Botschafter des Heils in Christo 1874
Die Verantwortung
Um ein klares Verständnis bezüglich des Platzes zu haben, welchen der Mensch als eine Kreatur vor Gott einnimmt, ist es nötig, ihn da, wo wir ihn zuerst finden, nämlich in Eden, zu betrachten, und von hier aus die Veränderung, welche mit ihm stattgefunden, sowie den Boden der Verantwortlichkeit, auf welchem er sich jetzt befindet, ins Auge zu fassen.
Zunächst finden wir also den Menschen in Eden, und zwar im Besitz der vollständigen Herrschaft über die Erde mit allem, was darauf und darinnen ist. Er besaß weder die Heiligkeit, noch die Gerechtigkeit, sondern war einfach ein unschuldiges Geschöpf (1. Mo 1,26–29) und als solches im Besitz der Herrschaft. Seine Verantwortlichkeit finden wir jedoch erst in dem ihm gegebenen Gebote (Kap 2,16–17) klar ausgedrückt. Während er in vollem Maß nach den ihm verliehenen Freiheiten in vollkommener Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen handelte und von allem, was Gott für ihn bestimmt hatte, einen freien Gebrauch machte, tat er nicht seinen eigenen Willen, sondern war völlig gehorsam. Ein Kind ist erst dann ungehorsam, wenn sich sein kleiner Wille im Widerspruch gegen den Willen der Eltern erhebt. Die Kreatur hatte einen Willen, welchem alles hienieden unterworfen war; aber dieser Wille mühte rückhaltlos und vollkommen dem höheren Willen unterworfen bleiben. Deshalb war der göttliche Wille der einzig geltende Wille.
Hier aber gab es einen zweifachen Willen; und es war die Frage, welcher Wille hienieden der höchste, und ob der Mensch der Ausdruck des göttlichen, oder des satanischen Willens sein sollte. Wenn die Kreatur ihren eigenen Willen ausübt, so geschieht es in Opposition gegen den Willen Gottes; und da Satan die einzige Kreatur war, welche dem göttlichen Willen entgegenstand, so wurde der Wille des Menschen, indem er sich durch Satan verführen ließ, selbst ein satanischer. Hier handelte es sich nicht um die Macht, sondern um die Anwendung der Macht. Adam war zwar im Besitz der Macht, aber nicht, um sie gegen Gott zu gebrauchen, sondern sie vielmehr dem göttlichen Willen zu unterwerfen. Auch wurde er nicht in ihrer Ausübung verhindert, sondern empfing das Gebot, sie einzuschränken. Seine moralische Vollkommenheit bestand daher weder darin, dass er nach seinem Belieben handelte, noch in der Freiheit, also handeln zu können, sondern im einfachen Gehorsam; und schon dadurch, dass er dem Gedanken, nach eigenem Gutdünken handeln zu können, Raum lieh, fehlte er, und die Sünde war da.
Die Verantwortlichkeit gründet sich immer auf ein bestehendes Verhältnis. Sie lässt sich nicht feststellen, bevor nicht schon das Verhältnis festgestellt ist. So bestand auch bereits das Verhältnis Adams, ehe noch von seiner Verantwortlichkeit die Rede sein konnte; und seine Vollkommenheit erwies sich in einem diesem Verhältnis entsprechenden Wandel. Er war insofern frei, als er, wie sein Fall es bewies, ungehindert und unumschränkt handeln konnte; aber er hatte nicht die Freiheit, nach eigenem Gutdünken handeln und seinen eigenen Willen tun zu können. Da er keine Maschine war, so war nicht seine Macht, wohl aber seine Freiheit, diese Macht gegen den Willen Gottes zu gebrauchen, eingeschränkt. Also nach der Stellung, dem Verhältnis und der Verantwortlichkeit des ersten Menschen in Eden können wir in Übereinstimmung mit der Lehre der Schrift nicht sagen, dass Adam ein moralisch freies Wesen gewesen wäre; denn um dieses zu sein, durfte für ihn der Unterschied zwischen Gutem und Bösem nicht bestehen. Er war geschaffen für das Gute und hatte es nicht zu wählen, und das Böse kannte er nicht und konnte es darum nicht wählen; aber er kannte den Willen Gottes und war gewarnt, diesen Willen bei Todesstrafe nicht zu übertreten. Darin bestand die Prüfung, welche den Beweis lieferte, nicht dass die Kreatur böse sei, sondern dass sie, sich selbst überlassen, nicht bestehen könne. Der Wille Gottes war in jeder Beziehung für den Menschen solange genügend, als dieser Wille der Gegenstand seines Herzens war; allein sobald er ihn aus dem Auge verlor, sank er, gleich Petrus auf dem Wasser. Denn auch diesem Apostel war, nachdem er gesagt: „Herr, wenn du es bist, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Gewässer“ – von Seiten des Herrn durch den Zuruf „Komm!