Botschafter des Heils in Christo 1874
Die Ruhe
Von wie vielen armen, ermüdeten Herzen mögen wohl in diesem Augenblick gleich einem Echo die Worte des Psalmisten wiederhallen: „O dass ich Flügel hätte wie eine Taube! ich wollte hinfliegen und ruhen“ (Ps 55,6). Das Verlangen nach Ruhe ist seit dem Sündenfall immer der Gegenstand der tiefsten Sehnsucht des Menschenherzens gewesen. Schon in Eden, ehe noch der Lohn der Sünde eingeerntet war, kündigte diese Sehnsucht ihr Dasein durch das Verlangen nach Ruhe an. Von dem Augenblick an, wo ein unbefriedigter Wunsch den unschuldigen Genuss der Güte Gottes aus den Herzen unserer ersten Eltern verdrängt hatte, war auch die Ruhe aus denselben gewichen; und seitdem hat sich jene Sehnsucht nach Ruhe bei ihren Nachkommen in den auf einander folgenden Geschlechtern von Herzen zu Herzen fortgepflanzt. Immer stärker und heftiger drangen die Seufzer aus der Tiefe dieser Sehnsucht zu dem beleidigten Throne Gottes hervor, bis nach den ewigen und weisen Ratschlüssen des Vaters der Sohn seiner Liebe aus seinem Schoß in diese arme Welt herniederkam. Dann vernehmen wir zum ersten Male, dass dem Menschen, inmitten dieser traurigen Szene. Ruhe angeboten wird, jedoch nicht jene verheißene Ruhe, welche durch den jüdischen Sabbat bereits angedeutet war, und nach welcher die Kreatur sich sehnt, sondern eine Ruhe, die wir jetzt schon genießen können. Ohne Zweifel bleibt noch eine Ruhe für das Volk Gottes; allein diese wird offenbart werden, wenn die Macht Gottes alle Dinge im Himmel und auf Erden in geordneter Schönheit unter Christus vereinigt haben wird. Aber es gibt gegenwärtig inmitten dieser unruhigen, mühseligen, mit Seufzer erfüllten Szene eine Ruhe für jedes mühselige und beladene Herz, und zwar die süßeste und köstlichste Ruhe. Es ist nicht die Ruhe Gottes, welche die Hoffnung in späteren Zeiten erwartet, sondern die Ruhe in Gott, welche der Glaube jetzt genießt, und welche Jesus den Mühseligen und Beladenen anbietet und gibt, indem Er sagt: „Kommt her zu mir, alle Mühselige und Beladene, und ich werde euch Ruhe geben“ (Mt 11,28). Es ist, wie jemand bemerkt hat, nicht mehr eine Frage der Verantwortlichkeit, eine Sache, die von unserer Annahme abhängig ist, sondern es ist die freie und unumschränkte Gnade, die aus sich selbst und für sich selbst handelt, indem sie Mühselige und Beladene zur Ruhe führt. O wie gesegnet ist dieses alles! Er, der diese Worte sprach, wusste, was die Welt, und auch was der Mensch, selbst der bevorzugteste war. Er wusste, dass in einer Welt, die ohne Gott war, und wo sein Name entehrt und seine Gnade verachtet wurde, eine große Zahl von Mühseligen und Beladenen, aber keine Ruhe zu finden war. Er selbst war der einzige, in welchem das ermüdete Herz einen Ruheplatz finden konnte; und Er, dessen Auge gleichsam den ganzen Raum der Zeiten und alle darin befindlichen Herzen überschauen konnte, ruft allen zu: „Kommt her zu mir!“
Diese Einladung dringt nach allen Richtungen hin, weil sich überall Menschen befinden, denen dieselbe gilt. Wo irgendein menschliches Herz schlägt, dessen Leben allein das Leben Adams ist, da findet sich auch jene schmerzliche Leere, welche nur Er ausfüllen kann, der gesagt hat: „Kommt her zu mir; und ich werde euch Ruhe geben.“ Nicht eine vergängliche und zeitliche Gabe bietet Er hier an, sondern eine ewige und göttliche Ruhe – eine Ruhe, welche tief und bleibend ist, wie die Natur und der Thron dessen, der seinen eingeborenen Sohn auf diese arme, fluchbeladene Erde herniedersandte, um jene wunderbaren Worte himmlischen Trostes zu reden, die gleich linderndem Balsam in das verwundete Herz fallen und die Seele mit süßem Entzücken erfüllen – Worte, die, aus dem Herzen Gottes dringend, als Antwort dienen auf den Angstruf: „O dass ich Flügel hätte wie die Taube! – ich wollte hinfliegen und ruhen!