Botschafter des Heils in Christo 1873

Der treue Arbeiter - Teil 1/2

Jeder Abschnitt des Wortes Gottes liefert für den andächtigen Leser eine Quelle unausbleiblicher Erfrischung, besonders aber solche Teile, welche uns die gesegnete Person des Herrn Jesus in den Einzelheiten seines Lebens, in seinen unvergleichlichen Wegen, in seiner Gesinnung, in seinen Worten und Werken, ja selbst in seinen Mienen und Gebärden darstellen, und welche uns in der augenscheinlichsten Weise zeigen, was Er war, was Er tat, was Er sagte und wie Er handelte und sprach. In diesem allen liegt etwas, wodurch das Herz beherrscht und angezogen wird und welches einen weit stärkeren Einfluss auf das Gemüt ausübt, als eine Aufstellung der wichtigsten Lehren, und als eine Feststellung der erhabensten Grundsätze. Sicherlich haben diese ihren Wert und ihren Platz: sie klären das Verständnis belehren den Geist, bilden das Urteil, beherrschen das Gewissen und sind uns in dieser Beziehung von unberechenbarem Nutzen. Aber die Darstellung der Person Christi durchbohrt das Herz, weckt die Gefühle der Liebe, befriedigt die Seele und beherrscht das ganze Wesen; kurz, nichts ist im Stande, die Beschäftigung des Herzens mit Christus selbst, sowie der Heilige Geist Ihn in dem Wort und besonders in den unnachahmlichen Erzählungen des Evangeliums unseren Blicken enthüllt, zu übertreffen. Möge es uns vergönnt sein, dieses bei einer Betrachtung über das 11. Kapitel des Evangeliums Matthäus zu beweisen, in welchem Christus, als der treue Arbeiter, in den Hindernissen, denen Er während seines Dienstes begegnete, sowie in den Hilfsquellen, die Er in Gott fand, und endlich in der gnadenreichen Tätigkeit, die Er dem Menschen widmete, vor unsere Seele gestellt wird.

Betrachten wir zunächst die Hindernisse.

Es gab nie einen Arbeiter des Herrn in dieser Welt, der nicht mit Hindernissen irgendwelcher Art zu kämpfen gehabt hätte; und der einzige vollkommene Arbeiter macht keine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel. Der Herr Jesus hatte seine Hindernisse und getäuschten Erwartungen; denn wäre dieses nicht der Fall gewesen, so würde Er kein Mitleiden haben können mit denen, welche denselben auf jeder Station ihrer Laufbahn zu begegnen haben. Er war als Mensch vollkommen in alles Dasjenige eingetreten, was ein Mensch zu fühlen fähig war, jedoch mit Ausnahme der Sünde. „Er ist in allem in gleicher Weise versucht worden, ausgenommen die Sünde.“ Darum kann Er Mitleid haben mit unseren Schwachheiten. Darum hat Er ein Verständnis von allem, was seine Diener in ihrer Arbeit durchzumachen haben.

Nun hat der Heilige Geist in unserem Kapitel eine Reihe solcher Hindernisse und solcher getäuschten Erwartungen zusammengestellt, denen der vollkommene Arbeiter der treue Knecht, der göttliche Diener in der Ausübung seines Dienstes zu begegnen hatte. Die erste derselben kommt von einer Seite, von welcher man es nicht hätte erwarten sollen, nämlich von Johannes dem Täufer. „Als aber Johannes im Gefängnis die Werke des Christus hörte, sandte er durch seine Jünger und sprach zu Ihm: Bist du der Kommende, oder sollen wir eines anderen warten?“

Es ist unleugbar, dass Johannes in dem Augenblick, in welchem er diese Botschaft an Jesu schickte, sehr niedergebeugt war. Es war ein finsterer Moment in seiner Erfahrung; und das war nichts Ungewöhnliches. Selbst die besten und treuesten Diener Christi haben zu Zeiten unter den dunklen Schatten des Unglaubens, des Kleinmuts und der Ungeduld eine trübe Stimmung zur Schau getragen. So ließ sich z. B. Moses, der so hoch geehrte, treue Knecht Gottes bei einer gewissen Gelegenheit zu den Worten hinreißen: „Warum hast du übelgetan an deinem Knecht, und warum habe ich nicht Gnade gefunden in deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? ... Ich allein vermag dieses ganze Volk nicht zu tragen; denn es ist mir zu schwer. Und wenn du also an mir tun willst, so bringe mich doch nur um, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, auf dass ich mein Unglück nicht ansehe“ (4. Mo 11,11-15). das war die Sprache des „sanftmütigsten Mannes auf dem Erdboden“ – eine Sprache, die, obwohl durch die sich stets verschlimmernden Umstände, sowie durch die murrenden Stimmen von sechshunderttausend Pilgern hervorgerufen, dennoch immerhin die Sprache Mose war; und sicher würde es uns schlecht kleiden, darüber zu staunen; denn wo ist ein Sterblicher, der den übermäßigen Druck eines solchen Moments hätte ertragen können? Welche bloß menschliche Eindämmung hätte der Heftigkeit eines so gewaltigen Stromes zu widerstehen vermocht?

Ebenso finden wir den Propheten Elia, als eine finstere Wolke über seiner Seele hing, in einem Augenblick schweren Drucks, indem er sich unter einen Ginsterbaum warf und sich den Tod erflehte. „Es ist genug; nimm nun, Jehova, meine Seele hin; denn ich bin nicht besser, als meine Väter“ (1. Kön 19,4). das war die Sprache Elias, eines so hoch geehrten Knechtes Gottes – eine Sprache, die freilich durch eine Verbindung der entmutigendsten Einflüsse hervorgerufen, dennoch immerhin die Sprache Elias des Tisbiters war; und niemand tadle ihn, der nicht selbst ohne ein wankendes Gefühl oder ein strauchelndes Wort, ähnliche Umstände durchschritten hat.

