Botschafter des Heils in Christo 1873

Jona

Die Bosheit Ninives hatte einen erschreckenden Höhepunkt erreicht. Aber dennoch sandte Gott, der da nicht will den Tod des Gottlosen, sondern dass er sich bekehre und lebe, den Propheten Jona hin, um wider die Stadt zu predigen (Kap 1,1–2). Die Langmut, das Erbarmen Gottes ist über alle Maßen groß und wunderbar. „Ein Augenblick ist in seinem Zorn, ein Leben in seiner Huld.“

Auch heute noch handelt Er der boshaften Welt gegenüber in unendlicher Gnade. Immer noch macht Er den Sünder auf das Verderben aufmerksam, in welchem sich derselbe befindet. „Siehe, jetzt ist die Zeit der Annahme; siehe, jetzt ist der Tag des Heils.“ Noch heute ergeht die frohe Botschaft an die Welt: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ – Sicher wird der Tag des Gerichts nicht ausbleiben: weil Gott „einen Tag gesetzt, an welchem Er den Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit durch den Mann, den Er bestimmt hat“ (Apg 17,31). niemand wird entrinnen können. Ach! nur zu viele gehen dem Tag des Zornes Gottes in Gleichgültigkeit und Leichtfertigkeit entgegen; doch wenn sie sagen werden: „Friede und Sicherheit! dann kommt ein plötzliches Verderben auf sie; und sie werden nicht entfliehen“ (1. Thes 5,3). Doch jetzt ist der Herr, wie bereits gesagt, langmütig, „da Er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen“ (2. Pet 3,9).

Dieses ist die Ursache, um derentwillen Er Jona den Auftrag gibt, in die große Stadt Ninive zu gehen und wider sie zu predigen. Aber Jona teilt nicht die Gefühle der Gnade und der Barmherzigkeit seines Herrn; er ist kein gehorsamer Diener; er folgt lieber seinem eigenen Willen. Wohl kannte er seinen Herrn; er wusste, dass Er „ein gnädiger und barmherziger Gott, langsam zum Zorn und von großer Güte“ war; aber anstatt sich seine Wege Wohlgefallen zu lassen, weigerte er sich, nach Ninive zu gehen, indem er zu entfliehen trachtete. Weigern nicht auch wir uns oft aus demselben oder aus irgendeinem anderen Grund, die Wege des Herrn zu gehen und seinem Willen zu gehorchen? Ach! – gestehen wir es – nur zu häufig will das Herz eines Kindes oder auch eines Dieners Gottes seine eigenen Pfade einschlagen und verfolgen, gleich unserem Propheten, der sich aufmachte, um nach Tarsis zu entfliehen, von dem Angesicht Jehovas (Kap 1,3).

Welch ein trauriger Anblick, einen Knecht des Herrn, des lebendigen Gottes, von dem Angesicht des Herrn fliehen zu sehen! Wie macht doch der Ungehorsam so blind, so töricht! Sobald der Mensch gefallen war, zeigte er diese Blindheit und Torheit. „Und sie hörten die Stimme Jehovas Gottes, wandelnd im Garten bei der Kühle des Tages. Und der Mensch und sein Weib versteckten sich vor dem Angesicht Jehovas Gottes in die Mitte der Bäume des Gartens“ (1. Mo 3,8). „Aber kein Geschöpf ist vor Ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir zu tun haben“ (Heb 4,13). seine Augen schauen weiter denn das Auge des kurzsichtigen Menschen; denn: „Führe ich auf gen Himmel – du bist da; oder bettete ich mir in dem Scheol, siehe – du bist da. Nähme ich Flügel der Morgenröte, wohnte ich am äußersten Ende des Meeres, – auch daselbst würde mich leiten deine Hand, und deine Rechte mich fassen“ (Ps 139,8–10).

