen, sondern ich muss seinen Schritten folgen. Christus hat als der vollkommene Diener Gottes seinen Dienst erfüllt. Er konnte bei jedem Schritt seines Weges etwas sehen, was Ihn an den Vater erinnerte; es war seinem Herzen süß, sich als einen vollkommenen Diener zu erweisen, indem seine Verwerfung die Einheit mit dem Vater kennzeichnete. Die Menschen hassten nicht nur Ihn, sondern auch den Vater. Gänzliche Abhängigkeit, eine nie unterbrochene Gemeinschaft mit dem Vater – alles zeigte in Ihm den Diener, der seines Gleichen nicht hatte. Es ist uns oft bitter, unseren eigenen Willen zu brechen; aber Er hatte keinen anderen Willen, als den des Vaters. Wir haben einen Willen, welcher, weil er sich nicht beugen will, stets gebrochen werden muss. Es ist sehr ernst, dass wir unseren Willen nicht dem Willen Gottes zu unterwerfen verstehen. Bei Christus, welch finstere Wege Er auch zu gehen hatte, hieß es immer: „Nicht mein Wille, sondern der deinige geschehe.“
Wie viele bittere Stunden hat der immer widerstrebende Eigenwille uns schon verursacht, welcher stets sagt: „Ich will nicht diesen Weg gehen; ich liebe nicht diese Arbeit zu verrichten; ich will lieber so und so handeln.“ Die Apostel haben sich nie den Segnungen dieses Jochs zu entziehen gesucht, sie waren mit Christus mit demselben verbunden und mussten daher die Pfade wandeln, die Er wandelte. Petrus wurde berufen am Ende die Märtyrerkrone zu empfangen. Wenn wir willig gehen, wohin Christus uns leitet, indem wir von Ihm zu lernen trachten und in allem, was uns begegnet „Gott unseren Vater“ sehen, dann wird alles leicht sein. Der Herr Jesus sagt: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“ Nur dann, wenn wir mit Ihm unter seinem Joch wandeln, lernen wir diese Sanftmut und Demut Christi. O welche Güte hat Er gezeigt! Mit welcher Geduld hat Er unser Verhalten ertragen? Es ist leicht, uns solcher Gelegenheiten zu erinnern, wo der zärtlichste Freund sich für immer von uns abgewandt haben würde, während Christus ununterbrochen fortfährt, vom Himmel aus nach den Absichten seiner Liebe mit uns zu handeln. Er konnte sein Antlitz gen Himmel erheben und sagen: „Niemand kennt den Sohn, als nur der Vater“, und Er konnte sein Auge richten auf schwache Geschöpfe, wie wir sind, und sagen: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir.“ O wenn wir es verständen, unserem Willen Schweigen zu gebieten, so würden wir Ruhe in allen Umständen finden. Wenn wir wandelten, wie Christus gewandelt hat, so würden wir Gott, unseren Vater, in allen Dingen sehen. Eine völlige Unterwerfung unter sein Wort, indem wir sagen: „Es steht geschrieben“, vermag das Bitterste zu versüßen.
Wo sind unsere Herzen? Sind sie mit den Dingen dieser Welt beschäftigt, oder wandeln wir im Frieden dem Himmel zu, und zwar beschäftigt mit Ihm, dessen Liebe uns nimmer aus den Augen verliert? Wenn Christus vor unserer Seele ist, wie schnell schwinden dann all die Dinge, welche uns beunruhigen und uns zu verwirren trachten! Und wenn wir Christus nicht haben, was bleibt uns denn noch? Unsere Quellen sind während des ganzen Weges in Christus, außer Ihm finden wir nichts. Er, der geredet hat, wie nie ein Mensch redete, ist derselbe, dessen Wort in Ewigkeit bleibt.