In ähnlicher Weise finden wir auch den Propheten Jeremia, einen anderen höchst begünstigten Arbeiter des Herrn, als er unter den Misshandlungen Pashurs und den Verhöhnungen, der ihn umringenden Gottlosen seinen Gefühlen in den Worten Luft machte: „Jehova, du hast mich beredet, und ich habe mich bereden lassen; du hast mich ergriffen und überwältigt. Ich bin zum Gelächter den ganzen Tag; alles spottet meiner. Denn so oft ich rede, schreie ich; ‚Gewalt und Zerstörung‘, rufe ich; denn das Wort Jehovas ist mir zur Schmach und zum Spott den ganzen Tag. Und ich sprach: Ich will seiner nicht erwähnen und nicht mehr reden in seinem Namen.“ Und wiederum: „Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren ward! Der Tag, an den: mich meine Mutter geboren, sei nicht gesegnet! Verflucht der Mann, der meinem Vater die frohe Botschaft brachte und sprach: Ein männlich Kind ist dir geboren! und ihn hoch erfreute. Ja, selbiger Mann sei wie die. Städte, die Jehova umgekehrt, und Ihn nicht gereut hat; und er höre ein Rufen, in der Morgenstunde und ein Geschrei zur Mittagszeit, dass er mich nicht getötet von Mutterleibe an, dass nicht meine Mutter mein Grab geworden, und ihr Leib ewig schwanger geblieben. Warum bin ich aus Mutterleib hervorgekommen, Jammer und Betrübnis zu sehen, und dass meine Tage vergehen in Schande?“ (Jer 20,7-9; 14-18) Das war die Sprache des weinenden Propheten – eine Sprache, die, freilich durch schmerzhafte Hindernisse und bittere Enttäuschungen in seinem prophetischen Dienst hervorgerufen, dennoch immerhin die Sprache Jeremies war; und bevor wir ihn verurteilen, lasst uns sehen, ob wir unter ähnlichem Druck besser unsere Schuldigkeit tun.

Kann es nun noch, nachdem wir solche Schriftzeugnisse gelesen, unsere Verwunderung erregen, wenn wir Johannes den Täufer mitten im Dunkel eines herodianischen Kerkers für einen Augenblick straucheln sehen? Kann uns die Entdeckung in Staunen setzen, dass er aus keinem besseren Stoff gemacht war, als die Arbeiter früherer Generationen? Wenn der Gesetzgeber, der Wiederhersteller, der weinende Prophet Israels – wenn ein jeder derselben in seinen Tagen und unter seinem Geschlecht unter dem schweren Gewicht seiner Bürde schwankte, kann es uns dann befremden, dass „Johannes, der Sohn des Zacharias“, in den düsteren Schatten seiner Gefängnismauern einem momentanen Gefühl der Ungeduld und des Unglaubens freien Lauf ließ? Sicher nicht, solange wir nicht selbst unsere Sündhaftigkeit unter ähnlichen Einflüssen erprobt haben.

Und dennoch haben wir zu behaupten gewagt, dass die Botschaft des Täufers ein Hindernis und eine Enttäuschung für den Geist seines Herrn und Meisters war; und die Antwort Christi liefert uns den Beweis für die Wahrheit dieser unserer Behauptung. „Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und verkündigt Johannes was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme wandeln, Aussätzige werden gereinigt und Taube hören und Tote werden auferweckt und Armen wird gute Botschaft verkündigt; und glückselig ist, wer irgend sich nicht an mir ärgern wird.“

Es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass Johannes unter einer vorüberziehenden Wolke des Unglaubens zu wissen versucht worden war, ob wirklich Jesus der eine war, für welchen er in der Erfüllung seines Dienstes ein so volles und lautes Zeugnis abgelegt hatte. Es hatte ihm ohne Zweifel für den Augenblick zum Anstoß gedient, als er sich in der eisernen Gewalt des Herodes sah, und hier von den Werken Christi hörte. Es lag nahe, dass sein armes Herz allerlei Zweifeln Raum gab und ihm zuflüsterte: „Wenn dieser der glorreiche Messias wäre, auf den wir hoffen, und dessen Königreich in Macht aufgerichtet werden soll, warum steht es denn so traurig um seinen Diener und Zeugen? Warum befinde ich mich denn noch hier in dem Dunkel eines Kerkers? Warum ist die starke Hand der Macht nicht ausgestreckt, um die Türen dieses Gefängnisses zu zertrümmern und mich in Freiheit zu setzen?“

Wenn dieses, wie wir zu glauben geneigt sind, die Gedanken des gefangenen Täufers waren, wie kräftig, bestimmt und scharf war dann die Antwort seines Herrn und Meisters! Er machte ihn auf jene großen, moralischen Beweise seiner göttlichen Sendung aufmerksam, welche völlig genügten, um einen jeden, der von Gott gelehrt war, zu überzeugen. War es nicht ein Gegenstand der Erwartung, dass, wenn der Gott Israels in der Mitte seines Volkes erschien, Er sich wenden werde an den wirklichen Zustand desselben? War dieses der Augenblick zur Entfaltung einer bloßen Macht? Konnte der Sohn Davids sich, umgeben von Krankheit und Elend, auf seinen Thron setzen? War nicht das Bedürfnis vorhanden für eine geduldige, herablassende Gnade und Barmherzigkeit inmitten der mannigfachen und zahlreichen Früchte der Sünde? Freilich konnte eine bloße Macht das Gefängnis des Herodes erbrechen und den Gefangenen in Freiheit setzen; aber was sollte dann aus den Lahmen, den Blinden, den Tauben, den Aussätzigen, den Toten, den Armen und den Elenden werden? Konnte die Entfaltung des Königtums ihre Leiden lindern und ihren Zustand verändern? War es nicht augenscheinlich, dass eine andere Sache Not tat? Und war es nicht ebenso klar, dass diese Sache durch den gnadenreichen, zärtlichen, sanftmütigen und demütigen Jesus von Nazareth dargereicht werden konnte? Ja, und Johannes der Täufer hätte dieses wissen sollen. Aber ach! mein teurer Leser, du und ich, wir sollten mit Milde in die Gefängniszelle dieses so hochgeehrten Dieners Christi eintreten, nicht nur weil die Gnade uns dazu auffordert, sondern auch weil unsere Seelen fühlen sollten, dass, wären wir in einer solchen Stellung gewesen, der Grund unseres Glaubens, wenn nicht durch die Gnade unterstützt, sicher in einer noch jämmerlichem Weise erschüttert worden wäre.