Und ach! was würden die Folgen dieses Ungehorsams sein, wenn nicht der Herr den widerstrebenden Diener in dessen eigenen Wegen aufhielte? Doch Ihm, der das Meer und das Trockene machte, steht alles zu Gebote; und Er war es, der „einen großen Wind auf das Meer warf“ (V 4). Wunderbare Weisheit Gottes, in welcher Er sich seiner Macht bedient, um einen Menschen, eines seiner Kinder, in seinem Lauf aufzuhalten und zum Nachdenken zu bringen. Lieber Leser! Hast du nicht auch schon Gelegenheit gehabt, die Stimme des Herrn zu vernehmen in irgendeinem Ereignis, womit er dich oder die Deinigen heimsucht? Hiskias, durch eine Krankheit heimgesucht, „wandte sein Angesicht zur Wand und betete zu Jehova“ (2. Kön 20,2). Er merkte, dass der Herr ihm etwas zu sagen habe. Wie nützlich ist es für den Menschen, auf die Stimme Gottes zu achten! „denn die Furcht Jehovas ist der Weisheit Anfang“ (Spr 9,10). Auch die Seeleute, obwohl sie Heiden waren, erkannten die Sprache Gottes; sie erkannten augenblicklich, dass es ein außergewöhnlicher, unerwarteter Sturm war, welcher das Meer bis in seine Tiefen aufwühlte. O mein Leser, der du sicher schon oft in diesem oder jenem Ereignis, welches du vielleicht als einen Zufall betrachtetest, die Stimme Gottes hättest erkennen können – sei doch nicht blinder, nicht empfindungsloser, als diese Seeleute; denn „sie fürchteten sich und schrien, ein jeglicher zu seinem Gott“ (V 5). Die Macht Gottes wirkte kräftig auf das Gewissen dieser Menschen; sie fühlten, obwohl sie den wahren Gott nicht kannten, dass das armselige Geschöpf von Staub gar nichts jenem Wesen gegenüber ist, welches in diesem Augenblick seine Macht kundtat. Nur Jona „war in tiefen Schlaf gesunken“ (V 5). Je mehr das Herz in den eigenen Wegen verstrickt ist, desto empfindungsloser ist das Gewissen. Während der Sturm tobt, das Meer wütet, befindet sich Jona im unteren Schiffsraum und schläft, als ob er in seinen eigenen Wegen, in seinem Ungehorsam gegen Gott völlig ruhig sein könnte. Wohl gehörte er dem auserwählten, geliebten Volk Gottes an, so dass er sagen konnte: „Ich bin ein Hebräer, und ich fürchte den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat;“ (V 9) aber sein Herz war nicht in Gemeinschaft mit diesem Gott. Deshalb finden wir bei den Seeleuten mehr Ehrfurcht, mehr Gefühl, als bei ihm; sie können dem Eindruck nicht widerstehen, dass der Gott der Hebräer ein mächtiger Gott sei und sie zu verderben vermöge; und sie erheben ihre Stimme zu dem Ruf: „Ach, Jehova! lass uns doch nicht umkommen, um dieses Mannes Seele willen, und lege kein unschuldiges Blut auf uns; denn du, Jehova, hast getan, wie es dir gefallen hat“ (V 14).

Wie beschämend für Jona, dieses von den Heiden hören zu müssen! Wie viel beschämender noch für Christen, welche auch oft ohne Kenntnis von Gott sind! Der Apostel mühte den Korinthern schreiben: „Werdet rechtschaffen, nüchtern und sündigt nicht; denn etliche sind in Unwissenheit von Gott; ich sage es euch zur Schande“ (1. Kor 15,34).