Christus, verherrlicht zur Rechten Gottes, ist der Grund meines Friedens. Ich kenne Ihn als den, der meine Sünden an seinem Leib auf das Holz getragen und mir die Liebe Gottes offenbart hat, und ich bin in Verbindung mit Ihm, als dem Mann der Schmerzen, welcher in das Grab hinabgestiegen, auferweckt und für immerdar zur Rechten Gottes gesetzt ist. Dort ist in Ihm auch unser Platz vor Gott. Wie wenig vermag ein armer Sünder den unendlichen Wert dieses Blutes zu schätzen! Wenn wir eingetreten sein werden in das Haus des Vaters und gekostet haben die Freuden dieses Hauses, dann werden wir dieses kostbare Blut daher zu schätzen verstehen und Zugleich erkennen, dass unsere Freude droben derselben Quelle entspringt und auf demselben Fundament ruht, als die Freude, welche wir während unseres Wandels durch diese Wüste hienieden genossen haben.
Welch gesegnete Worte hören wir im Himmel! „Würdig ist das Lamm!“ Und wir werden dort sein, weil das Blut dieses Lammes uns gereinigt hat. Wie schrecklich muss die Sünde sein, die es nötig machte, dass das Blut des eingeborenen Sohnes Gottes fließen musste, um ihre Flecken zu tilgen! – niemand ist höher als Jesus; und niemand hat sich so tief erniedrigt, wie Er. Niemand außer Ihm vermochte die Tragweite der Sünde in dem Geschöpf zu ermessen; und nur Er konnte tief genug herabsteigen, um sie zu beseitigen.
Johannes 17,2 Es liegt etwas in diesen Worten des Herrn, was das Herz durchdringt und zur Anbetung drängt. Jesus empfängt eine Autorität von dem Vater; und wenn Er sie begehrt, so geschieht es, um das ewige Leben zu geben, damit der Vater verherrlicht sei. Er kann jetzt einen Blick auf uns werfen und sagen: „Ich habe den Vater in diesen Personen verherrlicht; ich habe ihnen das ewige Leben gegeben.“ Die Leiden, welche, als Er auf das Kreuz stieg, vor Ihm waren, veränderten das Verlangen, Gott zu verherrlichen, das Leben zu geben, in keinerlei Weise. Er bedient sich der empfangenen Gewalt, um uns lebendig zu machen und uns einen Platz bei Ihm zu geben. Welch eine kostbare Wahrheit! Gott vergisst nicht, dass sein Sohn gelitten hat, um uns dort einzuführen; und Christus vergisst keinen von denen, welche der Vater Ihm gegeben hat; nicht ein einziger wird fehlen. Unser Leben ist in Ihm; und was uns hienieden auch begegnen mag, so ist dieses Leben doch unverderblich und unveränderlich. Das Gefäß mag zerbrechlich sein; aber das Leben wird aufbewahrt, es ist ewig.
Werden die Engel – diese Zeugen der im Garten Eden so herrlich entfalteten Schöpfungsmacht – es gedacht haben, dass der, welcher diese Pracht und diese Herrlichkeit offenbarte, auf derselben Erde wie ein Missetäter ans Kreuz genagelt werden würde? Und werden sie es geahnt haben, dass ein zweiter Adam, nachdem er vorher ins Grab gelegt, auferweckt und gen Himmel gestiegen war, sich setzen würde zur Rechten Gottes?
Nichts zeigt so klar den wahren Zustand des Menschen, als das Licht des Kreuzes. Erst als nach dem Tod Jesu das Licht des Himmels auf eine Stadt von Mördern fiel, konnte Gott sagen: „So ist der Mensch!“ Aber diesen Schlund der Gottlosigkeit, in welchen der Mensch gestürzt ist, hat Gott untersucht und ist durch das Kreuz hinabgestiegen, um, weil Er reich ist an Barmherzigkeit, sein Geschöpf zu befreien.
Das Leben Adams im Garten Eden war nicht ein Leben jenseits des Grabes; es war nicht das Leben, kraft dessen der zweite Mensch, der Herr vom Himmel, dahin zurückkehrte, wo Er vorher war. Christus, der Sohn des Menschen, konnte sterben, und Er starb; aber wenn Er sein Leben hingab, so konnte Er es auch wieder nehmen; und dieses ist das Leben, welches wir von Ihm empfangen haben.
