Botschafter des Heils in Christo 1874
Bist du wiedergeboren?
Es gibt zwei Familien auf Erden; die eine Familie besteht aus den Kindern des Zorns, die andere aus solchen, welche für immer gerechtfertigt und eins gemacht sind mit dem verherrlichten Menschen Christus Jesus, der sagen kann: „Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat“ (Heb 2,13). Jedes Kind Adams hat die gefallene und durchaus sündige Natur Adams; und jedes Kind Gottes hat die Natur Gottes, welcher nicht sündigen kann.
Wie deutlich indes das Wort Gottes den Unterschied zwischen diesen beiden Familien auch darstellen mag, so weiß doch die große Mehrzahl der bekennenden Christen nicht im Geringsten, was es heißt, wiedergeboren zu sein. Sie leben gedankenlos in den Tag hinein, indem etliche der Lüge, als sei bei der Taufe eines Säuglings dessen Wiedergeburt vollzogen, Glauben schenken, oder andere in ihrer Blindheit meinen, die Natur Adams sei ebenso nicht schlecht, dass sie nicht durch Erziehung und Veredlung gut und heilig gemacht werden könnte. Doch wir wissen nur zu gut, dass der Mensch unter allen Umständen als ein gefallener, verderbter Sünder aufwächst.
Allein es gibt noch eine andere Klasse, welche die Notwendigkeit einer Bekehrung und Wiedergeburt einräumt, aber darunter nichts anders versteht, als eine Veränderung oder Umwandlung der alten, verdorbenen Natur Adams, welche die Heilige Schrift als das „Fleisch“ bezeichnet, in eine reine und heilige. Natur. Wiederum sind viele von Jugend auf belehrt worden, um ein „neues Herz“ zu beten; und ihre Gebete, um bekehrt zu werden, lassen es in aller Deutlichkeit durchblicken, dass sie die Umwandlung der alten Natur Adams in die neue Natur Christi erwarten. Augenscheinlich sind solche Beter aus ihrem Sündenschlaf aufgewacht und haben angefangen, sich nach dem Weg des Heils umzusehen. Aber nimmer wird ihr Gebet eine Erhörung finden, sondern, da sie in Wahrheit ihren gänzlich verlorenen Zustand nicht erkennen, die Unruhe ihrer Seele nur vermehren. Eine solche Art von Bekehrung findet sich in der ganzen Heiligen Schrift nicht. Sie sagt uns an keiner Stelle, dass das Fleisch, d. i. unsere gefallene Natur Adams, sich umwandeln oder verändern werde, sondern vielmehr, dass wir erst bei der Wiederkunft Christi völlig davon befreit werden; denn Paulus sagt in Philipper 3,20–21: „Denn unser Wandel ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit seines Leibes der Herrlichkeit.“ Bevor aber dieses große und herrliche Ereignis stattfindet, wird keine Umwandlung des Fleisches oder der alten Natur Adams zu suchen sein. Wir alle, die wir durch die Gnade wiedergeboren, die wir Kinder Gottes sind, die wir den „Geist der Sohnschaft“ haben und mit Christus vereint sind, müssen durch den Mund des Apostels sagen: „Auch wir selbst, die wir die Erstlinge des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst, erwartend die Sohnschaft: die Erlösung unseres Leibes“ (Röm 8,23). Es liegt daher außer allem Zweifel, dass eine durch den Heiligen Geist wirklich erweckte Seele durch eine solch falsche Anschauung über das, was Bekehrung ist, während des ganzen Lebens in Unruhe und Knechtschaft gehalten wird. Freilich wird jeder, der an Jesus glaubt, mit allem Verlangen beten und wünschen, dass er von der bösen Natur Adams, welche eine stete Plage seines Herzens ist, völlig befreit werde; und es ist ganz gewiss, dass dieses bei der Ankunft Christi stattfinden wird. „Wir wissen, dass, wenn Er offenbart ist, wir Ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie Er ist.“ Der Glaube triumphiert in dieser gesegneten Voraussicht.