“ Es handelt; sich hier nicht um eine mitgeteilte Macht, die uns befähigt, einen mühsamen Ausflug nehmen zu können zu einem Land der Ruhe und Freude, sondern es ist der sanfte Flug der Liebe, die sich hernieder lässt zu dem Herzen des Beladenen, um ihm Ruhe und Freude zu bringen, ohne dass es von Seiten desselben auch nur der entferntesten Anstrengung bedürfte, um diese Gabe zu erlangen. Es ist eine Gabe, nicht gesandt durch die Hand eines der Häupter der heiligen Engel des Lichts, sondern gesandt von Gott durch die Hand des Sohnes seiner Liebe. Ja, es war die gesegnete Mission unseres Herrn Jesus in dieser armen Welt, eine gegenwärtige Ruhe zu geben. Bald wird Er kommen in Herrlichkeit, und dann wird Er eine vollkommene Ruhe von den Umständen und Leiden dieser Zeit jener Ruhe beifügen, deren Süßigkeit wir jetzt schon genießen, während das Herz in Ihm ruht, den die Umstände weder erschüttern noch verändern können, und welcher „derselbe ist gestern und heute und in die Zeitalter.“
Woher aber kommt es, möchte ich fragen, dass vielem diese Ruhe so ganz und gar fremd ist, während sie dieselbe doch unaufhörlich suchen und sich danach sehnen? Die Ursache ist ein anklagendes Gewissen und ein unbefriedigtes Herz. In der vergeblichen Hoffnung, das Gewissen zu beruhigen, unterwirft sich der Mensch den ermüdenden. Gebräuchen religiöser Vorschriften und gesetzlicher Forderungen; und mit der gleichfalls nichtigen Anstrengung, das Herz zu befriedigen, stürzt er sich in den betäubenden Strudel geräuschvoller Vergnügungen. Doch anstatt seinen Zweck zu erreichen, entfernt er sich nicht nur immer weiter von der wahren Quelle, wo allein das Gewissen und das Herz Befriedigung finden kann, sondern wird auch, je ernster und eifriger er auf seiner Bahn vorwärtsschreitet, immer mühseliger und beladener. Wie ganz anders ist es hingegen, wenn man den Blick von dem Menschen weg auf den gepriesenen Heiland richtet, der in diese Welt kam, um dem Menschen das zu geben, was dieser vergeblich durch eigene Anstrengungen zu erlangen sucht – nämlich Frieden für das Gewissen und Ruhe für das Herz.
Diese Gedanken führen uns zu den beiden erhabenen Seiten der gesegneten Mission des Sohnes Gottes. Er kam, um einerseits durch das Opfer seiner selbst die Sünde wegzunehmen und die Errettung des Menschen zu bewirken, sowie andererseits den Vater zu offenbaren und das Herz Gottes in der Vollkommenheit seiner Natur als Liebe vor den Blicken seiner Geschöpfe zu öffnen. Die Erkenntnis des ersteren bewirkt den Frieden des Gewissens, der Genuss des letzteren erfüllt das Herz mit vollkommener Ruhe, deren Süßigkeit kein unbefriedigtes Sehnen darin zurücklässt.
Lieber Leser, kennst du diese Ruhe? Wenn nicht, so wende dich zudem Blut Christi und trinke aus der Lebensquelle mit vollen Zügen. „Er hat Frieden gemacht durch das Blut seines Kreuzes;“ und: „Sein Blut ist wahrhaftig Trank“, der das Gewissen fleckenlos macht, gleich dem unbefleckten Licht Gottes, Dann aber setze dich zu seinen Füßen nieder und lerne von Ihm, wie Er die Liebe des Vaters offenbart, jene Liebe, in welcher Er, während Er als Mensch diese Erde überschritt, stets ruhte, – und du wirst die Ruhe des Herzens kennen, wie Er sie kannte, der da sagt: „Ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde kundtun, auf dass die Liebe, womit du mich geliebt hast, sei in ihnen und ich in ihnen“ (Joh 17).
Das ist Ruhe – Ruhe in Gott, das gegenwärtige Teil des Glaubens, der horchend zu den Füßen dessen sitzt, der da sagt: „Kommt her zu mir; ich werde euch Ruhe geben.“