Aber wie treu und voll Gnade ist der Herr! Seine Absichten bezüglich der Stadt Ninive gibt Er nicht auf; und Jona soll – ihm und uns zur Lehre – dazu als Werkzeug dienen. Kaum war der Prophet ins Meer geworfen, so „stand es still von seinem Wüten“ (V 15). Ein Zweck, nämlich den widerstrebenden Diener aufzuhalten, war von Seiten Jehovas erreicht worden; darum bedurfte es nicht mehr des Aufruhrs des Meeres. Aber Er hatte, wie bereits bemerkt, noch einen anderen Zweck; und alle Mittel stehen Ihm zu Gebote. „Er macht seine Engel zu Geistern und seine Diener zu Feuerflammen“ (Ps 104,4). Ihm ist nichts zu groß, aber auch nichts zu klein, wenn Er seine Absichten ausführen will. Und wir wissen, dass seine Absichten bezüglich der seinigen die Liebe und Gnade zur Grundlage haben. Alles muss Ihm dienen; alle Umstände leitet Er mit mächtigem Arm. Schon hatte Er „einen großen Fisch bestellt, um Jona zu verschlingen“ (Kap 2,1). Wie anbetungswürdig ist Gott in seiner Weisheit, in seiner Güte, in seinen Führungen. Wie lächerlich die Torheit des Menschen, diese Weisheit und Macht Gottes in den Beurteilungskreis einer winzigen Vernunft herabziehen oder alles einem gewissen „Zufall“ zuschreiben zu wollen! Es scheint, als ob nun Jona in dem Bauch des Fisches zur Einsicht komme, denn er demütigt sich und fängt an, zu Jehova, seinem Gott, zu beten; aber wir werden nur zu bald erfahren, dass der Eindruck leider nur ein vorübergehender war. Und ach! wie oft begegnet es selbst Kindern Gottes, dass sie durch Züchtigungen, ja selbst durch Gerichte zu gehen haben, bevor sie ihre wahre Stellung der Abhängigkeit vor Gott einnehmen und derselben gemäß wandeln. Petrus musste die völlige Kraftlosigkeit des Fleisches durch Demütigung erkennen lernen. O wie gern würde unser Gott uns solche Erfahrungen ersparen; aber sie sind nötig für uns, weil wir uns leider nur zu oft als ungehorsame Kinder betragen; und „wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Wenn ihr aber ohne Züchtigung seid, welcher alle teilhaftig geworden, so seid ihr denn Bastarde und nicht Söhne“ (Heb 12,7–8).

Wie gesagt, Jona demütigt sich, und es ist rührend, in seinem Gebet wahrzunehmen, wie er sich Gott gegenüber auf den rechten Platz stellt. Wo wahre Demut vorhanden ist, sieht man, wie auch das zutrauen, die Zuversicht zu Gott sich Bahn bricht. Dieses finden wir sehr häufig in den Psalmen. „Ich rief aus meiner Bedrängnis zu Jehova, und er antwortete mir; ich schrie aus dem Bauch des Scheols, du hörtest meine Stimme“ (V 3). Auf der einen Seite das vollkommene Bekenntnis des Elends und der wohlverdienten Züchtigung, und auf der anderen Seite das in den Herrn gesetzte Vertrauen, dass Er ihn retten werde. „Und ich sprach Ich bin verstoßen aus deinen Augen doch ich werde; wieder anschauen den Tempel deiner Heiligkeit“ (V 5). Die Frucht hiervon ist das Lob: „Ich werde dir opfern mit der Stimme der Danksagung; was ich gelobt, werde ich bezahlen. Bei Jehova ist Rettung“ (V 10). Wenn wir mit Aufmerksamkeit dieses Gebet lesen, so werden wir darin die auffallende Ähnlichkeit mit der Sprache eines großen Teiles der Psalmen bald entdecken. Und dieses ist besonders der Fall in Betreff derjenigen. Psalmen, die uns den leidenden Überrest Israels zeigen, wie derselbe, unter dem Gericht Gottes stehend, seine Sünden bekennt, aber auch seine Zuversicht zu Gott ausspricht. Vor allem liefern uns die beiden ersten Teile dieser Psalmen zahlreiche Beispiele (vgl. z. B. Ps 18,4-5-6; 22;30; 55;57; 69). Aber gerade dort finden wir den Messias in Verbindung mit Israel in einem leidenden Zustand; und es ist sehr wichtig zu beachten, wie der Herr Jesus auf Jona hinweist und die Ihn verwerfenden Juden auf denselben aufmerksam macht, indem Er sagt: „Denn gleich wie Jonas drei Tage und drei Nächte in dem Bauch des großen Fisches war, also wird der Sohn des Menschen drei Tage und drei Nächte in dem Herzen der Erde sein“ (Mt 12,40). Die Juden stießen das Heil, welches in der Person Jesu unter, ihnen war, von sich; ans diesem Grund ward es nun den Nationen verkündigt; aber dieses fand erst nach dem Tod und der Auferstehung Jesu statt. Dieses wird uns in treffender Weise in Johannes 12 gezeigt. Wir sehen dort Griechen, welche Jesus zu sehen wünschten. Der Herr beantwortet dieses Begehren dadurch, dass Er sagt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein; wenn es aber stirbt, so bringt es viele Frucht“ (Joh 12,24). Der Tod Jesu beseitigte alle Schranken; und seine Erhöhung ans Kreuz machte es möglich, dass alle – nicht nur die Juden, sondern auch die Nationen – zu Ihm gezogen wurden (Joh 12,32–33). „Denn durch Ihn haben wir beide Juden (und Nationen) Zugang in einem Geist zu dem Vater“ (Eph 2,18). Nicht nur wurde durch den Tod Jesu die Sünde hinweggetan, sondern Zugleich der Vorhang zerrissen und der Weg zu Gott gebahnt; und wunderbarer Weise ist der Erste, welcher nach dem Tod Jesu das Zeugnis ablegt: „Dieser ist Gottes Sohn“, ein heidnischer Hauptmann. Auch gibt der Herr seinen Jüngern nach seiner Auferstehung den Befehl: „Geht hin und macht zu Jüngern alle die Nationen usw“ (Mt 28,19). Und wiederum: „Also ist es geschrieben, und also musste der Christus leiden und am dritten Tage auferstehen aus den Toten und in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden verkündigt werden an alle die Nationen, anfangend von Jerusalem“ (Lk 24,46–47).