“ der göttliche Wille offenbar geworden. Und solange Petrus mit der göttlichen Person beschäftigt war und auf den in dem Wörtchen: „Komm!“ ausgedrückten Willen Gottes achtete, konnte er auf dem Wasser wandeln. Dieses kleine Wort war so völlig genügend für ihn, dass er kraft desselben, gleich dem Henoch und dem Elias, in den Himmel hätte hinaufsteigen können, wenn es eine Forderung – nach dieser Richtung hin enthalten hätte (vgl. Ps 33,6.9 mit 2. Pet 3,5.7). Ich spreche selbstredend nicht von dem Grundsatz des Glaubens jener Männer, sondern einfach von dem genügenden Worte des göttlichen Willens; denn wir hören erst nach dem Eintritt der Sünde vom Glauben reden.
Der Mensch war in die Gegenwart Gottes gestellt; aber er besaß weder eine göttliche Natur, noch göttliches Leben, welches nur aus jener entspringen kann. „Da seine göttliche Kraft uns alles in Betreff des Lebens und der Frömmigkeit gegeben hat, durch die Erkenntnis dessen, der uns durch Herrlichkeit und Tugend berufen hat, durch welche Er uns die größten und kostbaren Verheißungen gegeben, damit ihr durch diese Teilnehmer der göttlichen Natur werdet, indem ihr entflohen seid dem Verderben, das in der Welt ist, durch die Lust“ (2. Pet 1,3–4). Die Stellung Adams war nicht durch den Glaubender, wie wir später sehen werden, so zu sagen, die Tätigkeit der neuen oder göttlichen Natur ist – bedingt, wie die Stellung Abels und seiner Nachfolger (Heb 11,4 usw.) nach dem Eintritt der Sünde es war, sondern war bezüglich des Willens von dem Gehorsam abhängig. Alles auf der Erde und im Meer war dem Willen der Kreatur unterworfen; aber dieser Wille durfte nur der Ausdruck des göttlichen Willens sein. Ich wiederhole es daher, dass es in Eden zwei Willen gab; und der verbotene Baum war als Prüfstein augenscheinlich der Schlüssel zu der Stellung Adams, indem dadurch die Frage erhoben wurde, ob der Wille Gottes oder der des Menschen der höchste sei. Wir erblicken also in dem Menschen in Eden eine Kreatur, die weder Gerechtigkeit noch Heiligkeit und, in Ermangelung einer göttlichen Natur, weder göttliches Leben noch Glauben besaß, sondern die einfach unschuldig war und, im Besitz der Segnungen und mit Macht ausgerüstet, die Herrschaft über alles unter dem Himmel hatte, die aber selbst – und durch sie alles unter dem Himmel – unter der Herrschaft Gottes stand und zwar durch einfachen Gehorsam gegen den Willen Gottes, ausgedrückt in den Worten: „Von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben“ (1. Mo 2,17). Dann lesen wir weiter: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei;“ und es wurde ihm eine „Hilfe“ gegeben, welche seine Freude und Verantwortlichkeit mit ihm teilen sollte. Doch nach dem unerforschlichen Ratschluss Gottes diente diese „Hilfe“ dem ersten Menschen zum Verderben, wurde aber dadurch Zugleich die Gelegenheit zur Entfaltung der noch tieferen Ratschlüsse Gottes in der Erlösung und verlegte den Ausgangspunkt der Handlungen Gottes gegenüber dem Menschen von dem Boden der Verantwortlichkeit der Kreatur auf den Boden der unumschränkten Gnade. Und gerade in ihr, durch welche der Fall herbeigeführt, die Sünde eingedrungen und alles unter die Herrschaft des Verderbnisses gebracht war, begann die Hoffnung zukünftiger Segnungen zu dämmern. Augenscheinlich zeigte sich Schwachheit in der Stellung Adams; denn er konnte nicht selbstständig sein und bedurfte einer „Hilfe.“ Aber offenbar diente diese „Hilfe“ – das Zeugnis der Schwachheit Adams – zur Einführung weit erhabener Segnungen, als diejenigen, welche Adam damals besaß, so dass Eva Zugleich der Kanal des Verderbens und der Erlösung, des Fluches und des Segens, der Qualen der Hölle und der Herrlichkeiten des Himmels wurde – der Kanal irdischen Glanzes bis aufwärts zu ewiger Herrlichkeit, sowie auch die Quelle irdischen Kummers und Wehes bis hinab zur ewigen Verzweiflung. Wie wunderbar!