Es ist indes von großer Wichtigkeit, dass wir die Schwäche des gefangenen Täufers völlig verstehen und uns die passende Belehrung, die uns seine vorübergehende Niedergeschlagenheit verschafft, mit großem Fleiß zu Nutze machen. Wir werden wohltun, das, was an seinem Glauben mangelte, genau zu prüfen, um für uns selbst aus dieser interessanten Erzählung etwas zu lernen. Es würde für den armen Gefangenen höchst nützlich gewesen sein, wenn er verstanden hätte, dass der Tag des Mitgefühls Christi, aber nicht der Tag seiner Macht angebrochen sei. Am Tag seiner Macht wird man nirgends einen Kerker, einen Block, einen Schandpfahl, eine Trübsal, Bedrückung oder Trauer oder sonst irgendeine Art von Widerwärtigkeit für die Heiligen Gottes zu erblicken vermögen. Dann wird keine Welle die Oberfläche des Meeres kräuseln und keine Wolke den Himmel trüben; dann wird man keinen Sturm mehr zu befürchten, keine Rohheit mehr zu ertragen haben. Aber jetzt befinden wir uns in der Zeit des Mitgefühls Christi; und für den geprüften, verfolgten, geplagten und unterdrückten Jünger Jesu gilt jetzt die Frage: „Was möchtest du lieber haben – die aus der Trübsal dich erlösende Macht der Hand Christi, oder das in der Trübsal dich erquickende Mitgefühl Christi?“ – Die Antwort eines fleischlichen Gemüts, eines nicht unterwürfigen Herzens, eines ruhelosen Geistes wird ohne Zweifel lauten: „O möchte doch nur seine Macht hervorbrechen und mich von dieser unerträglichen Trübsal, dieser unausstehlichen Bürde, dieser zermalmenden Schwierigkeit befreien! Ich seufze nach Befreiung; ich wünsche nichts als Befreiung!“

Etliche von uns weiden dieses verstehen können. Gleich einem des Jochs ungewohnten Stiere sträuben wir uns oft, anstatt uns geduldig zu unterwerfen, und machen das Joch nur noch schwerer und drückender durch unsere unverständigen und nutzlosen Anstrengungen, es abzuschütteln. Aber ein geistliches Gemüt, ein unterwürfiges Herz, ein demütiger Geist wird ohne irgendwelchen Vorbehalt sagen: „Lasst mich in meiner Trübsal nur das süße Mitgefühl des Herzens Jesu genießen; ich verlange weiter nichts. Ich begehre selbst nicht, dass mich die Macht seiner Hand auch nur eines Tropfens jenes Trostes beraube, welcher mir durch die zärtliche Liebe und das tiefe Mitgefühl seines Herzens dargereicht wird. Ich weiß sicher, dass Er mich befreien, ja dass Er in einem Augenblick diese Ketten zerreißen, diese Gefängnismauern dem Boden gleichmachen, diese Krankheit beseitigen, diesen geliebten Gegenstand, der in der kalten Hand des Todes vor mir liegt, wiederbeleben, diese schwere Bürde hinwegrücken, dieser Schwierigkeit begegnen, diese Not beseitigen kann. Aber wenn Er es nicht für gut findet, also zu handeln, wenn es nicht mit seinen unausforschlichen Ratschlüssen übereinstimmt und nicht mit seiner weisen und treuen Absicht harmoniert, also mit mir zu verfahren, so weiß ich, dass sein Tun darauf berechnet ist, mich zu einer noch tieferen und reichern Erfahrung seines höchst kostbaren Mitgefühls zu leiten. Wenn Er es nicht für richtig ansieht, mich von dem rauen Pfad der Trübsal und der Schwierigkeit wegzunehmen – von jenem Pfad, welchen Er selbst in Vollkommenheit, und welchen von Jahrhundert zu Jahrhundert alle seine Heiligen nach dem Maß ihres Glaubens gepilgert haben, so ist es seine gnadenreiche Absicht, mit mir diesen Pfad zu wandeln, welcher, obwohl rau und dornig, droben zu den ewigen Wohnungen des Lichts und der Glückseligkeit führt.“

Wir zweifeln nicht einen Augenblick daran, dass die Erkenntnis dieser Dinge das Herz Johannes des Täufers, inmitten seiner Erfahrungen im Kerker, bedeutend beruhigt haben würde; und sicher werden sie dazu dienen, unsere Herzen in den mannigfachen Übungen, die wir in der Wüste durchzumachen berufen sind, zu beruhigen und zu unterstützen. Der Moment ist für Jesus noch nicht gekommen, seine große Macht anzunehmen und zu herrschen. Es ist der Tag seiner Langmut in Betreff der Welt, und der Tag seines Mitgefühls bezüglich seines Volkes. Wir müssen uns dessen stets bewusst sein. Er streckte die starke Hand der Macht nicht aus, um in etwa seine eigenen Leiden abzuwenden. Als Petrus in irrendem Eifer das Schwert zu seiner Verteidigung zog, sagte Er: „Stecke dein Schwert wieder an seinen Ort; denn alle, die das Schwert nehmen, werden durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, dass ich nicht jetzt meinen Vater bitten könne und Er mir mehr denn Zwölf Legionen Engel stellen werde? Wie sollten denn die Schriften erfüllt werden, welche sagen, dass es also geschehen muss?“

Doch während wir die momentane Schwachheit Johannes des Täufers anerkennen und jene Punkte, in denen sein Glaube sich als mangelhaft erwies, unterscheiden, müssen wir uns zugleich seiner niederdrückenden Umstände, sowie der praktisch schwierigen Lektion erinnern, welche er in seinem Kerker zu lernen berufen war. Es ist sehr hart für einen Arbeiter, sich bei Seite gestellt zu sehen. Nichts ist für ein tätiges Gemüt schwerer, als zu lernen, dass man zu entbehren ist. Wir sind so geneigt zu denken, dass die Arbeit ohne uns nicht vollendet werden könne. Und doch wie bald kann uns der Herr das Gegenteil zeigen? Die Banden des Paulus beförderten die Sache Christi. Die Einsparung Luthers in die Wartburg beschleunigte die Reformation.