Aber jetzt ist der durch den Geist erweckten Seele gesagt worden, dass die alte schlechte Natur durch die Bekehrung umgewandelt und heilig gemacht werde. Vielleicht fühlt sie sich eine Zeitlang sehr glücklich; aber nach und nach entdeckt sie immer wieder die alte Natur mit ihren Lüsten und Leidenschaften in sich, und, geleitet durch die oben bezeichnete falsche Anschauung von Bekehrung, wird sie gänzlich in Verwirrung gebracht und richtet schließlich alles Ernstes die Frage an sich, ob sie überhaupt wohl bekehrt sei. Es ist kaum zu beschreiben, in welcher Trostlosigkeit sich eine solche Seele befindet; denn gerade wenn wir wiedergeboren sind, erkennen wir, was die Plage und Schändlichkeit der Sünde im Fleisch ist. „Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist;“ und wiederum: „Wandelt im Geist, und ihr werdet die Lüfte des Fleisches nicht vollbringen.“ Liefert uns dieses nicht den deutlichsten Beweis, dass der Wiedergeborene immer noch eine böse Natur oder das Fleisch in sich hat, und dass er, wenn nicht der Heilige Geist in ihm wohnte, auch jetzt noch die scheußlichsten Lüste vollbringen würde? Der Herr möge jeden Gläubigen zur Wachsamkeit leiten!
Was ist nun die Wiedergeburt? Sie ist ganz von Gott – eine neue Schöpfung. „Wenn jemand in Christus ist – eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden. Alles aber von Gott.“ – Beachten wir es wohl: „Alles aber von Gott.“ Nichts ist hier von dem armen, gefallenen und verdorbenen Menschen; denn von den Kindern Gottes, von denen, die an seinen Namen glauben, lesen wir: „Welche nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.“ So wie Gott im Anfang bei der Schöpfung dieser Welt dieselbe nicht aus alten Materialien machte oder umwandelte, so ist auch die neue Schöpfung nicht aus einer Umgestaltung oder Reinigung der alten verdorbenen menschlichen Natur hervorgegangen. Wir werden dieses nirgends in der Heiligen Schrift finden.
Christus ist, nachdem Er das Werk der Erlösung vollbracht hatte, aus den Toten auferstanden und darum das Haupt der neuen Schöpfung. Der Geist Gottes beginnt nicht mit dem, was in dem Sünder ist, sondern teilt das mit, was ganz außerhalb des Sünders ist, und zwar dasselbe Auferstehungsleben und die Natur des Christus, der aus den Toten auferstanden ist und zur Rechten Gottes sitzt; und mithin sind wir „von oben geboren.“ O welch ein Leben! Sicher mühte Christus noch einmal im Himmel sterben, bevor dieses Auferstehungsleben in einem einzigen Gläubigen zu Grund gerichtet werden könnte. Weil Er lebt, leben auch wir. Es kann nicht anders sein; denn in Ihm und in uns ist ein und dasselbe Leben. Und welch eine Natur? Wir besitzen die neue Natur des aus den Toten auferstandenen Menschen Christus Jesus. „Wie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt“ (1. Joh 4,17). Wie wunderbar ist diese Stellung gegenüber der alten Natur Adams, gegenüber dem als „tot“ betrachteten, alten Menschen! „Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.“ Vor Gott existiert die alte Natur nicht mehr; alles ist neu in Christus, lebendig gemacht mit Christus, auferstanden mit Christus, mitgesetzt in die himmlischen Örter in Christus (Eph 2,6). Wir haben nicht zu warten, bis der leibliche Tod der alten Natur ein Ende macht; alles ist unser in Christus, dem auferstandenen Haupt.
Wie mag dieses zugehen? Wie kann ein Mensch wiedergeboren werden? „Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt, und wohin er geht; also ist jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. ... Und gleich wie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte, also muss der Sohn des Menschen erhöht werden“ (Joh 3,8.14). Hier haben wir das Wie – das einzige Wie, die einzige Art und Weise, wie ein Sünder bekehrt wird. Alles andere ist Lüge und Täuschung. Das Evangelium ist den Menschen eine Torheit; aber „es ist Gottes Kraft zum Heil jeglichem Glaubenden“ (Röm 1,16). Gerade so wie die Schlange für die tödlich gebissenen Israeliten in der Wüste aufgerichtet wurde, so ist auch der gekreuzigte und wieder auferstandene Christus den verlorenen, durch den Biss der Sünde tödlich verwundeten Menschensöhnen vor Augen gestellt; und ein jeglicher, welcher glaubt, ist vom Tod zum Leben hindurch gedrungen, ist aus Gott geboren und hat das ewige Leben.