Hier war also Adams schwächste Seite, und eben hier geschah der Angriff. Satan schaute weiter als Adam; er strebte nach dem Umsturz der Herrschaft Gottes auf der Erde und suchte sich der Segnungen Adams zu bemächtigen. Und wie bald erreichte er seinen Zweck! Doch Gott schaute weiter als Satan und hatte seine Ratschlüsse längst schon gefasst, bevor Satan seine finsteren Pläne in Ausführung brachte. Gepriesen sei sein herrlicher Name! Der Untergang der paradiesischen Herrlichkeit des ersten Menschen war der Aufgang der ewigen, wolkenlosen Herrlichkeit des zweiten Menschen. Nicht dass wir uns über den Fall freuen können; o nein, derselbe muss uns vielmehr tief in den Staub beugen; aber wir freuen uns in Ihm, der hoch erhaben über dem Verderben steht.
Kehren wir indes wieder zu dem Menschen in Eden zurück. Wir haben seine Schwachheit und den Kanal seines Verderbens gesehen. Lasst uns jetzt sehen, wo der Wendepunkt seines Lebens ist, wo seine Unschuld endet und seine Sünde beginnt. „Und die Schlange war listiger, denn alles Getier des Feldes, das Jehova Gott gemacht hatte; und sie sprach zu dem Weib: Ist es wirklich so, dass Gott gesagt hat: Ihr sollt nicht essen von jeglichem Baum des Gartens?“ (1. Mo 3,1) Hier haben wir die kühne Einflüsterung, dass eine Liebe, die etwas verboten, nicht vollkommen sein könne, und dass es keine volle Glückseligkeit sei, solange die Kreatur noch ein Verlangen habe, dessen Befriedigung untersagt werde. Durch solche Trugschlüsse wurde das Weib verführt; und obwohl ihre Antwort den Willen Gottes zu berücksichtigen scheint, so verrät dieselbe dennoch eine Geringschätzung dieses Willens, indem sie ihre eigenen Gedanken hinzufügt; denn die Worte: „und ihn nicht anrühren“, waren nicht der Ausdruck des göttlichen Willens. Wenn sie fähig war, etwas hinzuzufügen, so war sie auch fähig, etwas zu verwerfen; und somit war sie vorbereitet für den zweiten Schritt. „Und die Schlange sprach zu dem Weib: Ihr werdet nicht des Todes sterben, sondern Gott weiß, welches Tages ihr davon esst, so werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gutes und Böses.“ Jetzt war jede Schranke niedergerissen; der Wille Gottes ist in ihrem Herzen bei Seite gesetzt; und die Leidenschaft der Lust nimmt mit völliger Macht Besitz von demselben. „Und das Weib sah, dass der Baum gut zur Speise, und dass er eine Lust für die Augen, und der Baum lieblich wäre, Einsicht zu geben; und sie nahm von seiner Frucht und aß, und gab auch ihrem Mann mit ihr, und er aß.“ – Hier ist der Wendepunkt in dem Leben des ersten Menschen. Wenn der Wille Gottes verworfen ist, dann ist der Wille des Menschen der höchste auf Erden; und dieses wäre in der Tat genug gewesen, um Gott gleich zu sein. Aber der Mensch war zu töricht, um zu bedenken, dass durch die Verwerfung des Willens Gottes, der Wille Satans geltend gemacht, und dass er durch sein eigenwilliges Handeln in Opposition gegen den Willen Gottes ein Sklave Satans geworden sei. Und so ist es gekommen, dass das „Bild Gottes“ durch einen Fall verunstaltet und das „Gleichnis“ Gottes, bezüglich der Herrschaft des Menschen als Haupt, der Ausdruck des eigenen Ichs und des satanischen Willens geworden ist. Deshalb ist der „Wille des Fleisches“, oder die „Gesinnung des Fleisches Feindschaft gegen Gott; denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht“ (Röm 8,7). „Und Adam lebte hundert und dreißig Jahre und zeugte einen Sohn in seinem Gleichnis, nach seinem Bild“ (1. Mo 5,3). So ist es Satan gelungen, den Willen Gottes durch den Willen der Kreatur zu verdrängen; und die Kreatur ist durch eigene Wahl und eigenen Willen ein Sklave des Teufels geworden und zeugt ihre Nachkommenschaft nach ihrem Gleichnis und ihrem Bild.
