Botschafter des Heils in Christo 1873
Die Liebe und Herrlichkeit Jesu
Es ist überaus köstlich, die Handlungen Jesu zu betrachten. Jede Tat seines Lebens war eine Offenbarung der Liebe Gottes. „Holdseligkeit war ausgegossen über seine Lippen.“ Die Liebe seines Herzens, seine erbarmende Güte, seine zärtliche Sorge fanden in jedem seiner Worte und in jeder seiner Handlungen ihren Ausdruck. Gutes tuend durchschritt Er das Land. Er half in jeder Not; Er kam allen Schwierigkeiten entgegen. Seine Geduld war unerschöpflich, seine Bereitwilligkeit unveränderlich. Je mehr wir Ihn anschauen, desto mehr fühlt sich unser Herz von Ihm angezogen, so dass wir mit dem Psalmisten ausrufen möchten: „Du bist der Schönste unter den Menschenkindern!“
Auch in der vor uns liegenden Szene (Mk 6,30–44) finden wir hierfür einen trefflichen Beweis. Die zwölf Apostel kommen von ihrer Reise durch das Land Israel zu Jesu zurück und berichten Ihm über alles, was sie getan und gelehrt hatten. Der Herr hatte sie ausgesandt in die Städte Israels, um das Evangelium zu verkündigen, und hatte ihnen Macht gegeben, um Wunder zu tun. Und nun, nach Vollendung ihres Auftrages, kehrten sie zu Ihm zurück, und Zwar in einem nicht geringen Maße entzückt über das Werk, das sie verrichtet hatten. Dies lässt uns die Antwort Jesu klar erkennen. Anstatt sie zu loben und in den Ton ihrer Freude mit einzustimmen, sagt Er: „Kommt ihr selbst her an einen wüsten Ort besonders und ruht ein wenig aus.“ – Welch eine Weisheit! welch eine Liebe! Wie gut ist es, wenn wir mit allen Dingen zu Jesu kommen. Ihm können wir unsere Freude, Ihm unsere Mühsale und Beschwerden mitteilen. Er ist der rechte Mann, um uns zurecht zu weisen und zu helfen. Er weiß unsere Wonne über unsere Arbeit zu zügeln und uns dadurch vor Hochmut und Selbsterhebung zu bewahren; und Er kann uns wiederaufrichten, wenn wir in Gefahr sind, unter dem Gewicht der Sorgen und Schwierigkeiten zu Boden zu sinken. Drum lasst uns nur allezeit zu Ihm gehen. Schütten wir nur stets vor ihm unser Herz aus. Halten wir nichts, gar nichts zurück. Es wird uns zu unaussprechlichem Segen dienen.
Welch eine Weisheit! Entzückt über ihre Arbeit umringen die Jünger ihren geliebten Herrn und erzählen Ihm alles, was sie getan und gelehrt haben. Ruhig, ohne sie zu unterbrechen; hört Er sie an, bis sie Ihm alles mitgeteilt haben; aber dann, anstatt durch Zeichen des Beifalls ihre Freude zu vermehren, sagt Er: „Kommt her an einen wüsten Ort besonders und ruht ein wenig aus.“ Sicher erfreut sich der Herr des Segens unserer Arbeit; aber Er will nicht, dass unsere Seele durch eine zu große Freude Schaden nehme. Ach, wie leicht erheben wir uns! wie schnell sind wir von uns selber eingenommen! wie bald wenden wir unser Auge von der Gnade ab, die uns zu wirken in den Stand setzte! Doch wenn wir nur zu Jesu kommen, dann sind die Folgen nimmer mit Gefahren verknüpft. Er weiß unsere Freude zu mäßigen; in seiner Gegenwart werden wir klein und gering in unseren Augen. In seiner Nähe kann kein Hochmut, keine Selbstgefälligkeit Stand halten.
Doch auch welch eine Liebe! „Kommt her an einen wüsten Ort besonders und ruht ein wenig aus.“ Wie wohltuend ist die Ruhe nach vollbrachter Arbeit! Und nicht allein der Leib, auch der Geist bedarf, dieser Ruhe. Man kann nicht immer ununterbrochen fortarbeiten; auch der Geist wird müde und abgespannt. Er bedarf der Ruhe, um neue Kraft, neue Frische zu sammeln. Wohlan denn, Jesus gibt diese Ruhe. Er sagt nimmer: „Wirke ununterbrochen fort.“ Dieses mögen gewisse Menschen tun, die von einer geistigen Abspannung keinen Begriff haben; aber Jesus tut es nicht. Er sagt nach der Arbeit: „Ruhe ein wenig aus.“ O wie liebevoll! Wie genau kennt Er die Bedürfnisse der Seinen; und wie zärtlich stillt Er diese Bedürfnisse. In seiner Nähe kommt alles in Ordnung. Er ist voll Weisheit; Er ist die Liebe der Seinen. Lassen wir nur durch Ihn uns leiten und durch Ihn uns zurechtweisen, dann wird unsere Arbeit einen gesegneten Verlauf nehmen, ohne dass unsere Seele irgendwie Schaden leidet.