So ist Jona in dieser Beziehung ein bemerkenswertes Vorbild von dem Herrn und zwar gerade dort, wo er, durch die dazwischentretende Gnade in seinen eigenen Wegen aufgehalten, das Gericht, aber auch die Rettung Jehovas erfahren durfte. Jetzt, nachdem der Fisch ihn ans Land gespien, zeigt er sich nach wiederholtem Befehl Jehovas willig, in Ninive zu predigen. „Da machte sich Jona auf und ging nach Ninive nach dem Wort Jehovas“ (Kap 3,3). Und dort rief er aus: „Noch vierzig Tage, so ist Ninive umgekehrt“ (V 4). Wie gewaltig ist die Wirkung dieses Ausrufs! „Die Leute von Ninive glaubten Gott, und sie demütigten sich von ihrem Größten bis zu ihrem Kleinsten, vom König bis zum geringsten Untertan; und selbst die Tiere mussten die Zeichen der Demütigung und der Trauer zur Schau tragen“ (V 5–8).

Wie ernst, wie eindringend, wie bezeichnend waren die Worte des Herrn Jesus, als Er seinem Volk die Wirkung der Predigt Jonas vorhalten musste; denn mehr als Jona war unter ihnen, und dennoch taten sie keine Buße (Mt 12,41)! Ja, in der Tat, mehr als Jona war in der Mitte des Volkes, Gott selbst, Jehova, befand sich unter Israel. Welche eine Heimsuchung! Wie ernst, von Ihm selbst zur Buße aufgefordert zu werden! Wir verstehen einigermaßen die unter Tränen gesprochenen Worte des Herrn, wenn Er ausruft: „Wenn auch du erkannt hättest, und selbst an diesem deinem Tag, was zu deinem Frieden ist! Nun aber ist es verborgen vor deinen Augen“ (Lk 19,42). „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ (Mt 23,37)