Die Werke Christi waren stets in Verbindung mit dem Vater. Er blickte stets zu Ihm empor mit einem Herzen, welches in Übereinstimmung mit der Gesinnung Gottes war. Die Werke, die wir als das Volk Gottes zu verrichten haben, sollten ebenfalls aus der erkannten Gesinnung Gottes hervorstießen. Wünschen wir zu wissen, was seiner nicht würdig ist, so müssen wir stets die Frage an uns richten, ob der Sohn Gottes, als Er auf Erden war, dieses oder jenes getan haben würde. Der Beweggrund zu unseren Werken sollte stets sein: „Ich tue dieses oder jenes, weil ich Gott angehöre.“ Der, welcher das Leben Christi besitzt, wird Früchte hervorbringen, die Gott annehmlich sind. Es ist von großer Wichtigkeit, unsere Werke zu prüfen und uns zu vergewissern, ob sie vor Gott angenehm sind.
Was kann gesegneter sein, als jene Gnade, durch welche das volle Licht des Angesichts Christi in unsere Seele strahlt und sie mit Glück und Frieden erfüllt. Der in uns wohnende Heilige Geist unterhält unsere Gemeinschaft in dem Genuss dieser Gnade. Aber wie gesegnet dieses sein mag, so tragen wir doch diesen Schatz in irdenen Gefäßen, und wir befinden uns in der Wüste.
Gott hat nichts Schöneres gekannt, als Christus: und sein Wille war, unsere Blicks auf Ihn zu lenken, an dessen vollkommener Schönheit Er seine Wonne hat. Es ist eine unaussprechliche Gnade, dass der Glanz des Angesichts Christi unsere Seelen durchdrungen hat; aber hierin liegt auch eine ernste Verantwortlichkeit. Wir haben als Lichter zu glänzen, indem wir das Wort des Lebens darstellen. Der Christus, welchen wir anschauen mit aufgedecktem Angesicht, hat die Strahlen seines Lichts über uns ausgegossen, damit dasselbe aus uns hervorstrahle. Dieses Licht ist völlig in dem Herrn Jesus Christus, und von einem Widerschein desselben von unserer Seite kann keine Rede sein, wenn wir mit uns selbst beschäftigt sind.
Wenn wir an unsere Verantwortlichkeit denken, so fühlen wir das Bedürfnis nach jener Ermunterung, welche uns der Gedanke verschafft, dass wir hienieden als Zeugen des Herrn zurückgelassen sind. Sobald der Herr kommt, wird die ganze Erde von seiner Herrlichkeit erfüllt sein; und diesem Augenblick haben wir entgegen zu harren. Unsere Stellung ist die der Pilger und Fremdlinge, die, während sie auf der Erde wandeln, das Licht Christi ausströmen lassen. Wenn Er kommen wird, wird Er eine unbeschreibliche Herrlichkeit geben. Welche Ermunterung, welche Süßigkeit liegt nun in dem Gedanken, dass der Herr sich hienieden unserer bedient, um zur Erfüllung seiner Absichten sein Licht leuchten zu lassen; denn Er will während seiner Abwesenheit ein Licht auf der Erde haben. Bei seiner Ankunft werden wir außer der Freude seines Königtums auch noch des Glücks uns erinnern, Ihm hienieden in der Wüste gedient zu haben. Und kannte Er, als Er uns dazu berief, das irdene Gefäß nicht? Je schwacher und elender wir sind, desto mehr werden wir das Gefühl seiner Kraft haben.
