Botschafter des Heils in Christo 1872
Das Gericht des Christentums
In der Tat eine ernste Frage, wichtig genug, um das Gewissen eines jeden, der sie erwägt, zu ernstlichem Nachdenken zu erwecken; und der Herr befähige uns, die in seinem Wort so deutlich gegebene Antwort richtig zu erkennen.
Sicher kommen die Gerichte nicht, weil Gott zu richten liebt. „Gott aber sei wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner.“ – „So wahr ich lebe, spricht der Herr, Jehova, ich habe keine Lust am Tod des Gesetzlosen, sondern dass der Gesetzlose umkehre von seinem Weg und lebe! Kehrt um, kehrt um von euren bösen Wegen! denn warum wollt ihr sterben, Haus Israel?“ (Hes 33,11) Wenn Gott also rechtete mit Israel, so können wir versichert sein, dass Er ebenso wenig jetzt geneigt ist, das Gericht über das Christentum auszuführen. Bezüglich der Jetztzeit, in welcher Er Zögert, den schon längst gedrohten Schlag zu tun, findet der Verzug seine Deutung in den Worten: „Der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern Er ist langmütig gegen euch, da Er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen.“ – Nein, sicher hat Gott keine Freude an dem Gericht, sondern wird dazu gedrängt, weil die Menschen den „Reichtum seiner Gütigkeit, Geduld und Langmut verachten und sich selbst nach ihrer Störrigkeit und ihrem unbußfertigen Herzen Zorn häufen auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes.“
Aber das Gericht wird unausbleiblich kommen und zwar nach drei verschiedenen Richtungen hin. Es gibt ein Gericht über Israel, ein Gericht über die Nationen und ein Gericht über das Christentum. Für uns ist das Letztere von höchstem Interesse; und der Herr schenke uns das aufrichtige Verlangen, die ganze Wahrheit zu kennen und uns unter seine gewaltige Hand zu demütigen. Der Apostel Paulus bringt diesen Gegenstand in der nachdrücklichsten Weise vor unser Auge, wenn er sagt: „Siehe denn die Güte und die Strenge Gottes; gegen die, die gefallen sind, Strenge, gegen dich aber Güte Gottes, wenn du an der Güte bleibst, sonst wirst auch du ausgehauen werden“ (Röm 11,22). Schenken wir diesen Worten unsere vollste Aufmerksamkeit.
„Gegen dich aber Güte Gottes, wenn du an der Güte bleibst, sonst! wirft auch du ausgehauen werden.“ An wen richtet der Herr diese Worte? Es muss entweder ein einzelner Bekenner, oder eine Menschenmasse in ihrer Gesamtheit sein, und zwar personifiziert und angeredet durch den Apostel wie eine einzelne Person. Der Zusammenhang lässt uns auf das Letztere schließen. Der Hauptgegenstand des Kapitels ist die teil– und zeitweise Beiseitesetzung Israels, sowie die Einführung der gegenwärtigen Gesamtheit des größtenteils aus Nationen bestehenden, bekennenden Christentums, welches in die Stellung und Verantwortlichkeit des Volkes Gottes auf Erden eingetreten ist. Gott, indem Er hinter dem Vorhang im weltlichen Heiligtum wohnte und die jüdische Nation durch das Gesetz regierte, offenbarte sich als der Gott der Juden; Gott, der seinen Sohn aus den Toten auferweckte und Ihn zu seiner Rechten im Himmel erhöhte, und der den Heiligen Geist zur Verkündigung der frohen Botschaft zu verlorenen Sündern herniedersandte, ist auch der Gott der Nationen. Der Apostel sagt in dieser Beziehung: „Ist Er der Gott der Juden allein? Nicht auch der Nationen? Ja, auch der Nationen, sintemal es ein einiger Gott ist, der die Beschneidung aus Glauben und die Vorhaut durch Glauben rechtfertigen wird.“ Für die Masse der jüdischen Nation war dieses „ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses.“ Sie verwarfen die Gnade und wurden demzufolge selbst verworfen. Das Christentum, als ein bekennender Körper, hat deren Platz eingenommen und wird hier als eine Gesamtheit angeredet. Aber warum wird hier nicht von Israel als einer Gesamtheit gesprochen? Warum sagt der Apostel: „Gegen die, die gefallen sind, Strenge?“ Weil Israel nicht als eine Gesamtheit gefallen und bei Seite gesetzt ist. Es gab unter ihnen einen Überrest nach der Gnadenwahl, und dieser Überrest wurde mit denen aus den Nationen zusammengefügt, welche von damals an bis jetzt die Gesamtmasse des bekennenden Christentums gebildet haben. In Übereinstimmung hiermit wird uns unter dem Bild eines Ölbaumes vorgestellt, dass etliche der Zweige ausgeschnitten und andere von einem wilden Ölbaum an ihrer statt eingepfropft worden sind. Bezüglich des wilden Ölbaumes sagt der Apostel: „Du wirst nun sagen: Die Zweige sind herausgebrochen worden, auf dass ich (das Christentum, die bekennende Gesamtmasse) eingepfropft würde. Recht; sie (die natürlichen Zweige, die ungläubigen Juden) sind herausgebrochen worden durch den Unglauben; du (Christentum) aber stehst durch den Glauben. Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich; denn wenn Gott der natürlichen Zweige (der ungläubigen Juden) nicht verschont hat, dass Er auch dich (Christentum) etwa nicht verschonen werde. Siehe denn die Güte und die Strenge Gottes; gegen die (ungläubigen Juden), die gefallen sind, Strenge, gegen dich (Christentum) aber Güte Gottes, wenn du an der Güte bleibst, somit wirst auch du ausgehauen werden.“ Erkennen wir hier nicht deutlich in allen Einzelheiten den Vergleich zwischen der Gesamtmasse der wegen ihres Unglaubens ausgebrochenen und bei Seite gesetzten jüdischen Nation und dem Christentum, welches an deren Stelle gesetzt wurde und alle damit verbundenen Verantwortlichkeiten übernahm?
Drei Punkte erfordern hier unsere Verantwortlichkeit. 1. Was würden für das Christentum die Folgen gewesen sein, wenn es an der Güte geblieben wäre? 2. Ist es an der Güte geblieben? 3. Welches ist im Nicht–Fall das Urteil, das über dasselbe ausgesprochen ist?