Doch die Bewohner von Ninive bekehrten sich von ihren bösen Wegen; „und es reute Gott des Übels, das er geredet, ihnen zu tun, und er tat es nicht“ (V 10). Mein teurer Leser! Solltest auch du ein solcher sein, der du bekümmert bist um die Rettung deiner Seele, aber ohne die Gewissheit der Vergebung deiner Sünden, deinen Weg fortsetzest, der du zweifelst an dem Erbarmen Gottes für dich, und nicht wagst. Ihm mit zutrauen zu nahen – o so siehe hier das Erbarmen Gottes gegen die große Stadt Ninive. Sollte Er nicht auch gegen dich barmherzig sein, da Er seinen viel geliebten Sohn für verlorene Sünder – gerade solche, wie du einer bist – hingegeben hat? O fasse doch zutrauen zu Ihm, der sein Liebstes für dich in den Tod gab. „Das Wort ist treu und aller Annahme wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu erretten“ (1. Tim 1,15). Und wenn du kommst, gerade sowie du bist, so wird dein Glaube die Erfahrung machen, dass das Wort Gottes Wahrheit ist; und mit allen Miterlösten wirst du die Gnade Gottes in Christus Jesus rühmen können; „denn wo die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwänglicher geworden“ (Röm 5,20). Wie aus dem Herzen des barmherzigen Gottes das Wort zu Jona kam, dass Er wider Ninive zeugen sollte, so ist es auch jetzt noch die Gnade, welche dem Menschen sein Elend, sein Verderben, aber auch die Vollgültigkeit des Opfers Christi offenbart. Die Gnade führt vom bösen Wege

Den Sünder, den Verlorenen, aus;

Die Liebe eilt ihm froh entgegen,

Als kam der einz'ge Sohn nach Haus. Die Leute zu Ninive verachteten nicht das Wort Gottes; vielmehr glaubten sie, sie vermischten das Wort mit dem Glauben, und darum nützte es ihnen. Sie machten es nicht wie jene, welche wegen ihres Unglaubens nicht in seine Ruhe eingehen konnten (Heb 3,18–4,3); Und leider wie viele gibt es unter denen, die sich Christen nennen, welche demselben Gericht entgegeneilen (Jud 3–19)! O möchten doch noch viele, gleich den Niniviten, ihr Ohr öffnen, ehe es zu spät ist!

