Botschafter des Heils in Christo 1873
Der Gläubige - ein Brief Christi
Es ist von großer Wichtigkeit für uns zu wissen, was es heißt, „ein Brief Christi“ Zu sein, wiewohl sicher niemand die Tiefe einer solchen Berufung ergründen kann. Jede Versammlung von Gläubigen ist ein Brief Christi, um „gekannt und gelesen zu werden von allen Menschen.“ Die Gläubigen sind ein an die Welt gerichteter Empfehlungsbrief Christi. Die Welt bedarf dieses Zeugnisses des Lebens der Gläubigen, um Christus kennen zu lernen, obwohl sie ohne Zweifel auch aus seinem Wort diese Erkenntnis schöpfen kann. Die Wichtigkeit dieses Zeugnisses der Gläubigen tritt aber noch kräftiger ins Licht, wenn man dasselbe dem Zeugnis des Gesetzes, „geschrieben auf steinerne Tafeln“, gegenüberstellt. Sowie die zehn Gebote der Ausdruck des Willens Gottes unter der Haushaltung des Gesetzes waren, so ist jetzt die Versammlung das Bild Christi, „geschrieben nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln des Herzens“, „um die Tugenden dessen zu verkünden, der uns berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht.“
Der erste Zug aus dem Leben des Erlösers, woran ich hier erinnern möchte, ist, dass der Herr Jesus sowohl in seinen einfachsten Handlungen als auch in seinen Worten und in den Bewegungen seines Herzens, nie etwas getan hat, um sich selbst zu gefallen: „Denn auch Christus hat nicht sich selber gefallen“ (Röm 15,3). Also müssen auch wir uns nicht selber gefallen; „denn keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber“ (Röm 14,7). – Jesus hat gesagt: „Auf dass die Welt erkenne, dass ich den Vater liebe, und dass ich also tue, wie mir der Vater geboten hat“ (Joh 14,31).
Das war Gehorsam – ein Gehorsam, der der Ausfluss und die Offenbarung der Liebe war; nichts konnte Christus davon zurückhalten. Die Versuchung, um einem gegebenen Gebot nicht nachzukommen, kann sich in einer sehr schönen Form einstellen. So tritt z. B. Petrus, als der Herr zu seinen Jüngern sagte, dass Er viel leiden und getötet werden würde, zu Ihm hin mit den Worten: „Ei, behüte, Herr, dieses wird dir nicht widerfahren“ (Mt 16,22). Es war sicher Liebe für seinen Herrn, die ihn also sprechen ließ; aber der Herr achtete nicht auf seine Worte, weil Er sonst gegen das Gebot seines Vaters ungehorsam gewesen wäre. Vielmehr war seine Antwort: „Geh hinter mich, Satan, du bist mir ein Ärgernis; denn du sinnst nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was des Menschen ist“ (V 33).
Ein anderer Zug aus dem Leben des Herrn ist von nicht geringerer Bedeutung. Er wandelte nicht nur als Sohn des Menschen auf Erden, sondern sein Wandel war in Wahrheit im Himmel. Alle Neigungen, alle Gedanken seines Herzens waren himmlisch. Darum sagt der Apostel zu uns: „Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist“ (Kol 3,1–2).
Ferner sehen wir, dass die Gnade, welche Jesus offenbarte, nur den Zweck hatte, dem Elend, und den Schmerzen des Menschen in allen Umständen des gegenwärtigen Zeitlaufs zu begegnen. Wie mangelhaft zeigt sich dieses bei uns! Selbst wenn die Beweggründe unseres Handelns göttlicher Natur sind, so bringen wir doch so selten die Gnade zum Ausdruck. Dieses war bei Christus nie der Fall. Er war stets tätig zur Ehre Gottes; aber nie, bei keiner einzigen Gelegenheit, in keiner Handlung, verließ Er den Boden der Gnade. Oft bleiben wir nicht genug in Gemeinschaft mit Gott, weil wir Ihm nicht völlig vertrauen. Wir werden ungeduldig und nehmen, wie Jakob es tat, unsere Zuflucht zu Mitteln, die nicht aus Gott sind. Jakob hatte kein völliges Vertrauen zu Gott, um von Ihm den Segen abzuwarten, als ob Gott das Herz Isaaks zur Erfüllung seines göttlichen Ratschlusses nicht hatte bewegen können. Ebenso geht es oft mit uns. Wir gehen oft verkehrte Wege, weil wir nicht lange genug auf Gott warten, der sicher, wenn wir auch die Mittel nicht erkennen, seinen Willen ausführen wird. Saul wollte, als der siebente Tag anbrach, nicht länger das Opfer einstellen; aber kaum war dieses Opfer gebracht, als auch Samuel am Ende des siebenten Tages erschien, und Saul verlor sein Königreich. Dasselbe finden wir bei den Kindern Gottes; sie leiden stets Schaden, wenn sie ihr Vertrauen auf Gott verlieren. Christus stützte sich stets auf Gott; Er wartete stets auf Ihn; und darum war Er auch stets gegen jeden Schmerz und gegen jedes Elend gewappnet. Er bediente sich stets der Hilfsmittel, die in Gott sind, und darum konnte Er auch jeder Not, von welcher Art sie auch war, ins Auge sehen. Es ist sehr interessant, über diesen Gegenstand das fünfte Kapitel des Evangeliums Matthäus zu lesen. Jedes Seligsprechen ist ein Bild von Christus. Wer war so arm im Geist wie Er? Wer ein solcher Trauernder, wie Er? Wer hungerte und dürstete gleich Ihm nach der Gerechtigkeit? Sein ganzes Leben war ein solches Hungern und Dürsten. „Das Leben war das Licht der Menschen.“
Überdies war Jesus Sieger über jeden Widerstand, ja selbst über den Tod. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Kraft und einem guten Willen. Es ist möglich, dass eine lebendig gemachte Seele sagt: „Das Gute, das ich will, tue ich nicht;“ (Röm 7,19) doch wir werden nie völlig behaupten können, ein „Brief Christi“ zu sein, wenn nicht bei uns die Kraft vorhanden ist, welche jedes Hindernis, selbst den Tod beherrscht. Denn auch der Tod ist uns gegeben (1. Kor 3,22). Der Gläubige, lebend durch die Kraft des Lebens Christi, hat eine vollkommene Macht über den Tod.