Bald werden wir mit Ihm im Himmel sein. Die Absicht Gottes war nicht, uns fern von Christus glücklich zu machen; aber Er wollte, dass wir vor unserem Eintritt in die Ruhe seine Zeugen in der Wüste sein und das Licht seiner Erkenntnis ausstrahlen lassen sollten. Vielleicht strahlt das Licht in sehr geringem Maß von mir zurück; aber der Herr sagt mir: „Lass dich nicht entmutigen; gehe vorwärts; die Kraft kommt von mir; lass das Licht leuchten, während es noch Zeit ist, denn der Tag naht!“ – Der wolkenlose Morgen wird uns in das Licht einführen, in welchem sich Christus jetzt befindet. Wir durchschreiten diese Welt, welche finster ist, aber beschienen wird durch den glänzenden Morgenstern, der in unseren Herzen aufgegangen ist. Wir wandeln dem entgegen, was jenseits ist, wir eilen zu Christus, dem glänzenden Morgenstern. Bald werden wir Ihn schauen. Er wird uns sammeln und uns einführen in das Haus des Vaters noch bevor der Augenblick kommt, wo Er als die Sonne der Gerechtigkeit sich wider seine Feinde erheben wird. Gehört ihr der Zahl derer an, welche rufen: „Komm, Herr Jesu?“ Verlangt ihr nach seiner Erscheinung? Ist dieses ein beständiger Gedanke eures Herzens? In der Tat, die Erwartung seiner Person erhebt uns über alles in dieser Welt.
Christus im Himmel zur Rechten Gottes ist mit aller Macht bekleidet. Er übt jetzt diese Macht in Gnade aus; wenn Er wiederkommt, wird Er sie in Gerechtigkeit zu vollkommener Überwindung entfalten. Er hat uns hienieden in einen Platz gestellt, den Er selbst als das zur Schlachtbank geführte Lamm einnahm. Aber Er hat alle Dinge so völlig in seiner Hand, dass trotz aller Anstrengungen Satans hienieden ein Volk besteht, welches Ihn kennt, Ihm dient und seinen Namen bekennt. Er ist es, der in besonderer Weise die Wege des Apostels Paulus ordnete; und das Gemälde, welches uns die sieben Versammlungen der Offenbarung enthüllen, zeigt deutlich, dass Er alles in seiner Hand hat. Er selbst stellt seine Diener ans Werk und unterstützt sie in ihren Arbeiten. Er ist der Herrscher über alles. Satan kann nicht das Geringste tun, es sei denn unter der Zulassung Gottes, der alles in seiner Hand hat. „Ist Gott für uns, wer wider uns?“ Welch ein unendlicher Trost liegt in diesem Gedanken! Nichts kann Ihn verhindern, in seiner Macht hernieder zu kommend seine Feinde zu zerschmettern und sein Reich aufzurichten. Aber Er wartet noch, während Er uns, seine Zeugen, schirmt und leitet, und wir stets auf seine Liebe rechnen können.
Er, der von allen seinen Engeln begleitet mit großer Macht und Herrlichkeit wiederkommen wird, wandelte auf der Erde von Ort zu Ort im Kleid eines Fremdlings. Er kennt alle unsere Schwierigkeiten; sein Herz hat Mitleiden mit allen unseren Schwachheiten. Sein Auge ist stets in Gnade auf uns gerichtet. Fühlen wir uns zu Boden gedrückt, so ruft Er uns zu: „Ich weiß, dass du schwach bist; aber denke an meine Kraft.“ Wer hat die Wüste so kennen gelernt, wie Er? Wer hat sie durchschritten wie Er, „trinkend auf dem Weg aus dem Bach?“ (Ps 110) Ja wahrlich, der Mann der Schmerzen weiß uns durch die Macht seines Mitgefühls zu ermutigen. Er vergisst die Seinen nimmer.
Das Herz Gottes, in Verbindung mit Christus, ist mit einem Volk hienieden beschäftigt, um es durch seine Macht für sich selbst zuzubereiten. Die Macht des Himmels ist auf Erden in Tätigkeit; der Heilige Geist ist herniedergekommen.