Doch welch eine Wirkung übte die Buße so vieler Sünder auf das Herz unseres Propheten aus? Freute er sich, wie sich die Engel Gottes freuen über einen Sünder, der Buhe tut? Ach! keineswegs. Welch! eine schreckliche Hurtigkeit eines selbstsüchtigen Herzens! „Und es missfiel Jona mit großem Missfallen, und er ward zornig“ (Kap 4,1). Wir sehen, die Erfahrung seiner Rettung aus dem Bauch des Fisches ist vergessen; er ist sogar trotzig geworden. Er fühlt sich tief gekränkt, der arme Mann, dass seine Drohungen nicht erfüllt sind. Er hat eine hohe Meinung von sich selbst; und darum sieht er seine Ehre, sein Ansehen angetastet; und dieses tut ihm sehr wehe. Beachten wir es wohl, dass selbst da, wo so wunderbare Erfahrungen gemacht worden sind, das Herz des Menschen durch dieselben nicht belehrt wird, wenn die Gemeinschaft mit Gott vernachlässigt worden ist. Nur in dieser Gemeinschaft hat das Fleisch keinen Raum; dort ist es nötig, die Schuhe auszuziehen, das „Ich“ gestorben zu halten; und nur wo dieses „Töten der Glieder“ stattfindet, kann Gemeinschaft mit Gott und Genuss der Freude sein. Dieses war bei Jona nicht der Fall. Wohl war er vom Tod gerettet, gleichsam gestorben und auferstanden; jedoch wandte er dieses nicht praktisch auf sich an. Der Apostel ermahnt die Christen: „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott. ... Tötet nun eure Glieder, die auf der Erde sind usw“ (Kol 3,1–3). Wo dieses Gestorbensein nicht verwirklicht, wo diese Beschneidung nicht praktisch im Wandel angewandt wird, da kann keine Gemeinschaft mit Gott stattfinden; und die noch so mächtigen Erfahrungen der Hilfe und des Segens Gottes lassen das Herz unberührt. Und dieses ist nicht so selten, wie man vielleicht denkt. Betrachten wir einen Augenblick Josua; er ging mit Israel durch den Jordan; die Mauern Jerichos fielen vor seinen Augen in Trümmer zusammen; und alles schien gut zu gehen. Aber wie kam es, dass er angesichts des Missgeschicks bei Ai, der kleinen Stadt, so verzagt war? Ach! er hatte vergessen, vorher nach Gilgal, dem Ort der Beschneidung, zu gehen. Anstatt dass die Erfahrung der Macht Jehovas bei Jericho das Herz Josuas und des Volkes in Demut erhalten hatte, vertrauten sie auf ihre eigene Kraft und mussten die traurigen Früchte davon genießen. „Ach, Herr, Jehova! warum hast du dieses Volk je hinüberziehen lassen über den Jordan, um uns in die Hand der Amoriter zu geben, um uns zu Grund zu richten? O hätten wir es uns gefallen lassen und wären jenseits des Jordans geblieben! Bitte, Herr, was soll ich sagen, nachdem Israel den Rücken gekehrt hat vor seinen Feinden?“ (Jes 7,7–9) Es war Sünde unter ihnen; und darum konnte Gott nicht mit dem Volk sein, bevor dieselbe gerichtet worden war. Selbst bei den Jüngern des Herrn sehen wir die Härtigkeit des Herzens bei allen Erfahrungen der Macht Gottes. Vor ihren Augen hatte der Herr z. B. mit fünf Broten und zwei Fischen 5000 Männer gespeist; aber obwohl sie Zeugen der Macht ihres Herrn und Meisters gewesen, so waren ihre Herzen doch um nichts verständiger geworden; denn sobald der Wind ihnen entgegen war, Zeigten sie sich voller Furcht; und alles war vergessen (Mk 6,30–52). So hatte auch Jonas kein Gedächtnis mehr für die Errettung aus dem Bauch des Fisches; er ist sehr erzürnt und erkühnt sich dem Herrn geradezu zu sagen: „Ach, Jehova! war dies nicht mein Wort, da ich noch in meinem Land war? Darum kam ich zuvor, indem ich nach Tarsis entfloh; denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und von großer Güte, und der sich des Nebels reuen lässt. Und nun, Jehova, nimm doch meine Seele von mir; denn es ist mir besser zu sterben, als zu leben“ (V 2–3). Wie niederträchtig ist doch das arme Herz des Menschen, wenn es an seiner Ehre angegriffen wird, und – beachten wir es wohl – ein solches Herz ist das unsrige! Ach! selbst bei bevorzugten Dienern Gottes begegnen wir nicht selten diesem Zug des trotzigen und verzagten Herzens. Ich erinnere an Elias, welcher, nachdem er in der Kraft Gottes Großes vollbracht hatte, schließlich vor Isebel floh „um seiner Seele willen.“ Darum musste ihm der Herr zeigen, dass, wenn es sich um Werkzeug handle, Er außer ihm noch viele besitze. „Gehe, kehre wieder um auf deinem Weg nach der Wüste von Damaskus und gehe hinein und salbe Hasael zum König über Syrien, Jehu aber, den Sohn Nimsis, sollst du zum König salben über Israel, und Elisa, den Sohn Saphats von Abel–Mehola sollst du zum Propheten salben an deiner statt. ... Und ich habe übriggelassen in Israel siebentausend, alle Knie, die sich nicht gebeugt haben vor Baal, und jeglichen Mund, der ihn nicht geküsst hat“ (1. Kön 15–19).

