Botschafter des Heils in Christo 1874
Unter Gnade
Es geht oft lange Zeit darüber hin, ehe man völlig versteht, was es heißt unter Gnade zu sein. Und auch selbst dann, wenn wir diese Lehre mit unserem Verstand klar aufgefasst haben, ist für uns nichts so schwer, als uns in der Gnade zu halten. Die Gnade ist nicht nur eine dem Sünder zu Teil gewordene Barmherzigkeit, die ihn gerettet und seine Sünden hinweggenommen hat, sondern sie ist eine Macht, unter welche er gestellt, und demzufolge nicht allein von seinen Sünden, sondern auch von der Sünde befreit ist. Er ist nicht nur von den Folgen der Sünde bezüglich des zukünftigen Gerichts, sondern auch von der Sünde selbst, als einer Natur gerettet, welche ihn in einem Zustand der Knechtschaft gefangen hielt. „Die Sünde wird nicht über euch herrschen; denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ (Röm 6,14). Der Apostel spricht hier zu Gläubigen aus den Nationen, welche nimmer unter dem Gesetz waren, sondern vor ihrer Bekehrung einfach gesetzlos, ihrer sündigen Natur gemäß, in der Entfernung von Gott lebten. Und auch nach ihrer Bekehrung wurden sie nicht in solch ein religiöses System eingeführt, in welchem sich die Juden befanden, und welches diese, obwohl es sie äußerlich von den Nationen trennte, dennoch ebenso, ihrem Herzenszustand nach, unter der Macht der Sünde ließ, unter welcher auch die Nationen gefangen lagen.
Unter dem jüdischen System gab es zwar Opfer für die Sünden und mithin eine Vergebung derselben; aber in Betreff der Sünde selbst, als einer Natur, gab es keine Befreiung. Zwar war ein Gesetz zu dem Zweck gegeben worden, um dadurch, wenn es möglich gewesen, der Sünde einen. Zügel anzulegen und die Wirksamkeit derselben zu verhindern; aber die ganze Geschichte der Juden bis zum Kreuz des Herrn hin ist die Geschichte einer Natur, welche zur Genüge – besonders bei Gelegenheit des Kreuzes – gezeigt hat, dass sie in keiner Weise durch irgendein ihr auferlegtes Gesetz im Zaum zu halten ist. Überdies wurden die Opfer selbst, abgesehen von ihrer vorbildlichen Tragweite, durch die Übertretung des Gesetzes wirkungslos, weil der Fluch des Gesetzes, nachdem dasselbe gebrochen, den Übertreter unvermeidlich beseitigen musste, wie wir dieses in dem gegenwärtigen Zustand Israels klarsehen können. Die Opfer berührten, wie gesagt, die Frage bezüglich der Sünden, waren aber keineswegs zur Wegnahme der Sünde, als einer Natur, gegeben, obwohl die Beobachtung des Gesetzes zu dem Zweck geboten war, um die Wirksamkeit der Sünde zu verhindern. Da nun aber dieser Zweck nicht erreicht wurde, so musste notwendigerweise die Gerechtigkeit Gottes den Sünder richten; und alle die vorhergegangenen Opfer erwiesen sich als nutzlos. Ein religiöses System, bei welchem die Segnung durch die Beobachtung des Gesetzes bedingt ist, ist für den Menschen als Sünder – sei er Jude, oder Heide – nicht allein nutzlos, sondern auch nachteilig, weil es ihn unter eine umso größere Verantwortlichkeit stellt, ohne ihm zu der Beobachtung die nötige Kraft zu geben. Ja, noch schlimmer als dieses – es verhärtet ihn in der Sünde, indem die Kraft derselben durch die Anlegung eines Zügels umso mehr hervorgerufen und der Mensch dadurch noch vollständiger unter ihre Macht gebracht wird. Nach der Weisheit Gottes war das Gesetz dem Menschen nicht als ein Grund der Segnung, sondern als ein Mittel gegeben, um seinen wahren Zustand vor Gott ins Licht zu stellen und das Bedürfnis nach Erlösung in ihm zu erwecken. Das Gesetz gab weder das Leben, noch die Gerechtigkeit, sondern forderte die Gerechtigkeit, kraft deren Erfüllung man das Leben genießen konnte. „Der, welcher diese Dinge getan hat, wird durch sie leben“ (Gal 3,12). Das Gesetz ist für den Menschen als Sünder in seiner Natur die „Kraft der Sünde“ (1. Kor 15,56), während es für eine lebendig gemachte Seele die „Erkenntnis der Sünde“ bewirkt, wie der Apostel sagt: „Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz. Denn auch von der Lust hätte ich nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Lass dich nicht gelüsten“ (Röm 7,7). Die Sünde wird durch das Gesetz „überaus sündig.“
