Botschafter des Heils in Christo 1874
Wie kennen wir Christus?
In 2. Korinther 5,16 haben wir eine klare Bezeichnung der Art und Weise, in der wir jetzt Christus kennen; denn wir lesen: „So denn kennen wir von nun an niemanden nach dem Fleisch; wenn wir aber auch Christus nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir Ihn doch jetzt nicht mehr also.“ Seit Christus gen Himmel gefahren ist, kann Er nicht mehr als ein Mensch im Fleisch, als ein lebender Messias gekannt sein. Als solcher hat Er geendet; aber jetzt lebt Er in einer weit wundervolleren Weise, wie früher. Sein Tod war der Schluss der Geschichte des Menschen in Verantwortlichkeit; aber auferstanden aus den Toten ist Er sowohl das Haupt der neuen Schöpfung, als auch das Haupt seines Leibes, der Kirche.
In diesem Verhältnis kennen wir Ihn jetzt. Christus, das Haupt, ist in der Herrlichkeit, nicht gesehen und nicht gekannt von dem Menschen im Fleisch; wir, die Glieder seines Leibes, sind auf der Erde; und der vom Himmel gesandte Heilige Geist vereinigt uns mit dem Haupt in der Herrlichkeit, indem Er uns diese unsere Verwandtschaft zum Bewusstsein bringt. Wie wunderbar ist unser Platz; aber wie schwach erkennen wir denselben!
Christus nach dem Fleisch zu kennen, bezeichnet eine jüdische Stellung. Thomas liefert uns dafür eine Erklärung. „Jesus spricht zu ihm: Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig, die nicht gesehen und geglaubt haben“ (Joh 20,29). Die glückseligere Art, Christus zu kennen, finden wir in den Worten ausgedrückt: „Welchen ihr, obgleich ihr Ihn nicht gesehen, liebt, an welchen glaubend, obgleich ihr Ihn jetzt nicht seht, ihr mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude frohlockt“ (1. Pet 1,8). – Es ist höchst interessant zu beobachten, wie der Herr seine Jünger auf diesen Wechsel vorbereitet. In Johannes 14 teilt Er ihnen mit, dass Er im Begriff stehe, sie zu verlassen. Sie kannten in Ihm nur den Messias auf der Erde; und alle ihre Hoffnungen überschritten diese Grenzen nicht. Sein Tod durchkreuzte diese Hoffnungen ganz und gar; und ein Verlust derselben hätte den Gedanken in ihnen wachrufen können, dass alles Irrtum und Täuschung gewesen sei. Doch der Herr Jesus sagt: „Euer Herz werde nicht bestürzt. Ihr glaubt an Gott, glaubt auch an mich.“ Dann teilt Er ihnen mit, dass als die Folge seines Hingangs der Sachwalter kommen werde. Dass seine Jünger wenig von diesem verstanden, ist augenscheinlich; nichts desto weniger stellte Er sie moralisch in die Stellung, welche sie nachher einnehmen würden. Während in der Welt sich ihre Hoffnungen an einen abwesenden Christus knüpften, sollte der hernieder gesandte Sachwalter in ihnen wohnen und für immer bei ihnen bleiben. Im Blick hierauf sagt Er, nachdem Er auferstanden war, zu Maria: „Rühre mich nicht an!“ Welch eine unbegreifliche Veränderung – könnte man sagen – bei Ihm, der sonst nie ein treues Herz von sich abwies! Allem wir sehen Ihn hier bemüht, die Seele des weinenden Weibes von der Wahrheit zu überzeugen, dass sie Ihn nicht mehr, wie sie es früher getan, nach dem Fleisch kennen sollte.
Es ist sehr rührend zu sehen, dass, selbst nachdem Er von den Toten auferstanden war, seine Jünger sich stets an Ihn, als an einen irdischen Befreier klammerten und ihre Gedanken die Grenzen dieser irdischen Stellung nicht zu überschreiten vermochten. So hören wir die nach Emmaus wandelnden beiden Jünger über ihre getäuschten Hoffnungen reden, indem sie sagen: „Wir aber hofften, dass Er der sei, der Israel erlösen sollte“ (Lk 24,21). Und beim letzten zusammentreffen sagen die Jünger zum Herrn: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich in Israel wieder her?“ –
Aber es gab etwas weit Höheres und Vortrefflicheres, als dieses; sie sollten die Zeugen eines abwesenden Christus sein, den die Welt verworfen hatte. Sie betraten den Weg zum Himmel und sollten Ihn nicht mehr kennen nach dem Fleisch. Der Heilige Geist war auf die Erde gesandt, um in ihnen zu wohnen, um ihnen die Kraft zum Zeugnis mitzuteilen und, wie wir es anderswo finden, sie mit dem Herrn in Herrlichkeit zu Vereinigen und Ihn zu offenbaren. Dieses konnte nie der Fall sein, solange Er auf der Erde war. Sowohl in seinem Leben, als auch in seinem Tod war Er durchaus allein; aber nachdem Er auferstanden und zur Höhe gefahren ist, sind wir durch die Kraft des vom Himmel gesandten Heiligen Geistes mit Ihm vereinigt. Darum sagte Jesus: „Es ist euch nützlich, dass ich hingehe; denn wenn ich nicht hingehe, so wird der Sachwalter nicht zu euch kommen“ (Joh 16,7). Ja, es war ihnen nützlich, weil sie, eins gemacht mit Ihm selbst, Ihn in einer weit innigeren Beziehung kennen sollten.