Wenn ihr Christus mit der Welt vereinigen wollt, so wird dieses die Grundlage nicht zerstören, aber es wird eine Zerstörung eurer Freude und eures Dienstes sein; und wenn ihr gerettet seid, so wird es sein wie „durch das Feuer.“
Eine menschliche Religion gibt dem Kreuz nie den Platz, welchen Gott demselben angewiesen hat. Wie viele Menschen gehen von Jahr zu Jahr dahin, ohne je auf Golgatha ihre Blicke gerichtet und daran gedacht zu haben, dass dort das Ende der ganzen Herrlichkeit dieser Welt ist. Das Einzige, dessen ich mich in der Welt rühmen kann, ist das Kreuz Christi; und was gibt es in diesem Kreuz für mich, um mich dessen zu rühmen? Es ist das Kreuz des Herrn Jesus Christus. Ohne dasselbe würde ich ewig verloren sein. Das Herz schaudert bei dem Gedanken, dass der Tod der Lohn der Sünde ist; und wodurch hätte das Kreuz schrecklicher gemacht werden können, als durch die Verbindung mit dem Tod? Aber wenn ich mich nach Golgatha versetze und durch das Dunkel, wovon das Kreuz umgeben ist, sehe, von welch einem Glänze es umstrahlt ist, so verstehe ich, dass ich mich des Kreuzes dessen rühmen kann, welcher starb, um Gott zu verherrlichen und um mich zu retten. Auf dem Kreuz sehe ich die Wegnahme meiner Sünden; und das ist es, was meinem Herzen die Freimütigkeit verleiht, mich desselben zu rühmen.
Nicht nur in den Resultaten des Kreuzes, sondern in dem Kreuz selbst hat Gott seine Macht und Weisheit offenbart. Die Schöpfung des neuen Himmels und der neuen Erde vermag seiner Macht und Weisheit nicht einen solchen Ausdruck zu verleihen, wie es das Kreuz getan hat. Wer ist es, den wir ans Kreuz geheftet sehen? Es ist der, in welchem die Fülle der Gottheit wohnt – der Allmächtige. Wir sehen Ihn – Gott, offenbart im Fleisch – auf dem Kreuz, zwischen zwei Missetätern. Konnten die Nägel Ihn festhalten? Keineswegs. Der Mensch hatte Ihn ans Kreuz genagelt; aber es war auch der Wille Gottes, dass Er dort war. Eine andere Sache, stärker als die Ketten und Banden, hielt Ihn zurück. Er hatte gesagt: „Siehe, ich komme, o Gott, um deinen Willen zu tun.“ Der Sohn Gottes war ein Diener geworden. Er, durch welchen Gott alle Dinge geschaffen und der die Macht hatte, alles wieder in nichts verwandeln zu können, war am Kreuz gebunden und gekettet gleich einem Sklaven; aber Er erfüllte den Willen Gottes, zu welchem Zweck Er gekommen war. Erniedrigt bis zum Tod übergab Er Gott seinen Geist in vollkommenem Gehorsam. Hat sich die Macht Gottes je in einem solchen Glänze gezeigt, wie in jenem Augenblick? Ja wahrlich, auf dem Kreuz strahlt uns eine moralische Herrlichkeit entgegen, die jede andere verdunkelt. Es ist das Kreuz, auf dem Christus sich mit allem Gott übergeben hat, um alles seiner Herrlichkeit zu widmen.
Gott allein hat das Recht, zu tun, was Ihm wohl gefällt. Er hatte einen eingeborenen Sohn, in welchem sich alle seine Ratschlüsse vereinigten, und von welchem Er sagen konnte: „An Ihm habe ich meine Wonne!“ Und wenn es nun Gott Wohlgefallen hat, auf diesen Sohn die Blitze seines Grimmes gegen die Sünde fallen zu lassen, wer wird es wagen, zu Ihm zu sagen: „Was tust du?“ Wenn Er in Verbindung mit seinem Sohn einen Plan hatte, so bedurfte er der Mitwirkung dieses Sohnes, um denselben auszuführen.
Satan hat, insoweit die Autorität Gottes es zulässt, die Macht des Todes; aber Gott hat seinen Sohn gesandt, welcher diese Macht in den Händen Satans völlig vernichtet hat. Freilich fallen Tausende, die sich weigern, diesen Sieg des Sohnes Gottes zu benutzen, unter den Streichen des Zerstörers. Was vermögen sie auch gegen diesen Zerstörer? Aber für alle, welche Christi sind, hat der Tod, wenn er sie an die Grenze ihrer Laufbahn führt, den Todesgeschmack verloren. „Ausheimisch vom Leib, einheimisch beim Herrn“, – das ist alles, was der Tod für sie ist. Satan vollbringt sein Werk, indem er den Leib zerstört: aber in Bezug auf Christus hat er es nicht vermocht. Er, der Fürst des Lebens, der Gewalt hatte, das Leben zu lassen und es wieder zu nehmen, hat es freiwillig hingegeben; und sein Tod hat den Händen Satans die Macht des Todes entrissen. Welch eine wunderbare Weisheit Gottes strahlt aus dem Kreuz hervor: Satan ist überwunden.