Das Opfer Christi auf dem Kreuz ist der Ausgangspunkt der Gnade und die feierliche Einführung des Christentums, indem wir durch unser Teilnehmen an dem Tod Christi unter die Gnade gestellt sind. Durch die Taufe im Namen Jesu sind wir in seinen Tod getauft und also mit Ihm, der aus den Toten auferstanden und in Macht zur Rechten Gottes erhöht ist, in Verbindung gebracht. „Die Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (Röm 5,21). Wir können nur unter der Gnade sein, indem wir in Christus Jesus sind; und wir sind nur in Christus in Gnaden durch die Teilnahme an seinem Tod. „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein; wenn es aber stirbt, so bringt es viele Frucht“ (Joh 12,24). Nicht nur erwies sich das Judentum mit seinen Opfern und Satzungen nutzlos für den Menschen, sondern sogar die Menschwerdung Christi konnte ihm an und für sich nichts nützen und ihn ebenso wenig zu Gott führen, als das Judentum. Ein lebendiger und im Fleisch gekommener Christus blieb allein. Um andere mit sich in die Segnungen einzuführen, musste Er sterben, wie Petrus sagt: „Der Gerechte für die Ungerechten, auf dass Er uns zu Gott führe“ (1. Pet 3,18). Nicht so sehr die Menschwerdung Christi, als vielmehr die Wahrheit des Kreuzes war für die Juden der Stein des Anstoßes. Wir lesen, dass die Juden unter einander stritten und sagten: „Wie kann dieser uns das Fleisch zu essen geben? Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht esst das Fleisch des Sohnes des Menschen und trinkt sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch selbst. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am letzten Tage“ (Joh 6,52–54).
Wir können in unseren Tagen, wo eine fleischliche Formreligion ihr Haupt zu erneutem Widerstände gegen Christus erhebt, nicht entschieden genug auf der Grundwahrheit bestehen, dass wir nur durch die Teilnahme an dem Tod Christi in den Besitz der Segnungen oder, mit anderen Worten, „unter Gnade“ gelangen können. Außerhalb der Gnade ist alles unter dem Gericht; denn dort „herrscht die Sünde zum Tod.“ Unter die Gnade gebracht, befinden wir uns außerhalb der Sünde und ihrer Folgen. Das ist wehr, als Vergebung der Sünden zu haben; und wir sehen hier den offenbaren Gegensatz zwischen dem Christentum und dem Judentum, welches letztere wohl mit einer teilweisen Sündenvergebung bekannt war, sich aber vollständig unter der Knechtschaft der Sünde befand, trotzdem demselben das Gesetz als eine Schranke gegen die Sünde gegeben war. Die Gnade führt uns eine doppelte Segnung zu – sowohl die Befreiung von der Sünde, als einer Natur, als auch die Vergebung der Sünden, als den Früchten dieser Natur; sie ist mithin, bezüglich der Sünde und der Sünden, der Ausfluss der doppelten Tragweite des Opfers Christi. Christus hat durch seinen Tod auf dem Kreuz sowohl die Sünde hinweggenommen, als auch die Sünden derer, welche glauben, getragen; denn wenn Er nur unsere Sünden getragen und beseitigt hätte, so würde Er uns dadurch praktisch auf denselben Boden gestellt haben, auf welchen die Opfer des Judentums die Juden stellten. Die Natur der Sünde wäre geblieben und somit die Wahl, entweder unser ganzes Leben in Gesetzlosigkeit zuzubringen, damit die Gnade überströme, oder sich unter den Zügel gesetzlicher Vorschriften zu stellen, dessen Resultat die reine Knechtschaft der Sünde gewesen wäre. Das 6. Kapitel des Römerbriefes begegnet dem ersten dieser beiden Zustände, in welchen die Gläubigen aus den Nationen, da sie nie unter Gesetz waren, hinein zu fallen in Gefahr standen, während der letzte Zustand mehr den Gläubigen aus den Juden drohte, wovon das 7. Kapitel uns ein Gemälde liefert. In beiden Fällen ist die Sünde herrschend, obwohl die Möglichkeit der Vergebung vorausgesetzt ist.
