Botschafter des Heils in Christo 1873
Gedanken über Psalm 23
Sich an Gott genügen zu lassen, das ist es, was dem Menschen unendlich schwerfällt. Selbst einem geistlichen Christen würde es große Mühe kosten, auch nur drei Tage allein mit Gott zu sein. Welche Leere würde er empfinden, welches Bedürfnis anderen Mitgeschöpfen und nicht bloß und allein Gott gegenüber seine Gedanken mitzuteilen! Brüderlicher Verkehr, brüderliche Unterhaltungen sind allerdings an ihrem Platz gut und nützlich; aber der Herr will uns dahin bringen, dass wir uns daran genügen lernen, Ihn allein zu genießen und uns nur ganz auf Ihn zu stützen. Zu diesem Zweck erlaubt Er, dass wir auf unserem Weg mit allerlei Umständen zusammentreffen, die unser Herz brechen und uns die Nichtigkeit alles dessen zeigen sollen, was nicht Er selbst ist. Er will, dass es uns genüge, sagen zu können: „Du bist bei mir“ (V 4), ohne uns auf irgend sonst jemanden zu stützen. Die Schwierigkeit, uns an Gott genügen zu lassen, liegt für uns in der Schwachheit unseres Glaubens, sowie in den verschiedenen Wünschen und Begierden unseres Herzens, welche uns veranlassen, tausend anderen Dingen außer Gott nachzuhängen.
In seiner unaussprechlichen Gnade hat der Herr Jesus dem Vater gegenüber eben denselben Platz eingenommen, welchen wir, nach seinem Willen, Ihm selbst gegenüber einnehmen sollen. Aus diesem Grund hat Er – wiewohl Er, wie wir dieses in Johannes 10 sehen, wirklich der gute Hirte ist – zuerst die Stellung eines Schafes einnehmen wollen, wie es aus diesem Psalm hervorgeht. Er wollte der Erste sein, um die steinigen Pfade, die wir zu durchschreiten haben, zu betreten und aus Erfahrung die Schwierigkeiten derselben kennen zu lernen. Und eben auf diesem mühsamen und beschwerlichen Wege hat Er sagen können: „Mir wird nichts mangeln. Er lagert mich auf grünen Auen; Er pflegt mich an Wassern der Ruhe. ... Er leitet mich in den Pfaden der Gerechtigkeit“ (V 1–3). Ja, geliebte Brüder, Er konnte dieses sagen, als Er auf einem Weg wandelte, der für das Fleisch höchst schreckenerregend war – auf dem Weg der Erniedrigung bis zum Tod – weil Gott ganz allein Ihm genügte. Das Wort: „Denn du bist bei mir“, ebnete Ihm den Weg. Für Ihn war der Tisch bereitet; der Wille seines Gottes war seine vor der Welt verborgene Speise, an welcher Er sein ganzes Wohlgefallen fand, und die „Seine Seele wiederherstellte.“
Er konnte sich an dem Vater genügen lassen, weil Er in allen Umständen und Lagen zu sagen vermochte: „Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“ Nicht etwa, als hätte Er seine Jünger geringgeschätzt; o nein, Er liebte sie mit der innigsten Zärtlichkeit und wünschte als Mensch in seinen Leiden von ihnen umgeben zu sein. Als die finstere Stunde seiner Leiden hereinbrach, hören wir Ihn zu seinen Jüngern sagen: „Meine Seele ist betrübt bis zum Tod; bleibt hier und wacht!“
Aber in seiner Angst war Er allein, indem Er ausrief: „Was beugst du dich nieder, meine Seele, und bist unruhig in mir? Harre auf Gott! denn ich werde Ihn noch preisen für die Heilbringung seines Angesichts“ (Ps 42,5). „Und wenn ich wandle im Tal des Todesschattens, fürchte ich nichts Nebels, denn du bist bei mir.“
Es ist unmöglich, geliebte Brüder, dass eine Seele, weiche, also allein auf Gott gestützt, ihren Weg geht, und welche an Ihm allein ihre Wonne hat, den Pfad nicht geebnet finden sollte und selbst an einem Tag der Prüfung und Mühsal nicht sagen könnte: „Er lagert mich auf grünen Auen.“ Denn wenn sich die Seele inmitten all dieser schwierigen Umstände von Gott zu ernähren vermag und sich an Ihm genügen lässt, so wird sie überall für sich „grüne Auen“ „und Wasser der Ruhe“ erblicken.
Was für Jesus, als Er sich in der Stellung eines Schafes befand, der Vater auf dem Weg war, das ist Jesus für uns, die wir die Schafe sind. „Gleichwie mich der lebendige Vater gesandt hat, und ich lebe des Vaters wegen, so wird auch, wer mich isst, leben meinetwegen“ (Joh 6,57).