So ist es immer; und auch wir alle haben zu lernen, dass Gott uns entbehren, und dass die Arbeit ohne uns geschehen kann. Das gilt in allen Fällen, wo unser Wirkungskreis auch sein mag. Sich dessen stets zu erinnern, gibt dem Herzen große Ruhe und ist geeignet, uns von allem beunruhigenden und hassenswürdigenden Eigendünkel zu heilen, so dass wir in den Stand gesetzt werden, sagen zu können: „Der Herr sei gepriesen! Die Arbeit ist vollendet; ich bin glücklich und zufrieden!“

Ohne Zweifel wird der Leser den bemerkenswerten Unterschied zwischen der an Johannes gerichteten Antwort und dem von Johannes abgelegten Zeugnisse Christi wahrgenommen haben. Zu seinem Diener sprechend, ließ Er ihn in einer nicht misszuverstehenden Weise fühlen, dass Er die Quelle der Frage desselben erkannt habe. Dieses zu sehen macht uns keine Schwierigkeit. Wir sind überzeugt, dass die Antwort des Herrn einen scharfen Pfeil für seinen Diener in sich schloss. Allerdings war derselbe in ein sehr zartes Futteral gelegt; aber es war doch ein Pfeil, und zwar ein sehr scharfer. „Glückselig ist, wer sich irgend nicht an mir ärgern wird.“ Johannes wird dieses sicher verstanden haben. Der Pfeil war bestimmt, recht tief in das Innerste seiner Seele zu dringen. Der treue Diener hatte in Bezug auf Jesus gesagt: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen;“ und er war berufen, nicht nur in Betreff seines Dienstes, sondern auch seiner Person, die praktische Seite dieses Ausspruchs kennen zu lernen. Er musste sich damit begnügen, seine Laufbahn unter dem Schwert des Henkers zu beenden, nachdem er seine letzten Tage in dem Dunkel eines Kerkers zugebracht hatte. Wie geheimnisvoll! Wie schrecklich für Fleisch und Blut! Wie nötig – wie dringend nötig war es in einem solchen finsteren Augenblicke für Johannes, dass das Wort, welches der Herr später an Petrus richtete, auch sein Ohr berührte: „Was ich tue, weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren.“

Welch wichtige Worte! „Jetzt“ und „hernach.“ Wie sehr bedürfen wir es, uns daran zu erinnern! Wie oft geschieht es, dass das „Jetzt“ in tiefe, undurchdringliche Dunkelheit eingehüllt ist! Schwere Wolken hängen über unserem Pfad. Die Handlungen der Hand unseres Vaters sind uns völlig unerklärlich. Unsere Herzen fühlen sich zu Boden gedrückt. Es zeigen sich Umstände auf unserem Weg, die wir nicht berechnen können: es finden sich Bestandteile in unserem Becher, deren Zweck wir nicht begreifen und nicht zu schätzen wissen. Wir sind bestürzt und möchten gern ausrufen: „Warum dieses alles?“ Wir sind völlig durch das „Jetzt“ in Nebel gehüllt; unsere Seelen sind gänzlich angefüllt mit traurigen, glaubenslosen Einwürfen und Überlegungen, bis endlich unser Ohr von den kostbaren Worten berührt wird: „Was ich tue, weist du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren.“ Dann sind alle Einwürfe beantwortet; dann ist der Sturm zum Schweigen gebracht und das trostlose und niederbeugende „Jetzt“ schwindet unter den Strahlen eines glänzenden und herrlichen „Hernach“, so dass das unterwürfige Herz in Ausdrücken einer heiligen und verständigen Ergebung ausrufen kann: „Herr, wie du willst!“ O möchten wir dieses besser erkennen! Sicher, wir bedürfen es, was auch immer unser Los in dieser Welt sein mag. Wir mögen nicht berufen sein, gleich dem Täufer die Leiden eines Gefängnisses kennen zu lernen; aber ein jeglicher hat sein „Jetzt“, welches in dem Licht des „Hernach“ seine Erklärung finden muss. Wir müssen das, was man „sieht“ und was „zeitlich“ ist, in dem Licht dessen beschauen, was man „nicht sieht“ und was „ewig“ ist.

Doch wenden wir jetzt für einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit auf das Zeugnis Christi in Bezug auf Johannes den Täufer. „Als diese aber hingingen, fing Jesus an, zu der Volksmenge zu reden über Johannes! Was seid ihr hinausgegangen in die Wüste zu sehen? Ein Rohr, vom Wind hin und her bewegt? Was aber seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Menschen mit weichen Kleidern angetan? Siehe, die die weichen Kleider tragen, sind in den Häusern der Könige. Was aber seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Propheten? Ja, ich sage euch, und mehr denn einen Propheten. Denn dieser ist es, von dem geschrieben steht: ‚Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg vor dir bereiten wird!‘ Wahrlich, ich sage euch: Unter den von Weibern Geborenen ist kein Größerer aufgestanden, denn Johannes der Täufer; der Geringste aber im Reich der Himmel ist größer denn er.“ 1

Das war das glänzende Zeugnis, welches durch Christus von Johannes dem Täufer abgelegt wurde. „Unter den von Weibern Geborenen ist kein Größerer aufgestanden denn er.“ Wir finden hier einen großen Grundsatz, den wir in den Mitteilungen der Handlungen Gottes bezüglich seines Volkes immer wieder erläutert sehen. Wenn der Herr an seinen Knecht eine Botschaft zu senden hat, so tut Er es klar, bestimmt und ohne Rückhalt; aber wenn Er von ihm redet, so geschieht dieses in einer ganz verschiedenen Weise.

Also ist es immer – Gott sei dafür gepriesen! Wir haben unsere Wege und Gott hat seine Gedanken; und während Er mit uns in Betreff der Ersteren in aller Treue handelt, redet Er von uns gemäß der Letzteren. Welche Erquickung bietet dieses dem Herzen! Welch ein Trost! Welch moralische Macht! Welch ein fester Grund für das Selbstgericht! Gott hat uns eine Stellung gegeben; und gemäß derselben denkt Er an uns und spricht Er von uns. Wir haben unsere praktischen Wege, und bezüglich derselben handelt Er mit uns und spricht Er zu uns. Er will uns vor unseren eigenen Augen bloßstellen und uns unsere Wege fühlen und unsere Handlungen richten lassen; aber sobald Er beginnt zu anderen von uns zu sprechen, so stellt Er in Betreff unserer die Vollkommenheit seiner eigenen Gedanken ans Licht und spricht von uns nach der vollkommenen Stellung, welche Er uns in seiner Gegenwart, als die Frucht seiner unsertwegen gefassten ewigen Ratschlüsse und seines unsertwegen vollbrachten, vollkommenen Werkes, gegeben hat.