Die Macht des Kreuzes begegnet allem in Betreff meiner. In der Gegenwart des Kreuzes fühle ich mein tiefes Elend; aber ich erfahre, dass Christus gestorben ist, weil ich ein so elendes Geschöpf war. In dem Tod Christi glänzt die Heiligkeit Gottes in ihrer vollkommensten Reinheit: alle Eigenschaften Gottes finden dort ihre glänzendste Offenbarung. Wenn es Satan gelungen war, den Menschen in eine Stellung zu bringen, in welcher es für Gott unmöglich war, ihn zu segnen und wo alles Glück verloren war, so ist es hier der zweite Adam, der alles in seine Hand nimmt, der aber, um den Menschen zu Gott zurückzuführen, ans Kreuz geheftet wird.
Ach! dieses Kreuz brandmarkt den ganzen Hochmut des Menschen: aber man schätzt es erst dann, wenn man durch den Kampf bis zu den Pforten des Todes geführt ist. Auf diesem Weg habe ich etwas kennen gelernt. Eine Woche nach der anderen zog an meiner Seele vorüber, ohne dass ich Ruhe zu finden vermochte; und die Ursache war, dass ich etwas tun wollte, und Christus alles getan hatte. Ich fand Frieden durch das Kreuz, indem Gott mir zurief; „Mein Sohn hat deine Sünden auf das Holz getragen.“ Jetzt erst verstand ich, dass der Heiland für mich vor mehr als achtzehnhundert Jahren gelitten hatte, und dass allein mein verabscheuungswürdiger Wille mich verhinderte, in Ihm Frieden zu finden.
Die Leiden, welche Christus meiner Sünden wegen erduldete, waren nicht diejenigen, die Ihm von Seiten der Menschen durch deren Speer und durch deren Nägel zu Teil wurden; nein, es waren weit schrecklichere Leiden: es war der Zorn Gottes, der während jener Stunden, wo dichte Finsternis das Kreuz umhüllte, sich auf Ihn herabwälzte, welcher an das Kreuz geheftet war und die Worte rief: „Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?“ Das Kreuz ist ein Ereignis, welches, einzig in seiner Art, auf Erden nicht seines Gleichen hat: aber die Urkunde davon befindet sich im Himmel. Gott wird beständig durch die Gegenwart des geschlachteten Lammes zu seiner Rechten daran erinnert.
Kraft dieses Kreuzes werden wir, mit einem von Glück strahlenden Antlitze, in voller Sicherheit eintreten. Möge Gott es verhüten, dass wir außer dem Kreuz in dieser Welt etwas finden, welches wir würdig achten, uns damit zu beschäftigen, oder uns dessen zu rühmen, oder darin zu ruhen. Das Kreuz hat mich von einer Welt abgesondert, die meinen Heiland gekreuzigt hat.
Wir sind der Welt gekreuzigt; und dieses hat seine Wirklichkeit in unserer Gemeinschaft mit dem Kreuz Christi, mit dem gekreuzigten Christus. Das Kreuz vermischt sich mit allen unseren täglichen Erfahrungen. Wie kann ein Christ in hohem Alter seinen Lauf fortsetzen? Wie können wir es, ohne Kraft zu besitzen, ertragen, bei Seite gesetzt zu werden? Sicher nur kraft des Kreuzes. Wie können wir angesichts der Schwierigkeiten in vollkommener Ruhe gehalten werden? Nur kraft des Kreuzes. Wie können wir das Fleisch, welches unverbesserlich ist, in Unterwürfigkeit halten? Nur kraft des Kreuzes. Wie könnte man mit dem Bösen übereinstimmen, da um dessentwillen der Herr gekreuzigt worden ist?
