Botschafter des Heils in Christo 1874
Die Gefühllosigkeit der Sünde
Wie wenig verstehen die meisten Menschen, was die Sünde in den Augen Gottes ist! Wie oft bekennen sie oberflächlich, dass sie Sünder seien, ohne auch nur in: Entferntesten daran zu denken, wie scheußlich vor Gott die Sünde ist, deren Beseitigung nur von Seiten Gottes und zwar nur durch den Tod seines Sohnes geschehen konnte! Wohl mag, während die im Herzen aufsteigenden bösen Gedanken unbeachtet bleiben, ein bloß natürliches Gewissen durch eine böse Handlung beunruhigt werden; aber wie fern liegt oft dem menschlichen Herzen die Frage, warum Christus sterben musste und warum Gott das Böse verbot, das in ihrem Herzen ist! Sie glauben nicht, dass sie durchaus sündig und von Gott getrennt sind. – Als Gott den Menschen aus Eden vertrieb, gab Er ihm als steten Begleiter das Gewissen mit auf den Weg. Und dieses Gewissen, wenn es verletzt ist, ist ein schrecklicher Begleiter, aber in Wahrheit Zugleich auch eine Barmherzigkeit von Seiten Gottes, welcher auf diesem Weg den Menschen zum Verständnis seines Zustandes zu bringen beabsichtigte.
Paulus war nach seinem natürlichen Gewissen tadellos; allem sobald das Licht in seine Seele schien, Zeigte sich die Feindschaft seines Herzens gegen Gott. Jedoch strahlte das Licht, welches sein Herz bloßstellte, von dem Angesicht dessen aus, der das auf seinem Gewissen lastende Gericht Gottes getragen hatte.
Viele sprechen oft in einer Weise vom Himmel, als ob ihr Hineinkommen eine abgemachte, selbstverständliche Sache sei, während sie sich um nichts weniger, als um den Himmel bekümmern. Wie oft hört man sie in Leichtfertigkeit sagen: „Ich hoffe in den Himmel zu kommen“, während sie gegen niemanden gleichgültiger sind, als gegen Christus! Gibt es irgendetwas, wodurch die Gefühllosigkeit des Menschen in Folge der Sünde mehr an den Tag tritt, als seine offenbare Sorglosigkeit über seinen Zustand vor Gott, oder irgendetwas, was seine weite Entfernung von Gott mehr ins Licht stellt, als seine alle Begriffe übersteigende Gefühllosigkeit gegen die himmlischen Dinge und gegen Christus? Adam gab für den Genuss eines Apfels alles preis, was Gott für ihn war; und dieses tut der Sünder jeden Tag. Er gibt fortwährend Gott preis für die Dinge dieser Welt. Irgendeine Ergötzung in dieser Welt hat mehr Macht über ihn, als all die suchende Liebe Gottes, als der ganze Reichtum der Gnade Christi. Gleich dem reichen Jüngling geht er „betrübt hinweg;“ und obwohl ihm sein wahrer Zustand vor Augen gestellt worden, so geht er dennoch „hinweg.“ Aber dadurch liefert er den unzweideutigen Beweis von der tiefen Verdorbenheit seines Herzens, welches von jeder Spur göttlichen Lebens gänzlich entblößt ist. Der Heilige Geist wendet sich zu den Sündern mit der Einladung: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ aber wie wenige achten darauf! Doch wenn sich Gott einer Seele offenbart, so entdeckt sie, dass in ihr, das ist in ihrem Fleisch, die Sünde wohnt, welche sie an und für sich selbst für immer von Gott trennen müsste, die aber Zugleich die Ursache geworden, dass Jesus sich für sie hingegeben und den Zorn Gottes getragen hat, um ihr nach vollbrachtem Werk die ungesuchte Liebe Gottes zu offenbaren. Dann lernt sie verstehen, dass Gott nach seiner großen Barmherzigkeit dazwischengetreten ist und in Betreff ihrer Sünden und ihres Zustandes – der Ursachen ihrer Betrübnis – mit seinem Sohn in Gerechtigkeit gehandelt hat, um seiner Liebe gegen sie freien Lauf zu lassen und in Gnade mit ihr verkehren zu können.
Wie schrecklich ist es deshalb, wenn der Mensch angesichts dieser Tatsachen in der Sünde beharrt, um derentwillen Christus, der Sohn Gottes den Tod geschmeckt hat! Welch ein ernster Gedanke, die Ursache des Todes Christi zu sein! Aber wie wahr dieses ist, so ist es auch ebenso wahr, dass Er gestorben ist, um die Sünde hinweg zu nehmen, so dass der Ihm nahende Sünder sagen kann: „Ich glaube, dass dieser hochgelobte Jesus am Kreuz den Kelch des Zornes getrunken hat, und dass Er jetzt als mein Heiland zur Rechten Gottes sitzt.“ – dieses Bewusstsein allein vermag die Seele mit Vertrauen zu Gott zu erfüllen. Gott erwartet jetzt nichts anders von dem bußfertigen Sünder, als dass er glaube an seine Liebe. „Er hat seines eigenen Sohnes nicht verschont.“ Jesus gab sich selbst für den Sünder hin, damit derselbe, gereinigt von Sünden, für immer in seiner Nähe sein könne. Diese vollkommene Gnade reinigt das Herz von aller Unaufrichtigkeit, so dass derselbe nicht mehr bemüht ist, den wirklichen Zustand zu verbergen, sondern vielmehr in dem Bewusstsein ruht, dass Gott alle Dinge kennt, – ein Bewusstsein, das uns fähig macht, uns selbst zu erkennen und zu verurteilen. Dann kann die Seele, im Besitz der vollkommenen, göttlichen Gunst, mit Aufrichtigkeit sagen: „Ich habe Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus und rühme mich in Hoffnung der Herrlichkeit Gottes.“ Und dieses ist der Weg zur völligen Entwicklung des christlichen Charakters.
O mit welch einem Gott haben wir zu tun! Er empfiehlt uns, den Sündern, seine eigene Liebe, damit wir sie genießen und Frieden mit Ihm haben möchten. Wie glücklich ist das Herz, welches versteht, was Er für uns, die von Natur armen, verlorenen Sünder ist – Er, der sich in triumphierender Gnade über all unser Elend erhob! Und der Heilige Geist ist beschäftigt, Zeugnis abzulegen von dem, was Gott in seiner Güte gegen uns ist, die wir in uns selbst nur Sünder sind. Glückselig alle, welche in Wahrheit verstanden haben, dass das Kreuz Christi allen Ansprüchen seiner Herrlichkeit entsprochen hat! Aber wie schrecklich ist der Zustand derer, die es vorziehen, in der Finsternis, dem Unglauben und der Gefühllosigkeit der Sünde zu verharren!