Um die Folgen des Bleibens an der Güte zu prüfen, ist es nicht nötig, an die besondere Berufung der Kirche oder an irgendeines der höchsten Vorrechte und Würden derselben zu erinnern. Allerdings, wo diese erkannt werden, wird auch die Erkenntnis nicht mangeln, dass die gefallene Kirche ihre Schuld bedeutend vergrößert hat. Aber die Beweise des Apostels in diesem Kapitel ruhen auf niedrigerem Grund; und der sich unterscheidende Charakter des Christentums im Blick auf das, was die Kirche sein sollte, ist im Allgemeinen zur Genüge von den bekennenden Christen anerkannt, um einzusehen, welches die gesegneten Folgen des Bleibens an der Güte gewesen sein würden.
Was ist das Christentum? Es ist das Resultat der Wirksamkeit der Liebe Gottes in einer Welt voller Sünder, die in sich selbst verdorben und hoffnungslos verloren waren. Die ganze Welt war dem gerechten Gericht Gottes verfallen, bevor der Tag der Pfingsten mit seinen neuen Wundern göttlicher Segnungen und göttlicher Gnade anbrach. „Jetzt ist das Gericht dieser Welt“, – das waren die Worte Jesu, als das Kreuz vor seinen Blicken auftauchte. Juden und Heiden waren gemeinschaftlich unter der Macht Satans, des Fürsten und Gottes dieser Welt, und erhoben sich vereint gegen den Erben aller Dinge, den Sohn Gottes, den Herrn der Herrlichkeit, um Ihn zu verwerfen, zu kreuzigen und zu töten. Konnte die Gottlosigkeit des Menschen einen höheren Grad erreichen? Konnte sie noch greller ins Licht treten? Nicht nur hatten die Juden gänzlich das Gesetz gebrochen und die Nationen, indem sie sich im ersten Kapitel des Römerbriefes geschilderten Gräueln Hingaben, die ihnen von Gott verliehene Macht missbraucht, sondern beide führten vereint den Herrn zum Tod, als Er kam, um der Messias der Juden und ein Licht der Nationen zu sein. In Betreff Beider wurde es daher offenbar, dass „dieses das Gericht ist, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht, denn ihre Werke waren böse.“ Warum aber wurde dieses Urteil nicht sofort vollzogen? Es waren die im Herzen Gottes verborgenen Tiefen des Erbarmens und der Gnade, die am Pfingsttag enthüllt wurden, und die darin bestanden, dass Gott seinen Sohn Jesus auferweckt und zu seiner Rechten verherrlicht hatte, so dass alle Menschen, welche an Jesus glaubten, Vergebung der Sünden empfangen sollten. Das Blut Christi, durch die Menschen auf der Erde vergossen, hatte im Himmel für die Menschen gewirkt; und durch dasselbe offenbarte sich Gott als der barmherzige, aber dennoch gerechte Rechtfertiger des Schuldigsten, insofern derselbe an Jesus glaubte.
Das nun ist das Christentum. Im Blick auf den Tod, die Auferstehung und die Himmelfahrt Jesu Christi verkündet dasselbe, dass wegen dem Morden an dem Sohn Gottes der Mensch gottlos und verdammt und die Welt dem Gericht verfallen ist; aber es offenbart auch Zugleich, dass Gott die Sünden vergibt, anstatt sie zu rächen, und dass Er den an Jesus Glaubenden rechtfertigt, anstatt ihn zu richten. Wir erblicken hier eine überströmende Gnade, eine vergebende Barmherzigkeit, eine unendliche, unermessliche Liebe – und alles ist gegründet auf Gerechtigkeit und Heiligkeit kraft des Opfers Jesu in der vollkommenen, freien, ewigen Rechtfertigung aller, welche an Ihn glauben. Alle haben gesündigt. Alle sind verloren, alle erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes; aber allen verkündigt das Evangelium die freie Gabe der Gerechtigkeit durch das Blut Jesu. Das ist das Christentum.
Gerade hier war es, wo die Juden strauchelten. Wegen der Verwerfung des Evangeliums eines aufgefahrenen Christus kam der Zorn Gottes über sie; deshalb wurden so viele der natürlichen Zweige ausgehauen. Welch ein Reichtum göttlicher Güte, dieses Licht, durch dessen Verwerfung die Juden sich im Allgemeinen von aller Hoffnung auf ewiges Leben ausschlössen, dem Christentum anzuvertrauen! Es war nicht allein das Licht von vollkommener Heiligkeit und göttlicher Liebe in der Person und dem Wandel Christi, als Er auf Erden unter den Menschen einherging, sondern das Licht göttlicher Heiligkeit und Liebe, wie es sich in dem Kreuz Christi offenbarte. Es war eine Heiligkeit, welche unbedingt das forderte, was Er als Opfer für die Sünde am Kreuz litt, und eine Liebe, welche dem äußersten Hasse und der vollkommensten Bosheit des Menschen begegnete und darüber triumphierte in der Darbringung und Annahme eines solchen Opfers, welches eine völlige Versöhnung, eine vollkommene Gerechtigkeit und das ewige Leben allen denen mitteilt, welche einfältig an Christus glauben. Das ist das Licht, das reine, herrliche Licht der Güte Gottes, womit das Christentum betraut ist. –
Ist das Christentum an dieser Güte geblieben? Kann man dieses selbst bezüglich der Lehre bejahen? Ich möchte nicht missverstanden werden. Ich frage nicht, ob das Licht immer noch scheine. Gottlob, dafür ist gesorgt. Ich frage nicht, ob es seit dem Pfingsttag zu allen Zeiten etliche gegeben habe, die sich dieses Lichtes erfreuten und bereit waren, eher den Tod in seiner schrecklichsten Form zu erleiden, als dasselbe zu verleugnen, oder unter den Scheffel zu stellen. Gottlob, solche Zeugen waren steif vorhanden. Aber hat das Christentum in der Güte Gottes beharrt? Ach! dieses muss entschieden verneint werden. Der Galaterbrief zeigt uns, dass schon in den Zeiten der Apostel der Sauerteig einer falschen Lehre unter die Christen aus den Nationen gebracht wurde, und dass derselbe so mächtig um sich griff, dass er den ganzen Teig zu versauern drohte. Die „Kunde des Glaubens“ war es, wodurch der Geist unter ihnen gewirkt hatte und wodurch sie völlig freigemacht worden waren. Die eingedrungenen Irrlehrer dagegen suchten die Beschneidung einzuführen und die Erfüllung des Gesetzes