Wir bemerken in dem Leben Jesu auf Erden, dass es für Ihn viele Ursachen zu Trübsalen gab, die sich mit jedem Schritt steigerten; ein Schmerz folgte dem anderen bis zur Entscheidung auf Golgatha. Er hat gelitten um des Zeugnisses Gottes willen; ein jeder, welcher für Gott ist, hat sicher in dieser Welt zu leiden. Auch hat er Leiden aus Mitgefühl erfahren, wie z. B. am Grab des Lazarus, und zwar gemäß der Gnade, welche Er in der Welt offenbarte. Aber endlich hat Er der Gnade selbst wegen gelitten. Er befreite sich nicht. Er hätte Legionen Engel herbeirufen können; aber wie hätte dann die Gnade ihren Lauf fortsetzen können? Er beobachtete tiefes Schweigen und betete für seine Mörder. Dann finden wir Ihn in einer besonderen Art von Leiden, worin eine Frage gelöst werden sollte, die bis dahin keine Lösung gefunden hatte und auch keine solche zu gestatten schien, nämlich die Frage: Wie können Gott und der Sünder sich begegnen? – Wo konnte Gott jemanden finden, der die göttliche Herrlichkeit, und Zugleich die Barmherzigkeit gegen ein in der Sünde versunkenes Geschöpf, gegen einen Feind Gottes, offenbarte? Er hat einen solchen gefunden in Christus, in welchem, durch das Gericht, der Sünde nach dem Maß, was sie vor Gott ist, begegnet werden konnte. Christus hat den Kelch aus der Hand des Vaters genommen: Er hat gekannt die Stunde des Verlassenseins von Gott und hat auf dem Kreuz den Schlag jenes „Schwertes“ empfangen, welches wider Ihn erwachen sollte. Seine Angst im Garten Gethsemane war ein Vorgeschmack des Augenblicks, wo das Schwert die Scheide verlassen sollte. Aber wir finden in dem Kreuz, was sonst nimmer gesehen worden ist und nimmer gesehen werden wird. Gott verbarg sein Antlitz, weil Er nicht einem Wesen, welches die Sünde trug, einen Blick gewähren konnte.
Am Kreuz sehe ich, welch eine Bedeutung die Sünde in den Augen Gottes hat, wenn sie in seiner Gegenwart erscheint. Der Sohn seiner Liebe wurde behandelt, als ob die ganze Sündenmasse seine eigene sei; die ganze Schwere des göttlichen Zornes wegen dieser Sünde wälzte sich auf Ihn; und Er trug diese Bürde allein. Während seines ganzen Lebens war Er der Mann der Schmerzen; aber Gott war auf seiner Seite. Auf dem Kreuz hingegen erfuhr Er die Entfernung von Gott; und dieses Gefühl findet seinen Ausdruck in dem Ruf: „Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?“ Und dieser Schrei blieb ohne Antwort; kein Strahl des Antlitzes Gottes traf in diesem Augenblick den Sohn seiner Liebe, welcher als der Gerechte für die Ungerechten litt. Der Mensch trachtet danach, die Sünde vor Gott verborgen zu halten; aber Christus hat sie unmittelbar in der Gegenwart Gottes getragen.
Ich kann mir von der Trübsal eines Geschöpfs irgendeine Vorstellung machen; aber die Größe der Leiden Christi auf dem Kreuz vermag niemand zu ermessen. Wer könnte diese Leiden beschreiben? Wer vermöchte es, die Unendlichkeit des Gedankens: „Gott offenbart im Fleisch“, in einer solchen Lage zu ermessen? Kein Lichtstrahl durchbricht die Finsternis, die das Kreuz umhüllt: alles zeugt von dem Zorn Gottes wider die Sünde. Christus, vollkommen während seines ganzen Lebens, war nie vollkommener als auf dem Kreuz, wo Er sagen konnte: „Du bist der Heilige, wohnend inmitten der Lobgesänge Israels.“ – Was mag in dem Herzen Gottes vorgegangen sein, als Er sein Antlitz von Ihm abwenden musste, welcher der einzige Vollkommene vor Ihm war? (Fortsetzung folgt)