Also war es mit den Kindern Israel in den Ebenen Moabs. Sie hatten ihre Wege, und Gott hatte seine Gedanken; und während Er sie ununterbrochen wegen ihrer Wege zu tadeln und mit ihnen in der deutlichsten Weise über ihre Störrigkeit und Hartnäckigkeit zu reden hatte, stellte Er sich, sobald der habsüchtige Prophet auf dem Schauplatz erschien, um Israel zu verfluchen, zwischen sein Volk und den Feind, um den Fluch in einen Segen umzuwandeln und in den erhabensten und wunderbarsten Ausdrücken ein Zeugnis zu ihren Gunsten hervorströmen zu lassen. „Nicht ein Mensch ist Gott, dass Er lüge, noch ein Menschensohn, dass Ihn etwas gereue. Sollte Er sprechen und nicht tun, und sollte Er reden und es nicht bestätigen? Siehe, zu segnen habe ich empfangen; und Er hat gesegnet, und ich kann es nicht wenden. Er schaut nichts Böses in Jakob und steht kein Unrecht in Israel; Jehova, sein Gott ist mit ihm, und Jubelgeschrei des Königs unter ihm. Gott hat ihn herausgeführt aus Ägypten, sein ist die Stärke des Auerochsen; denn da ist keine Zauberei wider Jakob, und keine Wahrsagerei wider Israel. Zu der Zeit wird von Jakob und von Israel gesagt werden, was Gott gewirkt hat. Siehe das Volk – wie eine Löwin wird es aufstehen und wie ein Löwe sich erheben. Es wird sich dicht legen, bis es den Raub verzehrt und das Blut der Erschlagenen getrunken hat“ (4. Mo 23,19-34).

Welch eine Gnade zeigt sich hier! „Ich schaue nichts Böses und sehe kein Unrecht.“ Was konnte der Feind dazu sagen? Es wird gesagt werden, „was Gott gewirkt hat.“ Es heißt nicht: „Was Israel gewirkt hat.“ Israel hatte nur zu oft Törichtes gewirkt; aber Gott hatte das Heil gewirkt. Er hatte für seine eigene Herrlichkeit gewirkt, und diese Herrlichkeit hatte hell geglänzt in der vollkommenen Befreiung eines verkehrten, störrischen und hartnäckigen Volkes. Des Feindes Aussage über das Böse und das Unrecht in Israel war nutzlos, wenn Jehova weder das eine noch das andere sehen wollte. Es hat für uns keine Folgen, dass Satan uns anklagt, wenn Gott vergeben, dass Satan unsere Sünden aufzählt, wenn Gott sie alle für immer ausgelöscht, dass Satan uns verdammt, wenn Gott uns gerechtfertigt hat.

„Aber“ – könnte jemand fragen – „liegt keine Gefahr in der Behauptung solcher Grundsätze? Kann dadurch nicht ein Christ in die finsteren und verhängnisvollen Regionen einer falschen Freiheit geleitet werden?“ – Doch, mein Leser, du kannst versichert sein, dass du von dieser mit Recht gefürchteten Region nie weiter entfernt bist, als wenn deine Seele von den glänzenden und gesegneten Strahlen der ewigen Gunst Gottes erwärmt wird und sich der Unwandelbarkeit seines bedingungslosen und ewigen Heils erfreut. Es gibt keinen größeren Irrtum, als wenn man der Meinung Raum gibt, dass die freie Gnade und das vollkommene Heil je zu unheiligen Resultaten führen könnte. Die Begriffe des Menschen über diese Dinge mögen eine solche Wirkung haben; aber wo die Gnade völlig erkannt und das Heil völlig genossen wird, dort wirst du auch ganz sicher finden „die Früchte der Gerechtigkeit, welche sind durch Jesus Christus zur Herrlichkeit und zum Lobe Gottes.“ Aber wir wissen, dass es eine alte Gewohnheit der unwissenden und sich selbst erhebenden Gesetzlichkeit ist, der freien Gnade Gottes eine das Gesetz verachtende Tendenz zuzuschreiben. „Sollten wir in der Sünde verharren, auf dass die Gnade überströme?“ ist kein neuer Einwand gegen die kostbaren Lehren der Gnade; und dennoch bleiben diese Lehren unangetastet in ihrer Reinheit und Kraft und finden ihren göttlichen Mittelpunkt in der Person Christi selbst, welcher, nachdem Er am Kreuz gestorben und unsere Sünden hinweggenommen hat, unser Leben und unsere Gerechtigkeit, unsere Heiligung und unsere Erlösung, unser alles in allem geworden ist. Er hat uns nicht nur von den künftigen Folgen der Sünde, sondern auch von der gegenwärtigen Macht derselben befreit.

Das ist es, was Gott gewirkt hat, und das ist das Fundament des großen Grundsatzes, bei welchem wir uns verweilt, und welchen wir durch die Handlungen mit Israel in den Ebenen Moabs, sowie durch die Handlungen Christi mit dem Täufer in dem Kerker des Herodes in verschiedener Weise dargestellt gesehen haben. Jehova zwang den Propheten Bileam vor den Ohren Balaks auszurufen: „Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!“ – und zwar in demselben Moment, als diese Zelte und diese Wohnungen ein so reiches Material für das Gericht lieferten. Ebenso rühmte Jesus vor den Ohren der Volksmenge die Größe Johannes des Täufers in demselben Augenblicke, als die Boten auf dem Rückweg zu ihrem gefangenen Meister waren und einen Pfeil für sein Herz mit sich führten.