Moses als eine notwendige Bedingung zur Errettung zu bezeichnen. Der durch die Liebe wirkende Glaube war nicht genügend. Man musste Tage, Monate, Zeiten und Jahre beobachten. Eine neue Schöpfung in Christus Jesus war nicht hinreichend; die Beschneidung, diese dem Fleisch nach große Unterscheidung, musste hinzugefügt werden. Das war die Lehre jener Irrlehrer. Sehen wir nicht in all diesem den Keim dessen, was nachher gesprosst, geblüht und volle reife Früchte hervorgebracht hat, die seit Jahrhunderten das ganze Christentum, und bis auf den heutigen Tag der größte Teil desselben zur Schau trägt. Und was anders ist dieses, als eine Verleugnung der Güte Gottes, in welcher das Christentum seinen Ursprung hat und wovon es der klare Ausdruck sein sollte? Hat nicht Jahrhunderte hindurch das ganze Christentum, und bis zu diesem Augenblick hin der größte Teil desselben, die Bekenner dieser Güte als Ketzer verflucht und verfolgt, weil diese es verwarfen, ein gutes, rechtgläubiges Glied dessen zu heißen, was sich anmaßt, die einzige wahre Kirche Christi zu sein? Ist das Christentum an der Güte Gottes geblieben? Sind etwa die Verketzerungen und Verfolgungen derer, die an der Gnade festhalten und dieselbe öffentlich bekennen, Beweise, dass dasselbe an der Güte geblieben ist? „Seid verflucht!“ hat der größte Teil des Christentums von Jahrhundert zu Jahrhundert denen zugerufen, welche sich festklammerten an jene Güte Gottes, die groß genug ist, um einen armen Sünder zu rechtfertigen und auf ewig zu erretten – einen Sünder, der sich seiner guten Werke rühmen kann und keine Satzungen zur Stütze hat, sondern einfältig an Christus glaubt und bezüglich der Errettung einzig und allein auf sein kostbares Blut vertraut. Und diese Verfluchung hat nicht nur in kurzen Augenblicken stattgefunden, wo vorübergehende böse Einflüsse herrschten, sondern ist als festgestellte Lehre der fortdauernde Gang des größten Teiles des Christentums, und zwar beurkundet in vielen Glaubens Formularen und ausgeführt mit einer Hartnäckigkeit, die nicht ihres Gleichen hat.
„Aber“ – könnte man vielleicht einweichen – „das ist Papsttum und nicht Christentum; letzteres finden wir in der Mitte der Märtyrer und der wahren Bekenner, mit deren Blut die Hände und Kleider des ersteren besudelt sind.“ – Aber was dann? Ist denn das Papsttum nicht die Religion eines großen Teiles des Christentums? Und wenn das Christentum nicht in dem Papsttum, sondern unter den Opfern seiner Grausamkeit und Wut zu finden ist, haben wir dann nicht den klarsten Beweis in Händen, dass das Christentum, wovon die so genannte römische Kirche einen so hervorragenden großen Teil bildet, nicht an der Güte Gottes geblieben ist? Was ist das Bekenntnis und der Ruhm des Papsttums? Betrachtet es sich nicht als die sichtbare, historische Fortsetzung dessen, was mit dem Wirken und dem Dienst Christi und seiner Apostel seinen Anfang nahm? Auch ich räume dieses ein. Aber wo ist die Gleichförmigkeit zwischen dem Christentum in seinen Anfängen und dem Papsttum der späteren Jahrhunderte? Muss nicht vielmehr die ernste Tatsache zugestanden werden, dass das Blut der Märtyrer Jesu hauptsächlich nicht durch heidnische Herrscher, sondern vielmehr durch jene Menschen vergossen worden ist, welche sich anmaßten, die Nachfolger der Apostel zu sein, und deren Würde von einer großen Majorität derer anerkannt wird, welche sich Christen nennen? Nein, das Christentum ist nicht an der Güte Gottes geblieben.
Es ist eine gesegnete Wahrheit, dass Gott zu allen Zeiten, selbst in den dunkelsten Perioden, Zeugen seiner Gnade erweckt hat, und ebenso wahr ist es, dass der Geist Gottes zu verschiedenen Zeiten mit besonderer Energie wirksam war, wie z. B. Zur Reformationszeit, deren gesegnetes Licht bis zu unseren Tagen hin hernieder geschienen hat. Aber obwohl das Wort Gottes, so zu sagen aus dem Grab wieder hervorgeholt, das herrliche Evangelium der Gnade Gottes allen Nationen verkündigt, manche Seele dadurch lebendig und freigemacht, und überhaupt ein Licht angefacht wurde, dessen Glanz uns noch heute umstrahlt, so ist doch weder damals noch seitdem etwas geschehen, wodurch der Zustand und die Masse des Christentums verändert worden wäre. Hätte auch eine Wiederherstellung das über das bekennende Christentum verhängte Gericht abwenden können, so hat eine solche doch nirgends stattgefunden. Das Papsttum erhielt durch die Reformation einen ernsten Schlag; aber obwohl dadurch für einige Zeit zum Schwanken gebracht, so hat es doch nur höchstens den dritten Teil seiner Anhänger eingebüßt, und ist bis zur Jetztzeit aufs Äußerste bemüht, an seinen Menschensatzungen festzuhalten und um jeden Preis die alte Macht wieder zu gewinnen. Auch müssen wir bedenken, dass, wenn die Reformation wirklich den Charakter des Christentums geändert hätte, dasselbe dennoch nicht die Vorschrift des „Bleibens an der Güte“ erfüllt haben würde. Es ist in der Schrift nicht von einer Wiederherstellung, sondern von einem „Bleiben an der Güte“ die Rede; es heißt: „Wenn du an der Güte bleibst, sonst wirst auch du ausgeschnitten werden.“ Nichts kann daher das Gericht abwenden.
Bisher haben wir unsere Aufmerksamkeit darauf beschränkt, um zu prüfen, ob das Christentum bezüglich der Lehre an der Güte geblieben ist oder nicht, und wir haben dieses verneinen müssen. Doch wir gehen weiter. Das Christentum sollte nach zwei Seiten hin ein lebendiges Beispiel und Zeugnis der Güte Gottes sein, indem es einerseits allen Nationen die Gnade Gottes gegen verlorene Sünder verkündigen und andererseits die Früchte dieser Gnade in denen, welche sich als Teilhaber derselben bekennen, zur Schau stellen sollte. Ist das Christentum in diesen Punkten an der Güte Gottes geblieben?
Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Judentum und dem Christentum besteht darin, dass ersteres sich auf ein Volk beschränkte, letzteres aber den Beruf hat, sich auszubreiten. Das Judentum bekannte sich zu dem Gottesdienst eines Volkes, welches äußerlich Gott nahegebracht war und welches, um Gott nahen zu können, eines Priestertums bedurfte. Das Christentum schließt die Voraussetzung in sich, dass alle Menschen ohne Unterschied wirklich verloren – tot in Sünden sind; und es verkündigt, dass der ganze Reichtum der Gnade Gottes und die ganze Kraft des Werkes Christi das Teil jedes armen Sünders ist, welcher durch Gnade an Christus glaubt. Hieraus geht klar hervor, dass, wenn alle von Natur gleich unter der Sünde und alle Glaubenden durch das Blut Christi gleich nahe zu Gott gebracht sind, alle im Judentum zwischen Priester und Volk bestandenen Unterschiede dem Christentum unbekannt sind, es sei denn, dass es sich um unseren Hohepriester, den Herrn Jesus Christus selbst handelt. Durch Ihn nahen wir zu Gott; und da dieses das Recht und Vorrecht aller Gläubigen ist, so sind auch alle Gläubige ohne Unterschied Priester; denn alle sind „ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation“, und alle sind berufen, „die Tugenden dessen zu verkünden, der sie berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht.“ Eine privilegierte Klasse von Priestern, welche Gott näherstanden als ihre Brüder, existierte im Judentum, ist aber dem Christentum gänzlich fremd. Christus allein hat ein solch unterschiedliches Priestertum.
Dagegen hat das Christentum etwas, das dem Judentum gänzlich fremd war, nämlich einen seinem Charakter angemessenen Dienst der Liebe als die Frucht der wirksamen Dazwischenkunft der Liebe Gottes gegen Kinder. Ich meine hier nicht den Dienst innerhalb der Versammlung der Kinder Gottes, wo der Heilige Geist durch verschiedene Gaben wirkt, die Er gibt und deren Er sich bedient, sondern jenen tätigen Dienst der Liebe, der die ganze Welt zu seinem Wirkungskreis hat und der uns das Wort des Apostels verstehen lässt: „So sind wir nun Gesandte für Christus, als ob Gott durch uns ermahnte. Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2. Kor 5,20). zur Erfüllung dieses Dienstes waren die Apostel und andere mit dem Heiligen Geist ausgestattet gemäß den Worten Christi: „Ihr werdet Kraft empfangen, nachdem der Heilige Geist über euch gekommen ist; und ihr sollt meine Zeugen sein, beides in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria, bis an die äußersten Teile der Erde.“ Und wiederum: „Geht hin in alle Welt und verkündigt das Evangelium jeder Kreatur.“ Das war der Befehl eines auferstandenen Erlösers, ein Befehl, dem eine kurze Zeit Folge geleistet wurde. So ging z. B. Paulus, indem er sich als Schuldner der Griechen und der Barbaren, der Weisen und der Unweisen bezeichnete, gedrungen durch die Liebe Christi, mit ungebeugtem Mut in seiner Missionstätigkeit vorwärts, um überall, wo ihm sein Meister die Türen öffnete, das Evangelium zu verkündigen. Wie manche Gegenden durchschritt sein Fuß! Wie viele Meere durchkreuzte er! Welchen Gefahren bot er die Stirn! Wie viele Misshandlungen erduldete er. Und welch ein Werk brachte Gott durch ihn zu Stand! War dieses denn der wahre Geist des Christentums? Wer könnte es leugnen?
Und nun fragen wir uns in allem Ernst: Ist das Christentum an der Güte Gottes geblieben? Wo sind jetzt so treue Arbeiter, wie Paulus und Timotheus? Ach! als man begonnen, allerlei kirchliche Verordnungen an Christi statt einzuführen, als man anfing menschliche Verdienste an die Stelle der Gnade, sowie tote Werke an die Stelle eines lebendigen Glaubens zu setzen, als endlich die Lehre der Güte Gottes, welche allein das wahre Christentum kennzeichnete, immer mehr verdunkelt wurde, da wurden auch die unausbleiblichen und natürlichen Folgen bald sichtbar. Der Eifer, das Evangelium jede Kreatur zu predigen, erkaltete; und als der Dienst der Liebe für Seelen abnahm, wurde das Verlangen nach einer besonderen Priesterschaft laut; und dieses passte zu dem Zustand solcher Seelen, welche noch kaum halb dem Götzendienst entrissen waren und keine Erkenntnis von der Gnade und der Freiheit des Evangeliums besaßen. Der Rückgang vollzog sich in überraschender Schnelle, und die Christenheit – eine Mischung von Judentum und Heidentum und einigen christlichen Lehren und Zeremonien – trat an die Stelle des wahren Christentums, indem man, um den Schein zu retten, die Form jenes heiligen und himmlischen Systems, dessen Kraft und Leben gänzlich entflohen war, zu erhalten suchte. Die einzigen Missionen, die Jahrhunderte hindurch von dem Christentum ausgingen, waren geleitet durch selbstsüchtige, ehrgeizige Priester, welche falsche Wunderwerke und politische Kunstgriffe anwandten, um unzivilisierte Horden zu verleiten, das auf solche Weise ihnen dargebrachte, entstellte Christentum anzunehmen.
„Aber“ – wird der Leser einwenden – „das ist wieder das Papsttum. Hat denn seit der Reformation keine Veränderung stattgefunden?“ – Gott sei Dank, eine Veränderung hat stattgefunden. Von dem Augenblick an, als das Evangelium der Gnade Gottes wieder verkündigt wurde, erwachte auch der Geist der Mission. Anfangs wandte sich die Missionstätigkeit der Reformation fast ausschließlich solchen Gegenden zu, wo die Bevölkerung unter dem Joch Roms seufzte; und erst nach der großen Erweckung im letzten Jahrhundert nahm sie eine andere Richtung und wählte sich unter den Heiden ihr Arbeitsfeld. Es war eine Zeit großartiger Unternehmungen. Und ob man hinsichtlich der Triebfedern und der Mittel, die mit diesem Werk in Verbindung standen, mannigfachen Bedenken Raum geben könnte, so versagt doch keine Stimme unter denen, die Christus lieben, der Tatsache dieses Wirkens, wodurch das Evangelium zu den finstersten Teilen der Erde gebracht wird, ihre vollste Anerkennung. Aber der Protestantismus rühmt sich seiner Missionen, und viele erwarten als deren Resultat die allgemeine Verbreitung des Evangeliums und die Herbeiführung der tausendjährigen Segnung. Die uns durch die Heilige Schrift enthüllte Tatsache, dass vorhergehende Gerichte den Weg zum tausendjährigen Reiche bahnen müssen, stößt im Allgemeinen auf solche Zweifel, dass man sich durch die Behauptung derselben der Gefahr aussetzt, als ob man die Zulänglichkeit des Evangeliums und die Kraft des Heiligen Geistes, um dasselbe für die Bekehrung der ganzen Welt wirksam zu machen, in Frage stelle. Sollte dieses auch das Gefühl irgendeines unserer Leser sein, so erlauben wir uns seiner aufmerksamen Prüfung einige Fragen vorzulegen, die er vielleicht noch nicht in Erwägung gezogen haben mag.