„Kommt ihr selbst her an einen wüsten Ort besonders und ruht ein wenig aus.“ Das sind die zärtlichen Worte des guten Herrn; und der Evangelist fügt hinzu: „Denn es waren viele, die kamen und gingen, und sie fanden nicht einmal Zeit zu essen.“ Ruhe war an diesem Ort nicht zu finden. Hier gab es so viele Arbeit, dass an keine Ruhe zu denken war. Darum führte der Herr sie nach einem wüsten Orte besonders. Aber was zeigte sich hier? Gab es denn Ruhe an dem wüsten Orte? Wir lesen: „Und sie sahen sie wegfahren, und viele erkannten sie und liefen zu Fuß von allen Städten zusammen dorthin, und kamen ihnen zuvor und versammelten sich zu Ihm.“ Wie trefflich! wie rührend! Für den Herrn Jesus gab es hier auf Erden keine Ruhe. Suchte Er Ruhe, so kamen die Menschen, um diese Ruhe zu stören. Aber welch eine unvergleichliche Liebe tritt hier vor unser Auge! Kaum erblickt Er die große Volksmenge, so wird Er innerlich bewegt über sie; „denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ Und Er beginnt bis zur späten Abendstunde hin, sie vieles zu lehren. Von der anderen Seite weggefahren, weil dort so wenig Gelegenheit zum Ausruhen war, dass sie selbst zum Essen nicht einmal Zeit finden konnten, zeigt sich hier statt der gesuchten und ersehnten Ruhe neue Arbeit, neue Mühe. Aber weit davon entfernt, diese große Volksmenge aus Verdruss über die Störung hinweg zu senden, fühlt sein Herz vielmehr ein tiefes Erbarmen und Mitgefühl in Betreff dieser umherirrenden Schafe, und sofort fängt Er an, sie zu belehren. Wie anbetungswürdig ist Er. Wo es Bedürfnisse gibt, da ist Er augenblicklich bereit, sie zu stillen; wo Not ist, da ist Er sofort nahe, die helfende Hand auszustrecken. Nimmer verweigert Er seine, Hilfe. Nimmer kommt man zu, Ihm zu ungelegener Stunde. Kommt man zu Ihm mitten in der Nacht, wie Nikodemus, oder in der Mittagshitze, wie die Samariterin, Er ist stets bereit, uns sein Ohr zu schenken und zu helfen. Sucht man Ihn in der Wüste auf, oder weckt man Ihn auf während eines Seesturms – Er ist stets bereit zu helfen. Trifft man Ihn allein oder in der Mitte einer großen Volksmenge – Er versagt nimmer seine Hilfe. Sitzt Er an der Hochzeitstafel, oder hängt Er am Kreuz – seine Liebe ist stets dieselbe. Überall, zu allen Zeiten und unter allen Umständen ist sein wohlwollendes Herz unveränderlich. Welch eine Gnade! – Und ist Er etwa nicht mehr jetzt derselbe? O sicher; Er ist unveränderlich. Obwohl zur Rechten Gottes mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt, nimmt Er noch stets den innigsten Anteil an all unserem Leid, an all unseren Sorgen und Mühsalen. Man denke nur an seine Worte, die Er an den nach Damaskus reisenden Saulus richtete: „Saul! Saul! was verfolgst du mich?“ Man denke nur an das vertrauliche Wort: „Fürchte dich nicht!“ welches Er an Johannes auf Patmos richtete. Man denke nur an die köstliche Versicherung des Heiligen Geistes: „Er lebt, um für uns zu bitten.“ – Ja wahrlich, auch jetzt noch ist Er allezeit bereit, um auf uns zu horchen und uns zu segnen. Niemals kommen wir vergeblich, niemals zur ungelegenen Zeit. Und kämen wir auch hundert Mal in einem Tag, so würde es Ihm doch niemals zu viel sein, um uns zu helfen und uns zu unterweisen. Sein Name sei gepriesen bis in alle Ewigkeit!