Jetzt ist es unser Wunsch, dass der Leser zu einer klaren Vorstellung in Betreff dieses Grundsatzes gelange und sich dessen beständig erinnere. Es wird ihm dieses nicht nur zum Verständnis des Wortes Gottes, sondern auch zur Erklärung seiner Wege von unberechenbarem Nutzen sein. Gott richtet sein Volk. Er kann nicht das Geringste in den Wegen desselben übersehen. Das glänzende Zeugnis Bileams auf den Höhen Moabs wurde begleitet durch den scharfen Wurfspieß des Pinehas in den Ebenen Moabs (4. Mo 25,7). „Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.“ Und das ist es, was unser Gott jetzt ist. Er kann das Böse nicht dulden. Er spricht von uns, denkt an uns, handelt gegen uns nach der Vollkommenheit seines eigenen Werkes. Was schadet es, wenn ein Feind kommt, uns zu verfluchen? Er findet nicht den geringsten Flecken; alles ist vollkommen und lieblich und schön. Wie könnte es auch anders sein? Wie könnte das Auge Gottes noch jene Sünden sehen, welche für immer durch das Blut des Lammes ausgelöscht sind? Das ist unmöglich. Lässt das die Sünde geringschätzen? Fern sei dieser Gedanke! Wird dadurch der Zügellosigkeit die Tür geöffnet? Nein, vielmehr wird dadurch der einzige wahre Grund zur persönlichen Heiligkeit gelegt. „Der Herr wird sein Volk richten.“ Er wird schauen auf die Wege seiner Kinder. Er wird für seine Heiligkeit Sorge tragen, und nicht nur dieses, sondern Er wird sein Volk zu Teilhabern dieser Heiligkeit machen und sie zu diesem Zweck züchtigen mit der Rute treuer Zucht. Gerade weil in den Augen Jehovas die Zelte lieblich waren, sandte Er Pinehas in dieselben Zelte mit dem Spieß des gerechten Gerichts in seiner Hand. Und ebenso jetzt, weil sein Volk Ihm kostbar und in seinen Augen lieblich ist, will Er nichts in ihnen oder in ihren Wegen dulden, welches gegen seine Heiligkeit streitet. „Denn es ist die Zeit, dass das Gericht anfange am Haus Gottes“ (1. Pet 4,17). Gott richtet jetzt die Welt nicht. Er richtet jetzt sein Volk. Bald kommt das Gericht über die Welt. Doch vergessen wir nicht, dass Er als ein „heiliger Vater“ Sein Volk richtet; als ein „gerechter Gott“ wird Er die Welt richten. Der Zweck des Ersteren ist praktische Heiligkeit; der Ausgang des Letzteren wird ewiges Verderben sein. Welch ein ernster Gedanke!

Indes gibt es in Verbindung hiermit noch einen anderen Punkt, auf welchen wir die Aufmerksamkeit des christlichen Lesers zu lenken wünschen und zwar einen Punkt von sehr großer praktischer Bedeutung. Wir müssen nämlich unsere Stellung nicht nach unserem Zustand messen, sondern vielmehr unseren Zustand richten nach unserer Stellung. Viele irren in dieser Beziehung; und dieser Irrtum führt zu den traurigsten Resultaten. Die Stellung des Gläubigen ist festgestellt, vollkommen, ewig, göttlich. Sein Zustand ist unvollkommen und schwankend. Er ist Teilhaber der göttlichen Natur, welche nicht sündigen kann; aber er trägt seine alte Natur mit sich herum, die nichts anders tun kann, als sündigen. Seiner Stellung nach ist das Alte vergangen, und alles ist neu geworden. Gott erblickt ihn nur in der neuen Stellung, als nicht mehr im Fleisch, sondern im Geist; nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade. Der Gläubige ist in Christus. Also betrachtet Gott ihn; und dieses ist seine vollkommene und ewige Stellung. Seine Sünden sind nicht mehr. Seine Person ist angenommen. Alles ist vollendet. Sein praktischer Zustand kann nimmer seine Stellung berühren. Er kann in seinem praktischen Wandel seine Gemeinschaft, seine Anbetung, sein Zeugnis, seinen geistlichen Genuss, die Ruhe seines Herzens, die Verherrlichung Christi bedenklich stören; und dieses ist für ein empfindsames Gewissen und ein aufrichtiges Herz von ernster Wichtigkeit. Aber die Stellung des Gläubigen bleibt und muss ewig unangetastet und unverändert bleiben. Keine Macht der Menschen oder der Teufel kann auch nur im geringsten gerade dasjenige beeinträchtigen, welches von Gott gegeben worden, und welches vollkommen in Christus ist. Das schwächste Glied der Familie Gottes hat seinen Bergungsort und seinen bestimmten Ruheplatz hinter den unbezwingbaren Bollwerken des Heils Gottes. Wer dieses leugnet, der rüttelt an der wahren einzigen Basis des Selbstgerichts und der praktischen Heiligkeit.

Andrerseits aber lasst uns nicht vergessen – und in der Tat kann ein aufrichtiger Christ nicht wünschen, es zu vergessen – dass der Zustand nach der Stellung gerichtet werden muss. Wenn wir diese heilsame Wahrheit aus den Augen verlieren, so werden wir bald das gute Gewissen von uns gestoßen und am Glauben Schiffbruch, gelitten haben. Darum müssen wir das Glaubensauge stets auf einen auferstandenen Christus gerichtet halten und uns mit nichts Geringerem begnügen, als Ihm nach, Geist, Seele und Leib gleichförmig zu sein.

Nur noch wenige Worte werden genügen, um die ferneren, in unserem Kapitel bezeichneten Hindernisse anzudeuten, mit denen der Herr Jesus zu kämpfen hatte. Nachdem Er die Frage des Täufers beantwortet und dessen Dienst ins Licht gestellt hat, wendet Er sich an seine Umgebung mit den Worten: „Wem aber soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Es ist Kindern gleich, die auf den Märkten sitzen und ihren Gespielen zurufen und sagen: Wir haben euch gepfiffen und ihr habt nicht getanzt; wir haben euch Klagelieder gesungen und ihr habt nicht gewehklagt. Denn Johannes ist gekommen, der weder aß noch trank, und sie sagen: Er hat einen Teufel. Der Sohn des Menschen ist gekommen, der da isst und trinkt, und sie sagen: ‚Siehe, ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder!‘ – und die Weisheit ist gerechtfertigt von ihren Kindern“ (V 16–19).

Sowohl das Pfeifen, als auch die Klagelieder waren durch ein glaubensloses Zeitalter hindurch unbeachtet geblieben. „Denn Johannes kam zu euch im Weg der Gerechtigkeit, und ihr glaubtet ihm nicht“ (Mt 21,32). Der Herr Jesus kam in vollkommener Gnade und sie wollten Ihn nicht. Der strenge und ernste Dienst der Gerechtigkeit mit der Axt des Gerichts in der Hand, und andererseits der liebliche, zärtliche Dienst der Gnade mit Worten der Sanftmut und mit Werken der Güte, – Beides wurde verworfen durch die Menschen jenes Geschlechts. Aber die Kinder der Weisheit werden dieselbe in all ihren Handlungen und Worten rechtfertigen. Der Herr sei gepriesen für seine reiche Gnade! Glückselig, wer ein Auge, ein Ohr und ein Herz hat, um die Wege, die Werke und Worte der göttlichen Weisheit zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu schätzen!