Doch dieses ist nicht alles. Der Herr Jesus verleugnete in allen seinen Handlungen nie seine Liebe. Die Liebe bedarf keines Beweggrundes, um sich zu offenbaren. Sie macht uns fähig, selbst allen Widerwärtigkeiten Trotz zu bieten. Wird man – ins Angesicht geschlagen, so verleiht die Liebe die nötige Kraft, es zu ertragen, weil sie diese Kraft nicht aus den Umständen schöpft, sondern über allen Umständen erhaben ist. Nichts kann einem Gläubigen begegnen, was ihn von der Liebe Gottes scheiden könnte. Die Liebe, deren Gegenstand er ist, herrscht über alle Umstände. Wenn wir diese himmlische Gesinnung, die aus Gott ist, nicht offenbaren und nicht in einfältigem Gehorsam unseren Weg fortsetzen, dann sind wir nicht ein wahrer Brief Christi. Haben wir Christus nicht offenbart, so haben wir unsere Stellung verleugnet.
Nachdem uns nun der Apostel gezeigt hat, dass die Gläubigen Briefe Christi sind, gekannt und gelesen von allen Menschen, belehrt er uns, dass wir nicht durch den Dienst des Buchstabens, sondern durch den Dienst des Geistes in diese Stellung kommen. Der Buchstabe hat nach den Anforderungen Gottes in Bezug auf den Menschen gehandelt; es war selbstredend ein Dienst des Todes. Das Evangelium ist die Offenbarung Gottes, der nicht von der Höhe Sinais Gerechtigkeit fordert, sondern der in der Fülle seiner Gnade seine Gerechtigkeit offenbart und, um uns mit Ihm in Gemeinschaft zu bringen, seinen Sohn vom Himmel sendet. Und allen, die sich dieser Gerechtigkeit unterwerfen, ist der Heilige Geist als ein Unterpfand derselben gegeben; und der Geist ist in ihnen ein Geist der Kraft. Weil wir diese Gnade kennen, können wir mit Freimütigkeit den Menschen sagen, dass sie gottlos, böse und ohne Hoffnung sind, dass aber Gott in Christus eine vollkommene und diesem Zustand entsprechende Gnade offenbart hat. Wir können mit Freimütigkeit diesen Gott, als den Gott aller Gnade verkündigen. Die Kinder Israel konnten das Angesicht Mose nicht ansehen wegen der Herrlichkeit, die von demselben, wenn auch in Schwachheit, ausstrahlte; wir aber können freimütig die alles übertreffende Herrlichkeit Gottes ansehen, weil sie uns in dem Angesicht Jesu Christi entgegenstrahlt. Gerade diese Herrlichkeit ist es, die mir die Versicherung gibt, dass alle meine Sünden hinweggetan sind. Ich schaue die Herrlichkeit Gottes nicht im Dunkeln, sondern als die Herrlichkeit dessen, der meinen Platz einnahm und zur Sünde gemacht wurde, und der in dieser Herrlichkeit nicht sein könnte, wenn Er nicht alle meine Sünden hinweggetan hätte; denn meine Sünden würden diese Herrlichkeit nur verfinstern. Wie wunderbar! Wir sehen, dass Gott nicht nur unsere Seele in Gnaden besucht, sondern dass, so zu sagen, die Herrlichkeit den Platz unserer Sünden eingenommen hat. Und der Geist, der uns dieses alles mitteilt, wohnt in uns, so dass wir die Kraft besitzen, um in der uns von Gott angewiesenen Stellung wandeln zu können. „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“
Die Seele, welche sich der Gerechtigkeit Gottes unterwirft, wird ein Brief Christi, weil sie auf Christus in der Herrlichkeit schaut. Dieses ist nicht der Fall, wenn sie nur auf Jesus in seiner Niedrigkeit hienieden ihr Auge gerichtet hat; denn diese Niedrigkeit zieht uns wohl an, aber macht uns nicht frei. Heften sich hingegen unsere Blicke auf Christus in der Herrlichkeit, so werden wir „nach demselben Bilde verwandelt.“ Ein Herz, welches in der Herrlichkeit lebt, achtet alle anderen Dinge für Schaden und Dreck. Das ist die Gleichförmigkeit mit Christus. In der Verwirklichung dieser Dinge erkennen wir freilich bald die Schwachheit des Fleisches, aber der Blick des Glaubens auf Christus ist die wahre Überwindung. Der Apostel sagt: „Ich vermag alles, durch den, der mich kräftigt.“ Wir führen diese Wahrheit leider zu oft im Mund, ohne ihre Kraft erfahren zu haben. Wir können wohl sagen, dass ein Gläubiger alles durch Christus vermag; aber der Apostel konnte sagen: „Ich vermag alles, durch Christus“, denn er hatte dieses durch eine gründliche Erfahrung und durch schwere Kämpfe kennen gelernt.
Der Herr verleihe uns, dass wir die Kraft, die in Christus ist, wiewohl sie uns in den Staub beugt, immer mehr kennen lernen, auf dass wir in Wahrheit ein „Brief Christi“ sind, „gekannt und gelesen von allen Menschen!“