Glaubst du, mein Leser, denn wirklich, dass das Evangelium die Bestimmung hat, die ganze Welt zu bekehren, und dass die Kirche damit beauftragt und mit der Kraft des Heiligen Geistes dazu ausgerüstet ist? Was sagst du denn zu dem Betragen der Christenheit während der letzten achtzehn hundert Jahre, in welchen so wenig für die Ausbreitung des Evangeliums getan, und in welchen so wenige Fortschritte einem solchen Ziele entgegen gemacht worden sind? Du wirst ohne Zweifel zustimmen, dass dieses höchst beklagenswert und dass das Betragen der Kirche unverantwortlich ist. Aber dann hoffst du, dass sie noch wieder zum Gefühl ihrer Pflicht erwachen und mit Macht sich erheben werde, um die Nationen der Erde zu bekehren. Allein ich frage dich: Hat Gott nicht mit uns zu rechten wegen der achtzehnhundertjährigen Nachlässigkeit, Untreue und Sünde? Ohne nun wie du, zusagen, dass die Kirche beauftragt sei, die ganze Welt zu bekehren, darf ich doch zwei Dinge zu behaupten wagen: 1. dass die Kirche berufen war, eine treue Zeugin und Dienerin Christi zu sein, um auch nicht einen einzigen der menschlichen Familie ohne eine Botschaft der Erlösung durch seinen Namen zu lassen; und 2. dass jeder Hörer dieser Botschaft verantwortlich für die Annahme derselben ist. Und was anders als Unempfindlichkeit, Weltlichkeit und die Liebe zu fleischlicher Trägheit und Ruhe haben es verhindert, dass zu jedem Menschen auf dem Erdball das Evangelium gedrungen ist? Die Entdeckung von Goldminen lockt jährlich fast 50.000 Menschen nach entfernten Ländern und Inseln; und diese Goldsucher sind – wenigstens dem Namen nach – Christen. Wenn aber, meine Brüder, Christus unseren Herzen so teuer wäre, wie das Gold dem natürlichen Herzen, warum sollten nicht 50.000 Missionare im Lauf eines einzigen Jahres ausgehen, um die unerforschlichen Reichtümer Christi zu verkündigen? Ja, wenn auch nur der hundertste Teil der Energie, welche dem Streben nach Reichtum gewidmet wird, angewandt werden würde in dem Bestreben, das Evangelium zu verbreiten, so würde in kurzer Zeit keine Gegend, keine Stadt, keine Ansiedlung mehr gefunden werden, wo nicht der Schall desselben hingedrungen wäre. Und, meine Brüder, werden wir nicht wegen der Untreue in dieser Hinsicht zur Verantwortung gezogen? Hat Gott in dieser Beziehung nicht mit der Christenheit zu rechten? Ist das Christentum im Blick auf diese Dinge an der Güte Gottes geblieben? Es ist eine unumstößliche Wahrheit, dass das wiederhergestellte Israel „blühen und sprossen und die ganze Erde mit Früchten erfüllen wird.“ Wenn das Christentum, der wilde Ölzweig, wegen seines Nichtverbleibens an der Güte Gottes ausgeschnitten sein wird, so werden die natürlichen Zweige wiederum eingepfropft werden in ihren eigenen Ölbaum; und soweit die Menschen als Werkzeuge in dieser Welt angestellt sind, werden sie dazu dienen, die ganze Welt unter das Zepter Christi zu bringen. Den Christen gehört das Vorrecht, sowie auch die Verantwortlichkeit, Zeugnis von der vollkommenen Gnade und Güte abzulegen, worin Gott durch das Opfer Christi einen Weg gefunden, in Heiligkeit und Gerechtigkeit den Gottlosen zu rechtfertigen, der durch Gnade an Christus glaubt. Aber ach, wie ist dieses Vorrecht vernachlässigt, wie ist die Verantwortlichkeit vergessen worden! Wie wenig ist das Christentum an der Güte Gottes geblieben! Wie gewiss und unvermeidlich daher die Folge: – „auch du wirft ausgehauen werden!“ –
Ein anderer Punkt verdient nicht weniger unsere Aufmerksamkeit. Nicht allein sollte es durch die tätige Verbreitung des Evangeliums erkennbar sein, dass das Christentum eine lebendige Offenbarung der Güte Gottes zu sein bestimmt war, sondern die Wirkung in den Christen selbst sollte zu demselben Zwecke dienen. Andere das zu lehren, was sie selbst praktisch verleugneten, war die Sünde der natürlichen Zweige (siehe Röm 2); und nimmer konnte es der Zweck Gottes sein, dass die Christen, nachdem sie statt der herausgebrochenen Zweige eingepfropft waren. Ihn der Lehre nach verkündigen sollten, während sie in ihrem Wandel und in ihren Werken Ihn verleugneten. Daher finden wir auch, dass der Herr, sowie die Apostel das größte Gewicht auf die Offenbarung der Gnade Gottes durch einen lebendigen, praktischen Wandel legen. „Ihr seid das Licht der Welt.“ „Eine Stadt, die auf dem Berg liegt, kann nicht verborgen sein. Lasst euer Licht leuchten vor den Menschen, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ „Hierin ist mein Vater verherrlicht, dass ihr viele Frucht bringt.“ „Wandelt nur würdig des Evangeliums des Christus!“ „Auf dass ihr tadellos und lauter seid, unbescholtene Kinder Gottes, inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechtes, unter welchem ihr scheint als Lichter in der Welt, darstellend das Wort des Lebens.“ – Es würde leicht sein, noch viele solcher Schriftstellen anzuführen und dadurch Zugleich den: Leser die Frage aufs Gewissen zu legen, ob wir (d. h. das bekennende Christentum im Allgemeinen) in dieser Beziehung Gott verherrlicht und als Lichter in der Welt geschienen haben. Wir wollen jedoch diese Frage noch vereinfachen, um leichter eine bestimmte Antwort geben zu können. Es war das Wohlgefallen unseres hoch gepriesenen Herrn, uns in der ausgedehntesten Art verstehen zu lassen, in welcher Weise wir die Welt hätten glauben machen können, dass der Vater Ihn gesandt habe. Er hatte vorher zu seinen Jüngern gesagt: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unter einander habt.“ Aber in der Schriftstelle, ans welche ich mich hier besonders beziehe, ist es der Vater selbst, zu dem der Herr spricht. Auch ist es nicht allein für die Apostel, oder für die damals lebenden Jünger, für die Er bittet, denn Er sagt: „Ich bitte nicht für diese allein, sondern auch für die, welche durch ihr Wort an mich glauben, auf dass sie alle eins seien, gleich wie du Vater in mir, und ich in dir, auf dass auch sie in uns eins seien, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,20–21). Sicher sollte die Einheit unter den Jüngern des Herrn, für welche Er bittet, eine sichtbare Einheit sein. Wie würde sie sonst einen Einfluss auf die Welt ausüben und dieselbe veranlassen können, zu glauben, dass der Vater Ihn gesandt habe?