Wir haben also zunächst gesehen, dass die Verantwortlichkeit Adams darin bestand, dem Verhältnis der Unschuld und der Segnung in der Gegenwart Gottes gemäß, in vollkommenem Gehorsam zu wandeln; und dass zweitens die „Hilfe“, welche Gott ihm nach seiner Weisheit zur Seite stellte, der Kanal sowohl seines Verderbens, als auch seiner Erlösung sein sollte; denn des „Weibes Samen sollte der Schlange den Kopf zermalmen.“ Und drittens war der Wendepunkt in seiner Stellung, dass sein Wille, indem derselbe sich durch die Verführung Satans über den Willen Gottes erhob, selbst satanisch und er als Mensch moralisch nach seinem Willen ein Sklave des Teufels wurde, während er seine Freiheit – eine freie, aber immerhin böse Tätigkeit – fern von Gott unter dem Urteil des Todes behauptet. Aber dieser Wendepunkt erscheint uns noch auffälliger, wenn wir unseren Blick auf den zweiten Menschen richten, welcher im Gegensatz zu dem ersten sagte: „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun;“ und: „Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“ – Nichts tritt klarer in den Evangelien hervor, als dieser eine Punkt, nämlich der vollkommene Gehorsam des „zweiten Menschen.“ Er hatte keinen eigenen Willen und suchte nichts für sich selbst; alles wurde Ihm von oben gegeben (vgl. Joh 5,19–20.31; 8,26.29; 12,50; 15,10). Auf demselben moralischen Platze, auf welchem der erste Mensch gefehlt hatte, triumphierte der zweite Mensch; und diese Tatsache tritt uns in der Versuchungsgeschichte der Wüste in auffälliger Weise vor Augen. Satan begegnete dem Herrn auf demselben Boden, auf welchem Adam fiel, indem er Ihn zu verleiten suchte, gleich jenem seinen eigenen Willen zu tun und, als Ihn hungerte, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Aber der Herr, als der „zweite Mensch“, lebte nicht vom Brot allein, sondern von jeglichem Wort Gottes. Hier gab es keine Hintergedanken, keine Geringschätzung des göttlichen Willens, welcher letzterer seinen Ausdruck in den Worten fand: „Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jeglichem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht“ (Mt 4,4). Er konnte sagen: „Der mich gesandt hat, ist mit mir; Er hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit tue, was Ihm wohl gefällt“ (Joh 8,29). Alles, was von dem ersten Menschen in seinem besten Zustand vor seinem Fall gesagt werden konnte, war nach der Schätzung Gottes in den Worten ausgedrückt: „Sehr gut!“ – wenn Gott aber seiner Würdigung bezüglich des „zweiten Menschen“ Ausdruck geben wollte, so konnte dieses nur aus dem geöffneten Himmel durch den Ruf des Vaterherzens geschehen: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe.“
Unsere ersten Eltern befanden sich, wie bereits bemerkt, in Eden – dem Garten der Wonne Gottes. Sie waren nackt und schämten sich nicht; aber nach dem Eintritt Satans wurden in Folge ihres Ungehorsams beider Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren. Beschämt zogen sie sich in die Mitte der Bäume des Gartens zurück; denn sie waren nicht länger passend für die Wonne Gottes; und sofort begannen sie, das Böse zu heilen, indem sie mit zusammen geflochtenen Feigenblättern ihre Blöße zu bedecken suchten.