Doch die Liebe des Herrn ging noch weiter. Als es Abend zu werden begann, dachten die Jünger, dass es jetzt endlich Zeit sei, die Volksmenge gehen zu lassen. Sie kommen deshalb zu Jesu und sagen: „Der Ort ist wüst, und es ist schon spät an der Zeit; entlass sie, damit sie hingehen auf das Land und in die Dörfer ringsum, und sich Brot kaufen! denn sie haben nichts zu essen.“ Aber wie lautet die Antwort des Herrn? „Gebt ihr ihnen zu essen“, sagt Er; und als sie dann voll Verwunderung ausrufen: „Sollen wir hingehen und für zweihundert Denare Brot kaufen und ihnen zu essen geben?“ erteilt Er den Befehl, dass sich die ganze Volksmenge niederlassen solle und sättigt sie allesamt. Welch ein Unterschied zwischen den Jüngern und ihrem Herrn! Sie wollen die Schar fortschicken, damit sie sich selber Brot kaufe; aber Er will sie nicht nur unterweisen, sondern auch ihren Hunger stillen. Sie richten ihr Auge auf die große Menge Menschen und auf den geringen Vorrat von Speise und stehen deshalb ratlos da; Er aber richtet seinen Blick nach oben, und Brods die Fülle ist für mehr als fünftausend Gäste vorhanden. Wie unaussprechlich gütig ist der Herr! Unermüdlich hatte Er gearbeitet; ohne ein Wort zu sagen, hatte Er seine Ruhe stören lassen; innerliches Erbarmen hatte sein Herz bewegt; Worte der Weisheit und Gnade waren bis zur späten Abendstunde zur Belehrung einer unkundigen Menge von seinen Lippen geflossen; und jetzt, als der Tag sich geneigt und die Ihn umgebende Schar Hunger hat, ist es Ihm unmöglich, sie ohne Speise fortgehen zu lassen, sondern speist sie auf eine wundertätige Weise. Welch eine reiche Erbarmung! O wie glücklich sind wir, einen solchen Herrn zu haben! Und erinnern wir uns stets daran: es war eine Fülle von Speise, es war ein unversiegbarer Born von Segnungen vorhanden. Man sah nur fünf Brote und zwei Fische; aber in der Hand des Herrn vervielfältigte sich dieser Vorrat so sehr, dass fünftausend Männer, ohne die Weiber und Kinder, damit gesättigt werden konnten und noch zwölf Körbe voll Brocken davon übrigblieben. Wären noch mehr Gast anwesend gewesen, so würde sich auch der Speisevorrat vermehrt haben. Die Vermehrung des Brotes hörte erst dann auf, als alle gesättigt waren. Ebenso verhielt es sich mit dem Öl in dem Krug der Witwe (2. Kön 4). Solange noch leere Gefäße vorhanden waren, floss das Öl; und erst als alle Gefäße in und außer dem Haus gefüllt waren, hörte dieser Quell auf zu sprudeln. Es gab keinen Mangel an Öl, sondern an leeren Gefäßen. Wäre die Zahl der Letzteren noch tausend Mal größer gewesen, so würde stets auch das Öl geflossen sein. Dieses ist für uns von unschätzbarer Wichtigkeit. Gerade in derselben Weise finden wir es bezüglich der geistlichen Speise und des Öls des Geistes. Auch hier gibt es eine unversiegbare Quelle. Speise ist in Überfluss vorhanden; das Öl fließt fort und fort. Wenn nur Herzen da sind, die Hunger haben, und Gefäße, welche leer sind, dann wird stets eine Fülle vorhanden sein. Die Zahl derer, die gespeist und erquickt werden müssen, tut nichts zur Sache. Es ist durchaus dasselbe, ob Tausende, Hunderttausende oder Millionen gekommen sind, es wird nirgends Mangel, ja, es wird stets Überfluss vorhanden sein. Zwölf Handkörbe voll Brocken blieben übrig, nachdem alle gesättigt waren.