Nun denn, eine solche Einheit existierte in der ersten Zeit des Christentums. „Die Gläubigen alle aber waren zusammen.“ – „Die Menge aber derer, die gläubig geworden, war ein Herz und eine Seele“ (Apg 2,44; 4,32). In jenen Tagen gewahrte man, wenn auch nur für eine kurze Zeit, sowohl im Wandel, als auch in der Lehre die Offenbarung jener Güte Gottes, welche das Christentum zu verkündigen bestimmt war. Ist nun das Christentum in dieser Hinsicht an der Güte Gottes geblieben? Ich spreche jetzt nicht von der so genannten römischen Kirche. Sie macht auf Erden Anspruch auf sichtbare Einheit. Was der Charakter und Wert dieser Einheit ist, werden wir später zu beantworten suchen. Wer aber vermag in der großen Wiederbelebung des Lichts des Evangeliums in der Reformationszeit einer (Gnade, für welche wir Gott nicht genug danken können) irgendeine Zurückführung zu dem ursprünglichen Standpunkt der Kirche hinsichtlich der sichtbaren Einheit zu finden? Ach, meine Brüder! es ist, – wie demütigend auch die Anerkennung sein mag – unmöglich zu leugnen, dass, wohin auch das Licht am hellsten geschienen, eine Spaltung nach der anderen entstanden ist. Ich sage nicht, dass die Spaltungen das Resultat des Lichtes waren, welches zurzeit der Reformation frisch zu scheinen begann. Das sei ferne; aber dass diese Spaltungen dem anbrechenden Licht auf dem Fuß folgten, wer würde es zu leugnen wagen? Wenden wir bei der Frage, ob wir an der Güte Gottes geblieben sind, einmal unsere Blicke von der römischen Kirche ab, und betrachten wir nur jenen Teil der Christenheit, wohin das Licht der Reformation seine Strahlen geworfen hat – würde gesagt werden können, dass die Gläubigen inmitten dieser Grenze so ersichtlich eins sind, dass die Welt zu der Anerkennung, der Vater habe den Sohn gesandt, gezwungen ist? Ach! ist es nicht im Gegenteil unleugbar, dass unsere offenbaren und unzähligen Spaltungen von Anfang an die Schmähungen der römischen Kirche und die Einwendungen der Gottesleugner unserer Zeit hervorgerufen haben, indem man von uns verlangt, unter einander in Übereinstimmung zu sein, bevor wir eine Unterwürfigkeit des Herzens und eine Erkenntnis der Offenbarungen des Wortes Gottes beanspruchen können. Freilich vermögen weder die Schmähungen der römischen Kirche, noch die Entschuldigungen des Unglaubens die Verantwortlichkeit, auf die Stimme Gottes zu lauschen, von der Seele eines Menschen hinweg zu nehmen; aber sind wir deshalb weniger schuldlos? Wir hätten durch unsere Einheit ein Licht sein sollen, um die Menschen zu Christus zu ziehen; aber stattdessen sind wir wegen unserer Spaltungen ein Stein des Anstoßes auf ihrem Weg. Wohl ist es wahr, dass nur der strauchelt, welcher, um Christus zu verwerfen, einen Vorwand sucht; aber sind wir deshalb weniger strafbar, indem wir denen, die einen Vorwand suchen, einen solchen darbieten? Ich spreche nicht über die Ursachen unserer Spaltungen, auch nicht über ein Heilmittel dagegen; ich spreche über eine unleugbare Tatsache, auf welche ich die ernste Aufmerksamkeit meiner Brüder unter Gebet hinlenken möchte. Es ist nutzlos, die Schuld von sich ab und auf den anderen schieben zu wollen. Wir alle sind verantwortlich dafür; es ist unsere gemeinschaftliche Sünde, unsere gemeinschaftliche Schande. Zugleich aber ist es unzertrennlich verbunden mit dem ernsten, unwiderruflichen Ausspruch: „Gegen dich die Güte Gottes, wenn du an der Güte bleibst; sonst dieses (ist die auf uns anwendbare Klausel) wirst auch du ausgehauen werden.“
Die römische Kirche macht in der Tat Anspruch auf Einheit und rühmt sich derselben als einer ihrer Hauptansprüche zu allgemeiner Anerkennung und Würdigung. Was aber ist die Einheit, worin sie ihren Stolz sucht? Ist es die Einheit des Geistes, jene heilige Einheit, für welche der Erlöser seine Fürbitte erhebt! Diejenigen, um derentwillen der Herr eine wirkliche und offenbare Einheit erbittet, sind vorher von Ihm beschrieben worden. Hören wir sein Wort: „Ich habe deinen Namen offenbart den Menschen, die du mir aus der Welt gegeben hast.“ Sie waren Ihm also aus der Welt gegeben. Und weiter: „Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hat sie gehasst, weil sie nicht von der Welt sind, gleich wie ich nicht von der Welt bin.“ „Gerechter Vater! und die Welt hat dich nicht erkannt ... und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast.“ Sie, um deren Einheit Jesus den Vater bittet, sind, inmitten einer Welt, die weder den Vater noch den Sohn kennt, von dieser Welt abgesondert durch die lebendige Erkenntnis Beider. Sie sind so wenig von der Welt, wie Jesus es war, und überdies Gegenstände des Hasses der Welt, wie es auch der Meister war. Jenen, die den Herrn aufforderten, sich der Welt zu zeigen, hatte Er geantwortet: „Meine Zeit ist noch nicht da, eure Zeit aber ist stets bereit. Die Welt kann euch nicht hassen, mich aber hasst sie, weil ich von ihr zeuge, dass ihre Werke böse sind“ (Joh 7,6–7). Und in diesem seinem Charakter erblickt Er die Seinen, um deren Einheit Er bittet. Und wie wenig entspricht die Kirche in unseren Tagen dieser Bitte! Wie gang anders war der Zustand, wenn wir lesen: „Durch die Hände der Apostel geschahen viele Zeichen und Wunder unter dem Volk; und sie waren alle einmütig in der Säulenhalle Salomons. Von den Übrigen aber wagte es keiner, sich ihnen anzuschließen, sondern das Volk erhob sie. Aber immer mehr Gläubige wurden dem Herrn hinzugetan, eine Menge, sowohl Männer als Weiber.“ Da war eine Anziehungskraft, der niemand zu widerstehen vermochte, – das Volk erhob sie. Zugleich aber offenbarte sich unter den Gläubigen so augenscheinlich die Gegenwart Gottes, dass sich von den Übrigen niemand anzuschließen wagte. Nur Gläubige, die dem Herrn hinzugefügt wurden, schlossen sich der Versammlung an, und alle bildeten eine Einheit. Kann sich die römische Kirche einer solchen Einheit rühmen? Ist es nicht vielmehr eine Einheit, die dadurch bewirkt und unterhalten ist, dass, indem ganze Nationen im Namen Christi getauft werden, um sie der Kirche einzuverleiben, die Welt selbst als die Kirche betrachtet wird. Statt eine Einheit der Gläubigen mit dem Vater und dem Sohn, ist es eine Einheit der Welt unter einer christlichen Form, eine Einheit derer, welche anstatt wie Christus gehasst zu werden, selbst die Welt bilden und die Hasser und Verfolger derer sind, die in Wahrheit den Namen Christi bekennen.