Dieser neue Zustand der Dinge besteht einfach darin, dass Adam selbst aus Eden verlangt, weil er sich unfähig fühlt, länger darin bleiben zu können; und er kann nimmer wieder dahin zurückverlangen. Er ist „weise“ geworden und kennt das Gute und Böse. Das Gute kannte er schon vorher, aber nun kennt er auch das Böse; und diese Erkenntnis hat ihn weise gemacht. Er hat Erkenntnis erlangt, und „Erkenntnis bläht auf.“ Er hat eine Erkenntnis und Weisheit erlangt, die er nimmer wieder verlieren, und sich in einen Zustand gebracht, von welchem er sich nimmer wieder befreien kann. Er kann weder seine verlorene Unschuld zurückrufen, noch seiner nun erlangten Erkenntnis sich entledigen oder seine Sünde ungeschehen machen; und er ist nicht mehr passend für die Wonne oder das Wohlgefallen Gottes. „Da schickte ihn Jehova Gott aus dem Garten Eden.“ Gott hatte ihn passend gemacht für die Segnungen in seiner Gegenwart; er selbst aber hat sich passend gemacht für Kummer, Elend und Zorn, wovon er sich nimmer selbst wieder befreien kann. Ja, was noch schlimmer ist, er hat auch jedes Verlangen, befreit zu werden, verloren; denn sobald seine Augen über seinen Zustand geöffnet sind, gebraucht er – anstatt sich zu Gott, der alleinigen Hilfsquelle, zu wenden – seine neu erlangte Erkenntnis und Weisheit, um sich selbst zu helfen. Die Verantwortlichkeit Adams nach dem Fall bestand nicht darin, das Verlorene wieder zu erlangen, wozu ihm die Macht fehlte, und welches Gott durch ein „stammendes Schwert“ unmöglich gemacht hatte, sondern darin, Gott anzuerkennen und seinen Platz als Sünder einzunehmen, bis Gott für ihn ins Mittel trat. Wir haben hier also zwei Tatsachen, nämlich dass der Mensch ein Sünder ist, und dass seine einzig wahren Hilfsquellen in Gott sind. Aber ach! seit er weise geworden ist, glaubt er seine Hilfsquellen in sich selbst finden zu können.
Wenn Gott Barmherzigkeit erweisen kann, so ist es in Bezug auf die Sünde; und in der Tat, Er kann für einen Sünder etwas Besseres ins Leben rufen. Es handelt sich dabei keineswegs um eine Wiederherstellung in Eden; denn Gott verbessert nie das, was der Mensch verdorben hat; sondern Er schafft etwas Besseres um seiner selbst willen und bietet dem Menschen sein eigenes Heilmittel an. Er versorgte denselben in seinem neuen Zustand mit dem, was für ihn ein Unterpfand und Vorbild zukünftiger Segnungen war. „Und Jehova Gott machte Adam und seinem Weib Röcke von Fell und bekleidete sie“ (1. Mo 3,21). Es ist sehr gesegnet, diese Grundwahrheit zu verstehen und klar im Bewusstsein zu haben, dass Gott nicht allein für den unschuldigen Menschen, sondern noch vielmehr für den verlorenen Sünder die einzig wahre Hilfsquelle ist. Gott war genug, völlig genug für den unschuldigen Menschen; und Er ist auch völlig genug für den verlorenen, ruinierten Sünder. Die köstliche Wahrheit wird zwar als eine Lehre vielfach anerkannt, aber ach! in welch geringem Grad verwirklicht. Es handelte sich keineswegs um die Frage, was der Mensch – sei es für sich selbst oder für Gott – zu tun vermöge, sondern einfach um die Anerkennung, dass Gott, voll Barmherzigkeit in Bezug auf die Sünde, etwas für den Sünder tun könne. Die Verantwortlichkeit des gefallenen Menschen besteht also, mit einem Wort, einfach darin, seinen Platz als Sünder und Gott als den Geber anzuerkennen und auf Ihn zu warten. Dieses ist Glauben, sowie ein Grundsatz, welcher uns besonders in der Geschichte Kains und Abels klar vor Augen