„Dann fing Er an, die Städte zu schelten, in welchen seines meisten Wunderwerke geschehen waren, weil sie nicht Buße taten. Wehe dir, Chorazin! wehe dir Betsaida! Denn wenn zu Tyrus und Sidon die Wunderwerke geschehen wären, die unter euch geschehen sind, längst hätten sie in Sack und Asche Buße getan. Doch ich sage such: Tyrus und Sidon wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts denn euch. Und du, Kapernaum, die du bis zum Himmel erhöht bist, bis zum Hades wirst du hinabgestoßen werden. Denn wenn in Sodom die Wunderwerke geschehen wären, die in dir geschehen sind, sie wären geblieben bis auf den heutigen Tag. Doch ich sage euch: Dem Sodomer Land wird es erträglicher ergehen am Tag des Gerichts, denn dir“ (V 20–24).

Mit welch einem tiefen und erschreckenden Ernste dringt dieses „Wehe“ von den Lippen des Sohnes Gottes in unser Ohr! Es ist das Wehe, welches der verworfenen Gnade auf dem Fuß folgt. Es ist hier nicht bloß die Rede von einem übertretenen Gesetz, von entehrten und beschimpften Verordnungen, von göttlichen Einrichtungen, die in schändlicher Weise zerstört, oder von Propheten und Weisen, die von den Menschen verworfen und gesteinigt wurden. Nicht nur dieses war geschehen, sondern ach! bei Weitem mehr. Der Sohn selbst war gekommen in der reinsten, reichsten Gnade. Er hatte Worte in ihr Ohr dringen lassen, die sonst niemand zu ihnen gesprochen hatte. Er hatte die mächtigsten Wunderwerke in ihrer Mitte verrichtet. Er hatte ihre Kranken geheilt, ihre Aussätzigen gereinigt, ihre Toten auferweckt, ihre Hungrigen gespeist, ihren Blinden die Augen, ihren Tauben die Ohren geöffnet. Was hatte er zu tun unterlassen? Welche Worte hatte Er Ihnen vorenthalten? Wie eine Henne ihre Küchlein, so hatte Er sie unter seine Flügel versammeln wollen; aber sie hatten es nicht gewollt. Sie zogen die Flügel des Erzfeindes den Flügeln Jehovas vor. Er hatte seinen Busen geöffnet, um Sie an sein Herz zu legen; aber sie vertrauten Ihm nicht. Den ganzen Tag hindurch hatte Er seine Arme nach ihnen ausgestreckt; aber sie wollten nichts mit Ihm zu schaffen haben; und jetzt nach so langer Nachsicht schüttet Er schließlich sein ernstes Wehe über sie aus und redet mit ihnen über das schreckliche Verhängnis, welches ihrer unausbleiblich harrte.

Aber, geliebter Leser, kommt es dir nicht vor, als ob das Wehe des 11. Kapitels Matthäus sich weit über Chorazin, Bethsaida und Kapernaum hinaus erstrecke? Sollte es nicht mit weit größerem Nachdruck und mit einer die Seele erschütternden Kraft das Ohr des Christentums berühren? Wir zweifeln nicht einen Augenblick daran. Wir wollen nicht versuchen, auf die näheren Umstände einzugehen, welche sich vereinigen, die Schuld der bekennenden Kirche zu vermehren – auf die weite Verbreitung der schriftgemäßen Kenntnis und des evangelischen Lichts, und auf die unzähligen und namenlosen Formen, in denen die geistlichen Vorrechte auf dem Pfad dieser Generation zerstreut umherliegen. Und was ist die Wirkung? Welches ist der wahre praktische Zustand derer, welche die höchste Stufe christlichen Bekenntnisses einnehmen? Ach! wir wagen es kaum, darauf zu antworten. Wir richten unseren Blick nach der einen Seite und sehen, wie die finsteren Schatten des Aberglaubens die Gemüter der Menschen einhüllen; wir wenden unser Auge nach der anderen Seite und sehen wie der Unglaube seine freche und verwegene Stirn erhebt und seine gottlose Hand auf das heilige Wort Gottes zu legen sich erkühnt; und das arme Herz, berührt von diesen beiderseitigen Zeitströmungen, greift mit Eifer nach allem, was ihm möglicherweise zur Ruhe und Selbstbefriedigung dienen könnte. Es wird, mit einem Wort, zur Genüge bestätigt sein, dass während der ganzen Geschichte der Welt kein so finsteres Schauspiel dargestellt worden ist, als dasjenige, welches die bekennende Kirche in dieser gegenwärtigen Stunde zur Schau tragt. Man nehme Chorazin und ihre Schwesterstädte, man nehme Sodom und Gomorra und die Städte der Ebene, man lege sie zusammen mit ihrer ganzen Schuld in eine Waagschale, und dennoch wird das Christentum schwerer wiegen, als sie alle. Denn wenn man in jenen Städten Gottlosigkeit und Unglauben findet, so findet man sie doch nicht wie im Christentum an den Namen Christi geheftet oder mit den trüglichen Gewändern des christlichen Bekenntnisses umhüllt. Nein, dieses letztere war dem Christentum vorbehalten; und daher möge das schreckliche „Wehe dir!“ von allen gehört werden, welche Ohren haben zu hören – ein Wehe, dessen Ernst nur nach dem ungeheuren Umfang der Vorrechte und folglich der Verantwortlichkeit des Christentums gemessen werden kann.