Es ist in der Tat eine herrliche Aussicht für uns, dass uns nimmer etwas mangeln wird. Das geistliche Manna ist in Überfluss vorhanden, das Öl des Heiligen Geistes stießt ununterbrochen, so dass man, wie einst Stephanus, voll des Heiligen Geistes werden kann. Empfangen wir daher wenig, so ist nicht der Mangel an Speise, sondern wir selbst sind die Ursache, weil wir keine leere Gefäße sind. Haben wir keinen Hunger, so braucht derselbe auch nicht gestillt zu werden. Sind wir von uns selbst, oder von der Welt, oder von allerlei eitlen und nichtigen Dingen erfüllt, dann kann das Öl des Geistes nicht in uns ausgegossen werden. Ein leeres Gefäß zu sein, ist das erste Erfordernis um mit den Gütern des Heils, mit den geistlichen Segnungen gesegnet zu werden, Klagen wir über Kälte oder Dürre oder Geistesträgheit, dann ist stets die Ursache darin, zu suchen, dass wir nicht leer von uns selbst sind. Das ist höchst ernst und beachtenswert. Welch einen seltsamen Eindruck macht es. Jemanden zu sehen, der unendlich reich ist und dennoch wie ein Bettler lebt; und dieses ist bei uns der Fall, wenn wir kalt, dürre und träge sind. Die Schatzkammern Gottes stehen für uns offen. Gott hat uns gesegnet mit aller geistlichen Segnung in himmlischen Örtern in Christus. Sind wir daher dürre und kalt, so machen wir selbstredend keinen Gebrauch von unseren Segnungen. Wie betrübend ist das für Ihn, dessen Wonne es ist, uns zu segnen, und der gesagt hat: „Tue deinen Mund weit auf, und ich werde ihn füllen!“ Ach! wir sind oft so voll von uns selbst, dass es für das himmlische Manna und für das Öl des Geistes keinen Raum in unseren Herzen mehr gibt. O möchten wir doch viele Bedürfnisse haben nach den himmlischen Segnungen, die der Herr in so reicher Fülle über uns ausschütten will, damit wir mit einem glücklichen Herzen unsere Pilgerfahrt durch die Wüste fortsetzen und vollenden können!
Und welch einen gesegneten Platz nahmen die Jünger ein! Welch ein herrliches Werk hatten sie zu verrichten! Sie waren die Austeiler der Gnadengaben des Herrn. Jesus brach das Brot und vermehrte es; jedoch gab Er es nicht selbst der Volksmenge, sondern bediente sich seiner Jünger zu Kanälen, um seine Segnungen auszuteilen. Nur fünf Brote und zwei Fische waren im Anfang in ihrem Besitz; und mit diesem geringen Vorrat fünftausend Menschen sättigen zu wollen, wäre Torheit gewesen. Und dennoch geschah es. Der Herr machte sie reich. Die Speise in seiner Hand mehrte sich zusehends, so dass alle gesättigt wurden; und gerade sie mussten diesen Reichtum austeilen. Ebenso verhält es sich jetzt mit uns. Arm in uns selbst, will der Herr uns mit den Gütern des Heils und mit dem Öl seines Geistes erfüllen, so dass wir nicht nur für uns selbst genug haben, sondern auch anderen mitteilen können. „Wer an mich glaubt“, sagt der Herr, „aus dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Wie groß ist das Vorrecht, ein Austeiler der Gnadengaben Gottes zu sein, und zwar jetzt in einer sündigen Welt und bald in dem Reich Christi auf Erden! In dem neuen Jerusalem, der Braut des Lammes, befindet sich der jeden Monat seine Frucht tragende Baum des Lebens, und seine Blätter sind zur Heilung der Nationen; das will sagen: wir sollen uns fortdauernd laben und erquicken an den herrlichen Segnungen Gottes und einen Teil derselben den Nationen auf Erden überbringen.
Zum Schluss noch ein Wort über den Herrn selbst. Er steht hier vor uns als der Schöpfer des Himmels und der Erde. Das Brot vermehrt sich in seiner Hand, so dass, nachdem alle gesättigt sind, noch mehr übrigbleibt, als vorher dagewesen ist. Wie treffend und herrlich, wenn wir daran denken, dass derselbe Herr in der Wüste Hunger litt. „Sprich zu diesem Stein, dass er Brot werde“, sagt der Teufel. Ja, dass Er dieses vermocht hätte, das sehen wir hier. Aber Er war nicht auf die Erde gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen. Nicht zu seinem, sondern zum Vorteil armer Menschen bediente Er sich seiner Macht; denn um sie zu retten, war Er erschienen. Ebenso sehen wir Ihn hungrig und durstig am Jakobsbrunnen. Er verrichtet kein Wunder, um sich Brot und Wasser zu verschaffen, sondern sendet seine Jünger nach Samaria, um Speise zu kaufen, und wandte sich an die Samariterin mit den Worten: „Gib mir zu trinken.“ Welch eine göttliche Vollkommenheit! Auf Erden erschienen, um den Willen des Vaters zu tun, unterwirft Er sich jeder Erniedrigung, jeder Entbehrung; aber wo es nötig ist, um eine hungrige Volksmenge zu speisen, wo es Gelegenheit gibt, um seine göttliche Liebe zu offenbaren, da steht Er in seiner göttlichen Größe und Allmacht vor uns und schafft Brot für Tausende. Ja, in der Tat, Er ist der schönste unter den Menschenkindern. Ihn anschauend und in seiner Nähe weilend, können wir mit Paulus sagen: „Ja wahrlich, ich achte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn.“