Botschafter des Heils in Christo 1874
Gott ist es, der rechtfertigt
„Sie scheinen in ihren Leiden recht glücklich zu sein“, sagte jemand zu einer sterbenden Frau. „Worauf setzen Sie denn eigentlich Ihr Vertrauen?“
„Ich vertraue auf die Gerechtigkeit Gottes“, war die Antwort.
„Wie, auf die Gerechtigkeit Gottes?“ fragte der Besucher verwundert zurück. „Wenn Sie sich auf die Barmherzigkeit Gottes stützten, so würde ich das begreifen können; aber so vertrauen Sie ja auf eine Sache, welche Sie wegen Ihrer Sünden notwendig verdammen muss.“
„Ich sage, was ich meine“, erwiderte die Sterbende; „und obwohl ich von Natur eine große Sünderin bin, so ist dennoch die Gerechtigkeit Gottes der Grund meiner Hoffnung für den Himmel; denn ich lese in Römer 3,26, dass Gott gerecht ist und den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesus ist.“
Diese Worte enthalten eine höchst beachtenswerte Wahrheit. Es hieße offenbar sich in die Arme des Gerichts werfen, wenn ein überführter, strafbarer Verbrecher sein Vertrauen auf die Gerechtigkeit des Gerichtshofes, vor welchem er angeklagt ist, setzen wollte. Die Gerechtigkeit wird unbedingt seine Bestrafung fordern. Es würde daher die größte Torheit sein, in einem solchen Fall auf die Gerechtigkeit zu vertrauen. Doch in dem Fall, worin sich jene Sterbende befand, liegt die Sache ganz anders.
Es ist wahr, Gott ist heilig, so dass selbst die Engel ihre Angesichter in seiner Gegenwart verhüllen; und dennoch hatte die sterbende Frau, die nach ihrem eigenen Geständnis von Natur eine große Sünderin war und jetzt vor Gott zu erscheinen im Begriff stand, nicht Unrecht, wenn sie in Betreff ihrer Errettung auf die Gerechtigkeit Gottes ihr Vertrauen setzte. Und was gab ihr dazu den Mut? Wie kann jemand, der sich als schuldig bekennt, auf Erlassung seiner Schuld rechnen, wenn er sich stützt auf die Gerechtigkeit Gottes?
Das ist eine sehr wichtige und beachtenswerte Frage und verdient unsere ernsteste Aufmerksamkeit. Die oben angeführte Stelle in Römer 3,26 ist das Resultat der Beweisführung in der vorhergehenden Stelle. Doch lasst uns den Zusammenhang prüfen. Es gibt in diesem Kapitel drei höchst beachtenswerte Punkte zu betrachten.
1.: „Nun aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit offenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten: Gottes Gerechtigkeit durch Glauben an Jesus Christus.“
2.: „Alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes;“ und
3.: Die Gerechtigkeit Gottes ist „zu allen hin und auf alle, die da glauben.“
Es ist augenscheinlich, dass, wenn alle gesündigt haben, niemand irgendeine Gerechtigkeit vor Gott besitzt oder ein eigenes Verdienst beanspruchen kann. Aber wir finden, dass die Gerechtigkeit Gottes offenbart ist; und nicht nur dieses, sondern auch dass, während sie zu allen hin ihre Richtung nimmt, sie auch allen zugerechnet wird, die da glauben. Das will sagen: Wenn der Mensch keine Gerechtigkeit vor Gott besitzt, so besitzt Gott Gerechtigkeit für den Menschen, ja für alle Menschen. Und welchen wird sie zuteil? Denen, welche glauben. Die Gerechtigkeit Gottes ist auf denen, welche glauben. Mit anderen Worten, wer unter allen, die gesündigt haben, glaubt, ist gerechtfertigt – gerechtfertigt aus Glauben.
Aber hier entsteht die Frage: „Wie kann ein heiliger Gott seine Heiligkeit aufrechterhalten, und dennoch einen Sünder rechtfertigen?“ In den Versen 34 und 25 finden wir die Antwort: „Und werden aus freier Gabe gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist, welchen Gott vorgestellt hat zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an sein Blut.“ – O möchten diese Worte in ihrem vollen Glänze in unsere Herzen leuchten und sie mit Anbetung erfüllen! Ja, mein teurer Leser, die Erlösung, die in Christus Jesus ist, das Werk Christi auf dem Kreuz liefert die Antwort. Dort hat Jesus als Stellvertreter das Gericht und den Zorn Gottes getragen und den unbeschreiblich bitteren Kelch bis auf den letzten Tropfen geleert. Er nahm den Platz des schuldigen Verbrechers ein und litt an seiner Statt. Er vergoss sein Blut zur Vergebung der Sünden. O wunderbare Gnade! Und dann? Das Schwert der göttlichen Gerechtigkeit, welches auf das freiwillige Opfer gefallen war, kehrte befriedigt in seine Scheide zurück; und derselbe Gott, der in seiner Barmherzigkeit seinen eingeborenen Sohn sandte, damit wir durch Ihn leben möchten, ist es, der jetzt auf Grund jenes wunderbaren und vollkommenen Werkes umsonst, aus freier Gnade, rechtfertigt. Nichts steht dem Ausfluss seiner Liebe mehr im Weg. Seine Gnade ist die Quelle, das Werk Christi auf dem Kreuz der Grund, die freie Rechtfertigung des Sünders das köstliche Resultat; – und dieses alles – beachten wir es! – unter Aufrechthaltung des Charakters Gottes.