Aber fragen wir uns ernstlich: Ist die römische Kirche die einzige Form des Christentums, welche die Grundsätze der Vereinigung mit der Welt Azur Schau trägt? Der Christus, mit dem die ersten Christen eins waren, war ein von Menschen verworfener Christus. „Wer mm irgendein Freund der Welt sein will, stellt sich als Feind Gottes dar“ (Jak 4,4). Liegt die Sünde nicht vor der Tür eines jeden Teiles des Christentums? Ach! wer von uns ist in dieser Beziehung rein? Ist es nicht Vereinigung mit der Welt, anstatt Trennung von derselben, was die ganze Masse des Christentums kennzeichnet? Und was wird das Ende dieser Dinge sein? Unsere Schriftstelle antwortet: „Gegen dich die Güte, wenn du an der Güte bleibst, sonst wirst auch du ausgehauen werden.“
Und nun, mein Leser, richte ich die Frage an dich: Kann noch ein Zweifel zurückbleiben bezüglich der drei Punkte, die wir betrachtet haben? Wäre die Kirche geblieben, was sie früher war, nämlich die herrliche Zeugin der freien Liebe Gottes gegen verlorene Sünder – hätte sie in der Tätigkeit der Liebe und der Kraft des Heiligen Geistes ihre Mission ausgeführt, die Liebe Gottes jedem Geschöpf zu verkündigen – hätte sie fortgefahren, durch ihre offenbarte Einheit der lebendige Ausdruck dieser Liebe zu sein, und hätte sie endlich ihre heilige Absonderung von der Welt bewahrt, wie Christus es während seines Dienstes und Zeugnisses auf Erden tat, – dann würden sie an der Güte Gottes geblieben sein. Wir haben aber gesehen, dass während vieler Jahrhunderte die große Masse derer, die den Namen Christi tragen, selbst der Lehre nach die das Christentum unterscheidende Güte leugneten und noch immer leugnen; und dass, anstatt alle Menschen mit dieser Güte bekannt zu machen, wir so sehr mit der Verfolgung anderer Zwecke beschäftigt sind, dass der Mammon in einem Jahr viel mehr Pilger im Suchen des Goldes aufweisen kann, als der christliche Eifer im Suchen der Seelen während vieler Jahrhunderte; und dass endlich, anstatt durch unsere Einheit Seelen zu Christus zu führen, vielmehr unsere Spaltungen sie zurückschrecken und Veranlassung zum Straucheln und zum Widerstreben geben. Die Folgen sind daher unabwendbar. Das Urteil ist ausgesprochen und kann nicht widerrufen werden. Das Aushauen wird stattfinden müssen. „Auch du wirst ausgehauen werden.“ Welch eine Aussicht! Wie sehr unterscheidet sie sich von den Träumen des zunehmenden Lichts, Fortschritts und Segens, mit denen sich so viele Christen schmeicheln! Wie schrecklich wird die Überraschung sein, wenn einmal die traurige Wirklichkeit die Stelle der Träume einnehmen wird! „Darum, dass sie mein Volk verführen und sprechen: Friede! und es ist kein Friede; und dieser baut eine Wand, und siehe, jene übertünchen sie mit losem Kalk. Sprich zu denen, die mit losem Kalk tünchen, dass sie umfallen wird; es kommt ein überschwemmender Platzregen. ... Und ich will abbrechen die Wand, die ihr mit losem Kalk getüncht habt ... und sie wird fallen, und ihr werdet in ihrer Mitte umkommen, und ihr werdet wissen, dass ich Jehova bin“ (Hes 13,10.14). Freilich waren diese Worte über die Propheten Israels ausgesprochen, welche über Jerusalem prophezeiten und Gesicht des Friedens bezüglich der Stadt sahen, wenn kein Friede in ihren Mauern war. Doch gilt nicht auch uns diese Warnung? Wenn Gott sagt, dass das Christentum ausgehauen werden soll, der Mensch hingegen, dass es mehr und mehr blühen, bis die ganze Welt bekehrt und das tausendjährige Reich eingeführt sein werde, ist dann diese dem Christentum vorgespiegelte, falsche Hoffnung weniger vor Gott verwerflich, als die Handlung der falschen Propheten? Wird eine mit losem Kalk übertünchte Wand in jetziger Periode haltbarer sein, als An früheren Tagen? Sagt nicht der Herr bezüglich des Tages des kommenden Gerichts, dass er kommen werde wie eine Schlinge über alle, die auf Erden wohnen? Und sagt uns nicht Paulus: „Wenn sie sagen werden: Friede und Sicherheit! so wird das Verderben plötzlich über sie kommen, wie die Geburtswehen über die Schwangere, und sie werden nicht entfliehen?“ Traf nicht der Zusammensturz Babylons gerade in dem Augenblick der stolzesten Höhe seiner eingebildeten Sicherheit ein? „Sie sagt in ihrem Herzen: Ich sitze als eine Königin und bin keine Witwe und werde keine Trübsal sehen. Deshalb werden ihre Plagen kommen an einem Tag, Tod und Traurigkeit und Hungersnot, und sie wird verbrannt werden mit Feuer, denn stark ist der Herr, Gott, der sie richtet.“ Und ist das an Sardes (Off 2) gerichtete Wort nicht ebenso ernst: „Wenn du nun nicht wachen wirst, so werde ich über dich kommen wie ein Dieb, und du wirst Nichtwissen, um welche Stunde ich über dich kommen werde?“ „Wer ein Ohr hat, der höre!“