Verweilen wir einen Augenblick bei der praktischen Wirkung dieser Sache. In Petrus finden wir eine Erläuterung. Das Auge auf Jesus geheftet, vermochte er die wilden, tobenden Wellen des Sees zu überschreiten. Auch Stephanus „blickt unverwandt gen Himmel“, sieht dort Jesus und gedenkt, sein eigenes Leid vergessend, seiner Feinde mit den Worten: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu!“ Welch eine herrliche Offenbarung des Geistes Christus! Die Art und Weise dieser Gleichförmigkeit findet einen Ausdruck in den Worten: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,18). Wir sehen also, in der Erkenntnis Christi in Herrlichkeit eine umwandelnde Kraft, die uns nicht beim Anschauen seines niedrigen Pfades auf Erden, sondern beim Anschauen dessen, was Er jetzt ist, zu Teil wird.
Es ist unser gesegnetes Vorrecht, Ihn zu kennen, wie Er ist. Unsere Bekanntschaft knüpft sich nicht an seine frühere Stellung, wir kennen Ihn als unseren verherrlichten Herrn im Himmel, so wie man einen Freund nicht in seiner früheren, sondern in seiner jetzigen Stellung kennt. Welch eine bewundernswürdige Sache ist diese vertrauliche Bekanntschaft mit dem Herrn! Wie gering unsere Kenntnis in dieser Beziehung auch sein mag, so ist sie doch das Geheimnis aller Kraft. Wie klar schauen wir diese Wirkung in dem Apostel Paulus, wenn er sagt: „Ja, wahrlich, ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn;“ und als ob er erst jetzt recht beginnen wollte, die Tiefen in Ihm zu erforschen, fährt er fort: „Um Ihn zu kennen ..“ (Phil 3,8.10).
Ach! wenn wir Ihn nur ein wenig mehr kannten, wie würde dann die Welt ihre Reize für uns verlieren, wie bereitwillig würden wir dann das Ich und das Fleisch verleugnen, und mit welcher Kraft würden wir dann Trübsale und Schwierigkeiten verleugnen! Mit einem Wort, je tiefer unsere Erkenntnis von Christus ist, desto mehr Kraft zur Anbetung, zum Dienst und zum Wandel würde vorhanden sein. Haben wir nicht über Mängel und Gebrechen und über Geistesdürre zu klagen? Was ist die Ursache? Wir sind nicht genug mit Christus in der Höhe beschäftigt. Klagen wir nicht oft darüber, dass unser Herz so wenig zu Lob und Anbetung gestimmt ist? Die Ursache ist, weil Christus unsere Herzen so wenig anzieht; denn gerade in dem Maß, wie wir Ihn kennen, wird das Herz an Ihn mit Freude denken, als wäre Er persönlich in unserer Mitte. Unsere Erinnerung an Ihn in den Tagen seines Leidens und Sterbens wird, wenn wir in seinem Namen versammelt sind, und die Zeichen seines gebrochenen Leibes und seines vergossenen Blutes vor uns sehen, umso wahrer und wirtlicher sein, je tiefer unsere praktische Erkenntnis seiner selbst in Herrlichkeit ist.
Eine andere praktische Wirkung unserer Erkenntnis wird die sein, dass wir diese Welt als „ein dürres und trockenes Land, wo kein Wasser ist“, betrachten, weil Er, der allein unsere Neigungen befriedigen kann, abwesend, verleugnet und verworfen ist. Dann wird die glückselige Hoffnung seiner Wiederkunft klar und hell in uns sein. Dann begehren wir Ihn zu sehen. Diese beiden Dinge sind mit einander verbunden. Wir gedenken seiner, bis Er kommt; aber der Grad dieser unserer Zuneigung hängt ab von unserer Erkenntnis seiner selbst in der Stellung, die Er jetzt einnimmt.
Richten wir uns selbst in Bezug auf diese Dinge! Ich glaube, dass es keine Zeit gab, wo eine zunehmende Erkenntnis Christi so notwendig war, als in der Gegenwart. Der Strom der Kälte und Gleichgültigkeit wälzt sich mit Macht über die Christen; und ein bloßes Verständnis davon wird uns keine Kraft geben, um Widerstand leisten zu können. Nur Christus, als der gekannte und geliebte Gegenstand unserer Herzen, vermag uns zu bewahren. In Matthäus 2,3–6 finden wir das Beispiel eines Verständnisses ohne Glauben. Die Hohepriester und Schriftgelehrten hatten eine völlig richtige Erkenntnis der Prophezeiung bezüglich der Gehurt Jesu; aber, wie wir wissen, entfernte dieselbe sie nicht von dem Hof des Herodes. Den Magiern aus dem Morgenland ward es überlassen, das Kindlein zu erforschen.
O mochte doch der Herr den ersten Platz in unseren Herzen haben; denn das allein gibt uns Kraft, neu vor Ihm zu wandeln. Dich zu kennen, das ist Leben,
Dich zu loben – sel'ge Lust.