Wie demütigend, wenn Kinder Gottes das arme Herz – das „Ich“ – im Vordergrund haben. Wenn es oft nicht nach unserem Wunsch geht, wenn nicht eintrifft, was wir etwa sagten – ach! wie niedergeschlagen fühlen wir uns dann! O unsere Geduld, unsere Langmut, unsere Liebe – wie bald ist alles, oft in kleinen Dingen, der Welt oder anderen Kindern Gottes gegenüber erschöpft! Der Herr gebe, dass wir, die wir mit Recht das Benehmen Jonas verurteilen, auch uns selbst richten im Licht Gottes!

Doch der Herr ist nicht nur der Welt gegenüber voll Langmut, sondern auch die Seinen behandelt und belehrt Er mit unendlicher Geduld und Treue. „Und Gott, Jehova, bestellte einen Wunderbaum und ließ ihn über Jona aufschießen, dass Schatten wäre über seinem Haupt, um ihn von seinem Missmut zu retten; und Jona freute sich über den Wunderbaum mit großer Freude“ (V 6). das ist das selbstsüchtige Herz Jonas, welches sich freut, wenn es ihm selbst wohlgeht, aber welches mit Verdruss erfüllt ist, wenn eine große Stadt mit „mehr denn hundert und zwanzig tausend Menschen“ und „vielem Vieh“ (V 11) vor dem Untergang bewahrt bleibt. Diese Selbstsucht muss der Herr strafen; und deshalb „bestellte Er einen Wurm ... der stach den Wunderbaum, dass er verdorrte“ (V 7). Gott bedient sich nicht nur des Großen, wie des Sturmes und des Fisches; sondern Er gebraucht sogar einen kleinen Wurm zu seinem Dienst. Es ist für uns ein großer Trost, zu wissen, dass nichts von ungefähr kommt, dass selbst die Haare auf dem Haupt alle gezählt sind, und dass kein Sperling auf die Erde fällt ohne den Willen des Vaters. Wir dürfen alles aus der guten Hand unseres Gottes und Vaters annehmen; denn Er leitet alles, und zwar zu unserem Besten. „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken, Denen, die nach Vorsatz berufen sind:“ (Röm 8,28)

Doch Jona versteht nicht die Absicht, den Endzweck des Herrn; denn als Gott einen schwülen Ostwind bestellte, und die Sonne Jona aufs Haupt stach, ermattete er und wünschte sich den Tod, indem er sagte: „Es ist mir besser zu sterben, denn zu leben“ (V 8). Kaum sollte man es glauben, dass ein Diener also mit dem Herrn reden dürfte, ohne sofort bestraft zu werden. Denn nicht nur zürnt Jona, nein, er erkühnt sich sogar zu sagen: „Billig zürne ich bis zum Tod“ (V 9). Welche Herablassung Gottes! welche Größe der Langmut, der unendlichen, nie zu erschöpfenden Liebe! Er zeigt dem murrenden Propheten, dass, wenn derselbe sich des Wunderbaumes erbarme, an welchem er doch nicht gearbeitet habe usw., Er sich vielmehr erbarmen müsse über die große Stadt Ninive, in welcher mehr denn hundert und zwanzigtausend Menschen seien, die keinen Unterschied wissen zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken, und viel Vieh! –

O wie unendlich reich ist die Gnade Gottes! In ihrer Vollkommenheit wird sie in Jesu geschaut. Obwohl Israel die Knechte und Propheten Israels verachtete, misshandelte und tötete, so sandte Er ihnen dennoch seinen einigen, viel geliebten Sohn. Und mit welcher Sorgfalt und unermüdlichen Liebe suchte Jesus die verirrten Schafe Israels? Ja, in der Tat, Jesus konnte und durfte sagen: „Hier ist mehr denn Jona.“ Wie pflegte und bedüngte Er den Feigenbaum Israels, um Frucht zu gewinnen! Er wurde nimmer müde, durch Lockungen der Gnade das hilflose Volk zu sich zu ziehen. Aber sie verwarfen Ihn. Und noch am Kreuz flehte Er: „Vater vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Jetzt, sollte man glauben, sei hinreichende Gnade angeboten worden, jetzt müsse das Gericht folgen. Aber nein, nach seiner Auferstehung lässt Er, „anfangend von Jerusalem“, Buße und Vergebung der Sünde verkündigen. Und erst nachdem sie auch das Zeugnis des Heiligen Geistes verworfen haben, tritt etwa vierzig Jahre nach dem Tod Jesu das Gericht ein, indem Jerusalem zerstört wird.