Wir dürfen indessen die Erwartungen der wahren Kirche Christi nicht mit dem bevorstehenden Gericht des Christentums vermischen. Bevor die Sintflut über die schuldigen Bewohner der alten Welt kam, wurde Henoch gen Himmel aufgenommen, während Noah durch die mächtigen Fluten hindurch kam, um die Erde wieder zu bevölkern und herzustellen. Bevor Sodom durch Feuer Zerstört wurde, befand sich Abraham fürbittend in Gemeinschaft mit Gott, während Lot aus dem Verderben errettet wurde. Nachdem die meisten der natürlichen Zweige in Folge ihres Unglaubens ausgeschnitten waren, blieb ein Überrest nach der Gnadenwahl, welche zusammen mit den Gläubigen aus den Heiden zu einem Leib vereinigt wurden – zu dem auserwählten Leib, auf dessen Vollständigkeit Gott wartet, bevor Er aufs Neue beginnt, im Gericht gegen diese Welt zu handeln. Sicher werden die schwersten aller Gerichte das Christentum treffen wegen seines Nichtbleibens an der Güte Gottes. „Jener Knecht, der den Willen seines Herrn weiß und sich nicht bereitet, noch seinen Willen getan hat, wird mit vielen Schlägen geschlagen werden.“ Bevor jedoch das Gericht über das Christentum hereinbricht, wird die wahre Kirche, wie Henoch, zum Himmel aufgenommen sein. Die natürlichen Zweige – ein Überrest aus den Juden – werden, wie Noah und Lot, durch alle kommenden Gerichte hindurch bewahrt und in ihren eigenen Ölbaum wieder eingepfropft werden. Diese mit vielen übriggebliebenen Heiden werden die Bevölkerung des tausendjährigen Reiches bilden, über welche Christus und seine verherrlichten Heiligen regieren werden.
Am Pfingsttag und während einer kurzen Zeit nachher waren die wahre Kirche und das Christentum gleichbedeutend. Doch der Feind hat Unkraut unter den Weizen gesät; reißende Wölfe sind eingedrungen und haben der Herde nicht geschont. Das Geheimnis der Bosheit, schon zurzeit der Apostel wirksam, hat fortgewirkt, und die Folge davon ist, dass das Christentum nicht an der Güte Gottes geblieben ist. Trotzdem hat jedoch die wahre Kirche nicht aufgehört zu existieren. Alle, welche durch Gnade lebendig gemacht und gläubig geworden sind an Christus Jesus, bilden den Leib Christi, in welchem der Heilige Geist wohnt. Das Aushauen des Christentums kann daher nimmer das Leben auch nur eines der Glieder dieses auserwählten Leibes, der Braut Christi, berühren. „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nie umkommen, noch wird jemand sie aus meiner Hand rauben.“ – „Weil ich lebe, werdet auch ihr leben.“ – Wie aber sollen wir diese köstliche Gewissheit des ewigen Lebens anwenden? Gewiss nicht, um uns gegen jene Übel zu entschuldigen, oder Nachsicht mit denselben zu haben, welche die schwersten Gerichte Gottes nach sich ziehen werden. Nein, wir sollen uns der unumstößlichen Gewissheit erfreuen, dass wir mit unserem Haupt und Bräutigam in der Herrlichkeit sein werden, die der Vater Ihm gegeben hat. Lasst uns dafür umso dankbarer sein, da wir das Ende der Welt, – einer christlichen Welt, wie sie sich selbst nennt – kennen; lasst uns aber auch nicht vergessen, dass „wer diese Hoffnung zu Ihm (zu Christus) hat, sich selbst reinigt, wie Er rein ist.“ Der Herr schenke uns die volle, heiligende Kraft der himmlischen Hoffnung, die uns durch seine freie Gnade zu Teil geworden ist!
Wir sind hinreichend identifiziert oder eins gemacht mit dem Christentum durch ein gemeinschaftliches Bekenntnis der christlichen Lehre und leider durch persönliche Teilnahme an dessen Feinden, um das Gericht der Ausscheidung zu empfinden und uns vor Gott zu demütigen. Als Josia vernahm, dass das über Israel und Juda verhängte Gericht nicht abgewandt werden konnte, so demütigte er sich vor dem Herrn, obwohl ihm persönlicher Schutz zugesichert war. Die Gerichte konnten nicht abgewandt werden, aber die Bußfertigkeit Josias ward von Gott völlig anerkannt. „Weil dein Herz erweicht worden und du dich gedemütigt hast vor Gott ... siehe ich will dich sammeln zu deinen Vätern ... und deine Augen sollen nicht ansehen all das Unglück, das ich über diesen Ort und über seine Bewohner bringen werde“ (2. Chr 34,27–28). Unsere Hoffnung in nun nicht, durch den Tod, sondern durch die Aufnahme der Gläubigen von der Stätte des Gerichts hinweg gerückt zu werden. Sicher aber kann die Wirkung einer solchen Hoffnung das Herz nicht gleichgültig machen gegenüber der Schmach, die dem Namen des Herrn durch die Sünden derer zugefügt wird, die – sei es in Wirklichkeit oder der Form nach – diesen Namen tragen. Wir gehören jenem Christentum an, welchem Christus – während seiner Abwesenheit – seine Ehre anvertraut hat. Können wir uns weigern, unsere Häupter mit Scham zu beugen, uns zu demütigen und Ihn zu rechtfertigen, der bald als Richter erscheinen wird, um die Würde seines Namens zu behaupten? Das Christentum mag seine Herrlichkeit aus den Augen verloren haben, Er aber wird sie ans Licht stellen zur Verherrlichung seines Vaters, zur Freude seiner Heiligen, zur Verwirrung seiner Widersacher und zur Erlösung einer gedrückten, seufzenden Schöpfung. – Preis und Anbetung und Herrlichkeit seinem Namen in Ewigkeit!