Vielleicht könnte einer meiner Leser fragen: „Wie kann ich aber wissen, dass ich von Gott geboren, dass ich ein Kind Gottes bin?“ Ich frage zurück: „Wie kannst du wissen, dass dein Leib je geboren worden ist?“ Liefert deine menschliche Existenz nicht den Beweis? Und ebenso beweist die Existenz der neuen Natur, dass du aus Gott geboren bist. Ich blicke nicht in den Spiegel, um zu prüfen, ob ich sehen kann. Ich richte vielmehr meinen Blick auf irgendeinen Gegenstand; und wenn ich denselben klar und deutlich sehe, so ist das der Beweis, dass ich ein gutes Gesicht habe. Hast du durch den Glauben Jesus am Kreuz sterben sehen um deiner Sünde willen? Haft du gesehen, wie Er aus dem Grab wieder auferweckt worden ist um deiner Rechtfertigung willen? Ist Er der einzige Gegenstand, worauf du vertraust und auf welchen du dein Heil gründest? Hast du Ihn, nachdem Er das Werk der Versöhnung vollbracht und deine Sünden getragen hat, zur Rechten Gottes gesehen? Siehst du, wie Er droben dich vertritt und für dich bittet? Schaust du Ihn, der nicht nur herrlich und erhaben ist, sondern auch die zärtlichste Liebe für den von Natur armen und verlorenen, wie du einer bist, an den Tag legt? Sicher, wenn dein Auge in dieser Weise auf Jesus gerichtet ist, so ist dein Auge nicht das des alten Menschen. Das alte, verdorbene menschliche Herz vertraut nicht in solcher Weise auf Jesus. Die alte Natur blickt in sich und wünscht dort etwas Gutes für Christus zu finden. Der Glaube hingegen, welcher nicht aus dem Willen des Fleisches, sondern aus Gott ist, richtet seine Blicke nach außen auf Christus und schaut in Ihm den, der für den armen, verlorenen Sünder allen Forderungen des heiligen und gerechten Gottes entsprochen hat. „Was vom Fleisch geboren ist, ist Fleisch.“ „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott.“ Daher kann die Gesinnung des Fleisches oder das Fleisch selbst kein Vertrauen auf Christus setzen.
Darum, mein teurer Leser, wenn du dein Vertrauen auf Christus allein setzest, so hast du nicht nötig zu fragen: „Bin ich bekehrt? Bin ich wiedergeboren?“ Denn nichts ist gewisser als dieses. Und wenn du sagst: „Ich finde aber so viel Böses in meiner alten Natur“, so ist das etwas, was jedes Kind Gottes täglich bei sich findet und zu beklagen hat; denn wenn du nicht ein Kind Gottes wärst, so würdest du darüber nicht klagen. Paulus sagt: „In mir, das ist in meinem Fleisch, wohnt nichts Gutes“ (Röm 7,18). Aber er sagt auch: „Die Sünde wird nicht über euch herrschen; denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ (Röm 6,14). Welch eine kostbare Verheißung! Welch eine glückselige Stellung! Wenn ein Kind Gottes auch stets versucht werden mag, ja selbst wenn du gefehlt hast und aus Mangel an Wachsamkeit von dem Betrüge der Sünde überlistet worden bist, wenn du in stets schwerem Kampf fühlst, wie das Fleisch wider den Geist gelüstet, so bleibt es dennoch eine ewige, unumstößliche Wahrheit: „Die Sünde wird über euch nicht herrschen.“ Wie schlecht das Fleisch auch sein mag – und sicher, es könnte nicht schlechter sein – so ist doch der Gläubige kein Schuldner des Fleisches, sondern „mehr als Überwinder durch den, der ihn geliebt hat.“
O möchten doch alle Kinder Gottes nicht mehr in sich schauen, um dort in ihrer alten Natur etwas zu suchen, das sie nimmer finden werden! Ach, wie viele Unruhe, wie viele fruchtlose Anstrengungen würden sie sich ersparen! Sie blicken in ein leeres Grab, worin der auferstandene Jesus nimmer zu finden ist. Sie suchen Früchte an einem faulen Baum, an den längst die Axt gelegt ist. Sie suchen helle, klare Tropfen in einer durchaus unreinen Quelle, in welche sich alle Sümpfe und Kotschleusen dieser Erde ergossen haben. Blicken wir auf Christus, der um unserer Sünde willen dahingegeben, und um unserer Rechtfertigung willen auferweckt ist. In Ihm finden wir alles, was wir nötig haben. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.