Jona teilte mit seinem Volk die Herzenshärtigkeit desselben. Ein Baum, als Schirm gegen die Sonnenstrahlen, hatte in seinen Augen mehr wert als die Rettung der großen Stadt Ninive. Er missgönnte den Niniviten die Barmherzigkeit des Herrn und hätte mit Ergötzen von seiner „Hütte“ aus den Untergang der Stadt angesehen.

Wie unwillig schauten auch die Juden, und an ihrer Spitze die Pharisäer – diese Männer der Religion – auf die Zöllner und Sünder im Verkehr mit Jesu! Im Gleichnis „vom verlorenen Sohn“ kennzeichnet der Herr auf eine treffende, aber äußerst schonende Weise diese Selbstsucht der Pharisäer in dem Bild des ältesten Sohnes (Lk 15,25–32). Nicht nur wollten sie für sich selbst nicht die Gnade Gottes, sondern wehrten auch anderen, um dieselbe zu erlangen. Welch einen fortwährenden Kampf hatte z. B. Paulus, dieser treue Diener des Herrn, mit den Juden, die ihn sogar weithin verfolgten und ihm wehrten, den Nationen das Evangelium zu verkündigen (vgl. Apg 13,45; 14,2.19; 17,5; 18,6; 25,24; 1. Thes 2,15–16). Aber wie herrlich und ermunternd ist es, diesen unermüdlichen Arbeiter zu sehen! Er lässt sich nicht einschüchtern; und immer wieder, wohin er auch kommt, sucht er zuerst die Juden und dann die von den Nationen auf, um ihnen das Heil nahe zu bringen. Bei ihm sieht man gerade die entgegengesetzte Gesinnung, wie diejenige, welche wir bei Jona entdecken; er weiß, dass alle vor dem Richterstuhl Gottes offenbar werden müssen; und den Schrecken des Herrn kennend, „überredet er die Menschen“ usw. Er verrichtet eine Gesandtschaft für Christus; er bittet an Christi Statt: „Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2. Kor 5). Er hat Christus erkannt und wünscht Ihn noch mehr zu erkennen. Nicht wie Jona flieht er vor dem Herrn; vielmehr sagt er: „Eins aber tue ich: vergessend, was hinten ist, und mich ausstreckend nach dem, was vorne ist, strebe ich, das vorgesteckte Ziel immer anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“ (Phil 3,14).

Der Herr gebe, dass sein Wort, welches „nütze ist zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung usw“ (1. Tim 3,16–17). uns in allen Dingen leite! „Wer aber in das vollkommene Gesetz, in das der Freiheit, nahe hineingeschaut hat und darin geblieben ist, dieser, indem er nicht ein vergesslicher Hörer, sondern ein Täter des Wortes ist, dieser wird glückselig sein in seinem Tun“ (Jak 1,25). Möge Er die Seinen immer mehr zubereiten, seins Gesinnung – die Gesinnung der Gnade – hienieden zu offenbaren in einer Welt, die dem Gericht entgegeneilt; möge Er uns während unseres Pilgerlaufes die Gnade schenken, dass wir stets in völligem Vertrauen auf Ihn schauen, welcher Sturm und Fisch, Wunderbaum und Wurm, ja alles für das Wohl und die Erziehung der Seinen in seiner gesegneten Vaterhand zur Verfügung hat! Ja, du sorgest ohn' Ermüden

Für uns alle Tag und Nacht;

Wir sind nie verwaist hienieden,

Vatertreu uns stets bewacht.

Deiner Liebe ist allein

Nichts zu groß und nichts zu klein,

Wo wir gehen, wo wir stehen,

Können deine Lieb wir sehen.

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