Botschafter des Heils in Christo 1874
Der Herr Jesus in Johannes 10 und 11
Diese Kapitel zeigen uns die verschiedenen Richtungen, in welchen sich die Gedanken des Herrn gegenüber den Gedanken der Menschen bewegen. Seine Gedanken über Elend und Glückseligkeit sind ganz anderer Art, als diejenigen der Menschen.
Das elfte Kapitel Zeigt uns eine Szene menschlichen Elends. Die teure Familie in Bethanien war mit Krankheit heimgesucht worden; und die Stimme der Freude und des Dankes hatte sich in Trauern und Wehklagen umgewandelt. Aber Er, welcher unter allen die innigsten und zärtlichsten Sympathien hat, ist der ruhigste unter ihnen; denn Er lebte in der Voraussicht der Auferstehung, welches Ihn über das Krankenzimmer und über das Totengrab hinwegsehen ließ.
Als Jesus hörte, dass Lazarus krank war, blieb Er zwei Tage an dem Ort, wo Er war. Als aber dessen Krankheit mit dem Tod endigte, begann Er seine Reise mit der sicheren und herrlichen Aussicht der Auferstehung. Und dieses machte seine Schritte fest und ruhig. Und als Er der Stätte des Kummers nahte, blieb sein Verhalten ganz dasselbe. Mit erhabener Ruhe antwortet Er auf die Betrübnis des Herzens Martas, und zwar von einem Standpunkt aus, auf welchen Ihn die Kenntnis einer weit über die Macht des Todes hinausreichenden Macht gestellt hatte. Und obwohl Er noch weiter zu gehen hatte, so zeigte Er doch durchaus keine Eile; denn als Maria sich Ihm nähert, befindet Er sich noch an dem Ort, wo Marta Ihm begegnet war. Aber – es ist fast überflüssig zu sagen – der herrliche Ausgang der Dinge rechtfertigte sowohl die Ruhe seines Herzens, als auch die Verzögerung seiner Reise. So war es mit Jesu hienieden. Der Pfad, welchen Er wandelte, war sein eigener Pfad. Während andere durch Kummer und durch Gedanken des Todes niedergebeugt waren, bewegte Er sich in dem Sonnenschein der Auferstehung.
Doch obwohl das Verständnis der Auferstehung den Gedanken des Herrn eine andere Richtung gab, so blieb doch sein Herz empfänglich für den Kummer anderer. Sein Herz offenbarte keine Gleichgültigkeit, sondern göttliche Erhabenheit gegenüber den Leiden dieser Zeit. Er weinte mit der weinenden Maria und mit denen, die sie begleiteten. Seine Seele aber bewegte sich in den Strahlen jener Region, in welche der Tod nicht einzudringen vermag und die weit entfernt liegt von dem Grab Bethaniens; aber Er konnte das Tränental besuchen und weinen mit den Weinenden.
Doch während der Mensch voller Erwartung herrlicher und glänzender Dinge auf der Erde war, war seine Seele mit dem heiligen Bewusstsein erfüllt, dass hienieden auf alles, wie anziehend und reizend es auch scheinen mag, das Urteil des Todes geschrieben ist, und dass wahre Glückseligkeit und Ehre nur in anderen und höheren Regionen erwartet werden kann. Dieses sehen wir im zwölften Kapitel.
Es kamen viele, als sie von der Auferweckung des Lazarus gehört hatten, zusammen und begrüßten Ihn als den König Israels. Auf dem Fest der Laubhütten empfangen sie Ihn mit königlichen Ehren, ein Vorbild dessen, was einmal in großer Herrlichkeit geschehen wird. Auch eilen die Griechen herbei und nehmen als Anbeter neben Israel ihren Platz ein. Sie kommen zu Philippus, gleichsam den Zipfel eines jüdischen Mannes ergreifend (Sach 8,23), und wünschten Jesus zu sehen und zu verehren. Aber Jesus verhält sich in diesem allen in großer Zurückgezogenheit. Er wusste, dass die Zeit dieser Festlichkeiten und Feiertage noch nicht gekommen war. Während ihre Gedanken von den Herrlichkeiten des Königtums erfüllt sind, beschäftigt sich sein Geist mit dem Tod; denn wir hören Ihn sagen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, es sei denn, dass das Weizenkorn in die Erde falle und sterbe, so bleibt es allein.“
Dieses war der besondere Pfad des Geistes Jesu. Die Auferstehung war für Ihn alles. Sie erhellte seinen Pfad inmitten der Schwierigkeiten dieses Lebens. Es gab für Ihn keine Hoffnung inmitten der Erwartungen und Ehrerbietungen dieser Welt. Die Auferstehung war für seine Seele der heitere Sonnenstrahl, während sich über Bethanien schwere und finstere Wolken gelagert hatten, und während andererseits der über Jerusalem leuchtende Glanz eines prunkenden Festtages vor diesem herrlichen Ereignis erbleichen musste. Der Gedanke an die Auferstehung heiligte sein Gemüt eben sowohl inmitten der Leiden, als auch der Freuden, die Ihn umgaben. Die Auferstehung war für Ihn alles. Sie machte Ihn zu einem vollkommenen Muster jenes schönen Grundsatzes des Geistes Gottes: „Die Weinenden seien als die nicht Weinenden und die sich Freuenden als die sich nicht Freuenden.“
Geliebte! Möchte diese Gesinnung auch unser Herz erfüllen! Der Herr gebe, dass der Glaube und die Hoffnung des Evangeliums die wahre Glückseligkeit unserer Herzen durch die Wirksamkeit des in uns wohnenden Geistes bilden!