Wir bedürfen also nicht bloß der Vergebung der Sünden, sondern auch der Befreiung von der Sünde selbst. Und diese haben wir durch das Kreuz. „Denn dass Er gestorben ist – Er ist ein für alle Mal der Sünde gestorben“ (Röm 6,10); und wiederum: „Das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem Er seinen eigenen Sohn in Gleichheit des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleisch verurteilte“ (Röm 8,3). Die Sünde selbst hat in dem Tod Christi ihr Ende gefunden; und also besitzen wir durch die Gnade im Gegensatz zum Judentum beides – die Befreiung von der Sünde und die Vergebung der Sünden. Die erste dieser gesegneten Wahrheiten ist, so zu sagen, die Grundlage des Christentums, und die zweite derselben die daraus entspringende notwendige Folge. Der Gläubige wandelt, nachdem er bildlich durch die Taufe an dem Tod Christi Teil genommen, in Neuheit des Lebens. „indem wir dieses wissen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt ist, auf dass der Leib der Sünde abgetan sei, dass wir der Sünde nicht mehr dienen; denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde“ (Röm 6,6–7). Der Gläubige ist mit Christus dem ganzen Zustand des Lebens im Fleisch, in welchem er sich als ein Kind Adams befand, abgestorben. Solange er im Fleisch war, war er moralisch lebendig unter dem Gesetz; „denn das Gesetz herrscht über den Menschen, solange er lebt.“ Aber gestorben mit Christus, ist er nicht nur der Sünde gestorben, sondern auch „getötet worden dem Gesetz durch den Leib des Christus“, so dass er eben sowohl dem Gesetz, als auch der Sünde gestorben ist. Der Apostel sagt: „Die Sünde wird nicht über euch herrschen; denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ (Röm 6,14); und: „Wenn jemand in Christus ist – eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden. Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesus Christus“ (2. Kor 5,17–18). Dieses ist der Zustand jedes wahren Gläubigen und das Ergebnis des Werkes Gottes in unumschränkter Gnade. Es handelt sich hier nicht um Erfahrungen, sondern um eine Tatsache, die wahr ist und wahr bleibt. Wir wandeln durch Glauben und nicht durch Gefühle, wie wir auch gerettet sind durch Glauben und nicht durch Gefühle.
Wir werden nun aufgefordert, uns für tot zu halten und „festzustehen in der Gnade unseres Herrn Jesus Christus.“ Was auch unsere Erfahrungen sein mögen – wir sind, als Gläubige in Christus, mit Ihm gestorben und auferstanden, und Gnade, nichts als Gnade ist es, in der wir vor Gott stehen. Und indem wir also in der Gnade wandeln, haben wir nicht nur ein durch das Blut Christi gereinigtes Gewissen, die Vergebung der Sünden, sondern wandeln auch in praktischer Heiligkeit außer der Macht der Sünde; und die Gnade herrscht sowohl in praktischer Gerechtigkeit, als auch in unserer praktischen Stellung vor Gott. Möge der Gott aller Gnade, mit dem wir es zu tun haben, uns, die Gläubigen in Christus, stets in dem Bewusstsein dieser Gnade erhalten, damit wir völlig verstehen mögen, was es heißt, nicht „unter Gesetz“, sondern „unter Gnade“ zu sein.