gestellt wird (Kap 4). Zwar zollt Kam dem Jehova Gott eine gewisse Anerkennung, indem er ein Opfer darbringt; aber war kein Sündopfer, und darum kann Gott den Opfernden nicht anerkennen. „Aber auf Kam und sein Opfer blickte Er nicht“ (V 5). Die Verwerfung des Opfers war Zugleich eine Verwerfung des opfernden Kains. Indem er Gott durch das Opfer der Früchte des Landes anerkennen will, weigert er sich, seinen eigenen Platz als Sünder einzunehmen; und eben dieses war die Ursache seiner Verwerfung. „Wenn du nicht wohltust, so lagert ein Sündopfer vor der Tür;“ (V 7) d. h. solch ein Sündopfer, wie Abel dargebracht, und wodurch auch dir der Weg zur Annahme geöffnet ist, befindet sich in deiner Nähe. – Gott bewies hier Offenbar Geduld und Nachsicht gegen Kain; aber dieser hätte kein Herz dafür. Es gab Vergebung und überströmende Gnade bei Gott; aber Kain begehrte weder das eine, noch das andere; er wünschte zwar, ein Bekenner zu sein; aber nach Gott selbst hatte er kein Bedürfnis. Er mochte sehr freigiebig und religiös in der Darbringung seines Opfers sein und mit großer Andacht dabei zu Werke gehen; aber dieses alles stammte aus dem Fleisch und konnte deshalb Gott nicht gefallen. Und nicht allein dieses. Kam beschimpfte auch die Heiligkeit Gottes, indem er durch die Darbringung der Resultate seiner eigenen Wirksamkeit die Früchte eines Landes opferte, auf welchem der Fluch ruhte, und mithin das Dasein der Sünde leugnete. Er maßte sich an, Gott durch das zu gefallen, was ihm zuerst selbst gefallen hatte. Das ist die Gesinnung der Welt, welche hier ihren Anfang nahm (1. Joh 2,15–17). Man will ein Bekenner Gottes sein, aber man will nicht den eigenen wahren Platz und Charakter vor Gott bekennen.
In Abel erblicken wir einen völligen Gegensatz; er ist der von der Bibel erwähnte erste Mann des Glaubens (1. Mo 4,4; Heb 11,4). Abel brachte sein Opfer, nicht um sich selbst, sondern Gott zu gefallen. Er kam mit den Erstlingen der Herde, um sie als ein Opfer darzubringen; und dadurch legte er erstens ein Zeugnis ab, dass er Gott in seinem wahren Charakter anerkennt, und zweitens, dass er durch die Darbringung eines Sündopfers seinen eigenen Platz vor Gott einnimmt, und endlich drittens, dass er in der Art und Weise seiner Darbringung die Worte bestätigt: „Ohne Blutvergießung ist keine Vergebung.“ – „Und Jehova blickte auf Abel und sein Opfer; aber auf Kam und sein Opfer blickte Er nicht.“
Geliebter Leser! Gewahrst du diesen Unterschied zwischen der Anmaßung Kains und dem Glauben Abels? Die Stellung des ersteren war eine eigenwillige, selbstgerechte und gesetzlose; die Stellung des letzteren bildet gerade das Gegenteil davon. Bei Abel finden wir kein Vertrauen auf sich selbst oder auf Fleisch, keinen Eigenwillen, keine Selbstgefälligkeit, sondern er nimmt als ein unter dem Gericht stehender Sünder seinen Platz ein. Er beugt sich unter Gott in der völligen Anerkennung dessen, was sich für die Heiligkeit Gottes geziemte. Und dieses war der Platz der Segnung in der Nähe des Herzens Gottes, indem er bald in der Gegenwart dessen Eingang fand, dessen Herz so erhaben befriedigt worden war durch den Glauben, welcher Ihn, den Herrn, so hoch geehrt hat. Das Opfer Abels zeugte von dem Glauben, das Opfer Kains hingegen von dem Unglauben des Darbringers, sowie die Mordtat des letzteren von dessen Gesetzlosigkeit. In Abel erblicken wir also den Glauben, in Kain die Gesetzlosigkeit, den Geist „dieses gegenwärtigen bösen Zeitlaufs.“