Ich denke bei dieser Gelegenheit daran, dass mir jemand, der an den Herrn Jesus gläubig war, vor etlichen Jahren klagte, der Gedanke an die Gerechtigkeit Gottes beunruhige ihn immer wieder. Ich stand gerade mit ihm vor seinem Haus. „Wenn die Tür ihres Hauses verschlossen wäre, so dass wir nicht hineinkommen könnten, so würden wir in diesem Zustand sicher den Stürmen der Nacht ausgesetzt sein, wenn wir uns aber im Innern des Hauses befänden, würden dann nicht dieselben Mauern, die in unserem ersten Zustand eine Schranke gegen unsere Sicherheit bildeten, unser Schutz und Schirm gegen den Sturm sein? Ebenso verhallt es sich mit der Gerechtigkeit Gottes. Solange der Mensch in der Sünde und im Unglauben vorangeht, ist er dem Zorn Gottes ausgesetzt; sobald er aber durch Gottes Gnade glaubt, dann ist die Gerechtigkeit Gottes für ihn.“
O wie bedeutungsvoll sind die Worte: „Gott ist es, welcher rechtfertigt.“ Wie wunderbar. Der heilige Gott, der die Sünde verabscheut, tritt als Rechtfertiger ins Mittel! Wie unendlich kostbar ist die Erlösung in Christus Jesus, welche Gott es möglich gemacht hat, als ein gerechter Gott den zu rechtfertigen, der an Jesus glaubt.
Doch richten wir unser Auge noch auf eine andere Stelle, die ebenso bezeichnend, als treffend ist. „Ihn, der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm“ (2. Kor 5,21). Das ist ein höchst beachtenswerter Ausdruck. Der Zusammenhang wird uns darüber Aufschluss geben. Christus, der für alle gestorben ist, hat dadurch den Beweis geliefert, dass alle im Tod sind, und dass sie daher durch nichts außer durch seinen Tod, erlöst werden konnten. Der Zweck seines Todes war, dass die Erlösten zur Ehre Gottes leben sollten, denn wir lesen: „Auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferweckt ist“ (2. Kor 5,15). Da sich alle im Tod befanden, so konnte die Erscheinung Christi im Fleisch ihnen nichts nützen. „So denn kennen wir von nun an niemanden nach dem Fleisch; wenn wir aber auch Christus nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir Ihn doch jetzt nicht mehr also. So denn, wenn jemand in Christus ist – eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen; siehe, alles ist neu geworden. Alles aber aus Gott“ (V 16–18). Nichts kann deutlicher und treffender sein. Wir sehen Christus, zur Sünde gemacht, am Kreuz sterben als ein Opfer für die Sünde; und dieses ist das totale Ende des Alten, ja, das Ende von allem, was mir, einem toten und verlorenen Sünder angehörte. Am Kreuz sehe ich durch den Glauben das Ende des eigenen Ichs, das Ende von allem, was mit diesem Ich in Verbindung war. Christus, auferstanden aus den Toten, ist der Anfang der neuen Schöpfung. Er ist „der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten.“ Dieses wird uns noch deutlicher in den beiden ersten Kapiteln des Epheserbriefes gezeigt. Wie Gott Christus auferweckt hat, so hat Er auch uns, die wir „tot waren in den Sünden und in den Vergehungen“, mit Christus auferweckt. Er hat uns nicht nur versöhnt, sondern uns auch „mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Ihm.“ Diese neue Schöpfung ist so ganz und gar von Gott, dass wir, eins gemacht mit Christus, dem „Erstgeborenen aus den Toten“, in Ihm Gottes Gerechtigkeit geworden sind. Wir waren tot in den Sünden und in den Vergehungen; aber Gott hat uns ein neues Leben geschenkt und erblickt uns als eine neue Schöpfung in Christus, in welcher keine Sünde, und deren Charakter vollkommene Heiligkeit und vollkommene Gerechtigkeit ist. Uns betrachtend in dieser neuen Schöpfung, sind wir das, was Gott aus uns gemacht hat; denn alles ist neu geworden, und alles ist aus Gott; und darum ist der mit Christus auferweckte Gläubige die Gerechtigkeit Gottes.
Also jetzt, nachdem die Gerechtigkeit Gottes durch den Tod Christi völlig befriedigt ist, konnte Paulus im Blick auf den aus den Toten Auferstandenen sagen: „So sei euch nun kund, Brüder, dass durch diesen euch die Vergebung der Sünden verkündigt wird; und von allem, wovon ihr in dem Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, ist in diesem jeder Glaubende gerechtfertigt“ (Apg 13,38–39). Möge der Herr uns leiten zu den grünen Auen und zu den stillen Wassern dieser kostbaren Wahrheit! „Gott ist es, welcher rechtfertigt.“ Ebenso gewiss als Jesus gestorben und auferweckt ist, ebenso gewiss wird uns die Gerechtigkeit Gottes zugerechnet. Der gerechte Gott ist jetzt der unsrige auf Grund des Glaubens. Dieses in seiner Fülle und in seinen gesegneten Folgen zu genießen, wird bald unser ewiges Teil sein. Der Apostel sagt: „Wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit“ (Gal 5,5). Wie gesegnet ist diese Hoffnung der Gerechtigkeit! Jetzt durch Zurechnung, bald werden wir uns für ewig in dem vollen Genuss des Schauens befinden. „Wenn Er offenbart ist, werden wir. Ihm gleich sein, denn wir werden Ihn sehen, wie Er ist.“
„O hochgelobter Herr und Heiland, vermehre unseren Glauben!“