Wenn indessen diese Zeilen durch jemanden gelesen werden sollten, welcher bis auf diesen Augenblick hin das Zeugnis des Evangeliums verworfen hat, so möchten wir ihn dringend ermahnen, für seine Person den ernsten Worten: „Wehe dir!“ das Ohr zu öffnen. Wir fürchten, dass vergleichsweise sehr wenige die schreckliche Verantwortlichkeit des beständigen Hörens und Verwerfens der Botschaft des Evangeliums fühlen. Wenn es für Kapernaum eine ernste Sache war, das auf diese Stadt scheinende Licht zu verwerfen, wie viel ernster ist es jetzt für jemanden, das weit glänzendere Licht zu verwerfen, welches ihm aus dem Evangelium der Gnade Gottes entgegen strahlt. Die Erlösung ist vollbracht, Christus ist als Fürst und Erlöser erhöht, der Heilige Geist ist herniedergekommen, die von Gott eingegebene Heilige Schrift ist vollständig – kurz, alles, was die Liebe tun konnte, ist geschehen. Wenn daher angesichts dieses angehäuften Lichtes und dieses großen Vorrechts ein Mensch im Unglauben bleibt und in der Sünde ungestört fortlebt, so hat er viele Ursache zu fürchten, dass wenigstens am Ende über ihn das Wort ausgerufen würde: „Wehe dir, du Verächter des Evangeliums!“ „Weil ich gerufen und ihr euch geweigert, meine Hand ausgestreckt, und niemand darauf geachtet, und ihr verworfen habt allen meinen Rat, und meine Zucht nicht gewollt: so will auch ich bei eurem Untergang lachen, ich will spotten, wenn euer Schrecken kommt; wenn euer Schrecken kommt wie eine Verwüstung, und euer Untergang hervorkommt wie ein Sturmwind, wenn Bedrängnis und Angst über euch kommt. Dann werden sie zu mir rufen, und ich werde nicht antworten; sie werden mich frühe suchen und mich nicht finden“ (Spr 1,24-28). Möge der Heilige Geist sich dieser Worte bedienen, um jeden sorglosen Leser aufzuschrecken und ihn zu den Füßen Jesu zu führen!

Richten wir jetzt für einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit auf die Hilfsmittel, welche der treue, der vollkommene, der göttliche Arbeiter in Gott fand. Ganz sicher hatte unser hochgelobter Herr seine Hindernisse und Widerwärtigkeiten in dieser gottlosen Welt. Hienieden war alles wider Ihn, so dass Er hätte versucht sein können zu sagen: „Vergeblich habe ich mich bemüht, unnütz und umsonst meine Kraft verzehrt“ (Jes 49,4). Allein Er hatte seine nie versiegenden Quellen in Gott. – „Zu jener Zeit antwortete Jesus und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dieses vor Weisen und Verständigen verborgen hast, und hast es Unmündigen offenbart. Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir. Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand erkennt den Sohn, denn nur der Vater; und niemand erkennt den Vater, denn nur der Sohn, und wem irgend der Sohn Ihn offenbaren will“ (V 25–37).

Hier also zeigen sich die Hilfsmittel – die reichen und mannigfaltigen Quellen des treuen Arbeiters, welcher Gott für alles danken konnte. Inmitten aller Dinge blieb er standhaft. Als das Zeugnis verworfen wurde, als die Botschaft tauben Ohren und unbeschnittenen Herzen begegnete, als der von seiner liebenden Hand gestreute, kostbare Samen auf den Weg fiel und von den Vögeln des Himmels hinweggetragen wurde, da konnte Er sein Haupt beugen und sagen: „Ich preise dich, Vater. Ja, Vater, denn also war es wohlgefällig vor dir.“ Auf seiner Seite zeigte sich nie etwas Mangelhaftes. Er wandelte und wirkte stets auf der geraden Linie der göttlichen Ratschlüsse. Also ist es nicht bei uns. Wenn unser Zeugnis verworfen wird, wenn unsere Arbeit hier oder dort vergeblich ist, so haben wir vielleicht nötig, nach der Ursache zu fragen, oder sogar uns selbst zu richten. Vielleicht waren wir nicht treu. Den Mangel an Früchten haben wir vielleicht uns selbst zuzuschreiben. Es würde vielleicht anders sein, wenn wir einfältiger und unterwürfiger gewesen wären. Wir würden vielleicht goldene Früchte eingeerntet haben, wenn sie uns nicht wegen unserer Fleischlichkeit oder Weltlichkeit hätten versagt werden müssen. Wir zeigten vielleicht Selbstbefriedigung, wo wir Selbstverleugnung hätten zeigen sollen. Wir waren vielleicht von Beweggründen beherrscht, die sich nicht geziemten. Kurz es konnten tausend Ursachen in uns selbst und in unseren Wegen sein, die unsere Arbeit und Mühe fruchtlos machten. Und in dieser Beziehung ist es, wenn sich unsere Arbeit als fruchtlos erweist, durchaus nötig, dass wir uns selbst richten und uns vor dem Herrn demütigen. Und je ernstlicher dieses geschieht, desto besser. Wir werden dann mit neuem Mut und Vertrauen unsere Arbeit wieder beginnen und fortsetzen können (Schluss folgt).

Fußnoten

  • 1 Um den letzten Teil dieses Verses zu verstehen, müssen wir zwischen dem persönlichen Charakter und Wandel Johannes des Täufers und seiner Stellung einen Unterschied machen. In Betreff seiner Person und seines Wandels konnten wenige, selbst im Reich, im Blick auf seine Absonderung und Widmung einen Vergleich mit ihm aushalten; aber betrachten wir ihn in seiner amtlichen Stellung, aus dem ihm in der göttlichen Haushaltung bestimmten Platze, dann nahm der Geringste im Reich einen besseren und höheren Platz ein. Dasselbe gilt in Bezug auf die alttestamentlichen Heiligen. Wenn wir z. B. Abraham mit dem Besten der Kinder Gottes in der Jetztzeit vergleichen, so steht der Vater der Gläubigen hinsichtlich seines persönlichen Glaubens, seiner Gotteserkenntnis und seiner aufrichtigen Ergebenheit vielleicht weit höher als sie; dennoch aber nimmt das schwächste Glied der Kirche Christi in dem göttlichen Haushalt einen Platz ein, woran Abraham, weil derselbe nicht offenbart war, nimmer dachte. Viele gottselige Leute unserer Tage übersehen die Würden und Vorrechte der jetzigen Heiligen, indem sie dieselben persönlich mit den Gläubigen des Alten Testaments vergleichen. Doch erinnern wir uns, dass durchaus nicht davon die Rede ist, was wir in uns selbst sind, sondern von dem Platz welchen Gott in der Anordnung seines Königreichs und Haushalts uns zu bestimmen für gut befunden hat. Und sollten wir nach seinem Wohlgefallen einen höheren Platz als die alttestamentlichen Gläubigen einnehmen, so dürfen wir denselben nicht aus falscher Demut ausschlagen, sondern müssen vielmehr Gnade suchen, um in dieser Stellung würdig zu wandeln.
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