Botschafter des Heils in Christo 1872
Hiob und seine Freunde - Teil 2/2
4.: Je näher wir auf die zwischen Hiob und seinen Freunden geführte Unterhaltung eingehen, desto klarer erkennen wir die völlige Unmöglichkeit eines gegenseitigen Verständnisses. Er bot alles auf, um sich selbst zu rechtfertigen; und sie boten alles auf, um ihn zu beschuldigen. Er war ungebrochen und nicht unterworfen, während ihre Handlungsweise ganz und gar geeignet war, ihn in diesem Zustand gänzlich bloßzustellen. Wenn man auf beiden Seiten die richtige Stellung eingenommen hätte, so würden die Resultate ganz anders gewesen sein. Hätte Hiob sich selbst verurteilt, hätte er sich als nichts betrachtet, so würden die Freunde nichts mehr zu sagen gewusst haben. Und wenn andererseits sie in sanfter, gewinnender Weise mit ihm verfahren hätten, so würden sie weit eher sein Herz getroffen haben. Wie jetzt die Sache lag, zeigte sich nirgends ein günstiger Ausweg. Er vermochte nichts Unrechtes an sich zu sehen, und sie konnten nichts Gutes an ihm finden. Er war fest entschlossen, seine Rechtschaffenheit aufrecht zu erhalten; und sie bemühten sich ebenso eifrig, Schäden und Mängel bei ihm ausfindig zu machen. Es gab bei ihnen durchaus keinen Berührungspunkt – keinen gemeinschaftlichen Boden zum Verständnis. Er hatte keine bußfertigen Seufzer für sie; und sie hatten kein zärtliches Mitleiden für ihn. Auf beiden Seiten arbeitete man nach einer entgegen gesetzten Richtung; und auf diesem Weg konnten sie nimmer zusammentreffen. Es war daher ein Dienst von ganz anderer Art erforderlich; und dieser Dienst wird in der Person des Elihu eingeführt.
„Und es hörten jene drei Männer auf, dem Hiob zu antworten, weil er in seinen Augen gerecht war. Da entbrannte der Zorn Elihus, des Sohnes Baracheels, des Busiters, vom Geschlecht Ram; es entbrannte sein Zorn wider Hiob, darum dass er seine Seele mehr rechtfertigte denn Gott. Auch entbrannte sein Zorn wider seine drei Freunde, darum dass sie keine Antwort fanden und doch Hiob verdammten“ (Hiob 32,1–3).
Mit einer außerordentlichen Kraft fasst hier Elihu die Dinge auf beiden Seiten bei der Wurzel an. Er gibt in zwei kurzen Aussprüchen einen Auszug von dem ganzen Inhalt einer weitschweifigen, neunundzwanzig Kapitel ausfüllenden Unterhaltung. Hiob rechtfertigte sich selbst, anstatt Gott zu rechtfertigen und sich selbst zu verurteilen, und die Freunde verurteilten Hiob, anstatt ihn zu locken. Es ist eine sehr beherzigenswerte Wahrheit, dass, wenn wir uns selbst rechtfertigen, wir Gott verurteilen; und dass wir Ihn rechtfertigen, wenn wir uns selber richten. „Die Weisheit ist gerechtfertigt von all ihren Kindern.“ Das wirklich gebrochene Herz wird Gott um jeden Preis rechtfertigen. „Gott aber sei wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner, wie geschrieben steht: Dass du gerechtfertigt seist in deinen Worten und überwindest, wenn du gerichtet wirst“ (Röm 3,4). Am Ende muss Gott die Oberhand haben– und Ihm dieselbe jetzt schon einzuräumen, ist der Pfad der wahren Weisheit. In demselben Moment, wo die Seele durch ein aufrichtiges Selbstgericht gebrochen und gebeugt ist, steht Gott vor ihr in der ganzen Majestät seiner Gnade als ein Rechtfertiger. Aber so lange wir durch einen Geist der Selbstüberhebung beherrscht sind, sind wir getrennt von der Glückseligkeit des Menschen, dem Gott ohne Werke Gerechtigkeit zurechnet. Die größte Torheit, deren sich jemand schuldig machen kann, ist, dass er, wenn Gott Sünde zurechnen muss, sich selbst rechtfertigt.
Doch Hiob hatte noch nicht gelernt, diesen gesegneten Pfad zu betreten. Beständig baute er auf seine eigene Vortrefflichkeit, beständig kleidete er sich in seine eigene Gerechtigkeit, beständig hatte er Gefallen an sich selbst. Darum war der Zorn Elihus wider ihn entbrannt. Der Zorn begegnet stets der Eigengerechtigkeit. Der einzige wahre Boden, den ein Sünder betreten kann, ist der Boden aufrichtiger Buße. Dort gibt es nichts, als die reine und kostbare Gnade, welche herrscht „durch Gerechtigkeit, durch Jesus Christus, unseren Herrn“. Die Selbstgerechtigkeit hat nichts als Zorn, das Selbstgericht nichts als Gnade zu erwarten. Beachtenswerte Wahrheit!
Auf welchem Boden befindest du dich, mein Leser? Hast du dich in wahrer Reue vor Gott gebeugt? Hast du dich je einmal gemessen in seiner heiligen Gegenwart? Oder stehst du auf dem Boden der Eigengerechtigkeit und der Hochschätzung deiner selbst? Wir bitten dich dringend, diese höchst ernste Frage gründlich zu erwägen. Tritt vor Gott hin. Er will uns vor sich haben in unserem wirklichen Zustand. Es ist durchaus nutzlos, wenn wir uns auf unsere eigene Meinung stützen; denn nichts ist sicherer, als dass wir einmal mit dieser Meinung brechen müssen. Der Tag des Herrn wird alles Hohe erniedrigen, und alles Niedrige erhöhen; und daher ist es unsere Weisheit, jetzt schon den Platz der Erniedrigung und des Gebrochenseins einzunehmen; denn von diesem Platz aus schaut das Auge am klarsten den Herrn und sein Heil. Erinnern wir uns daher alle daran, dass Gott an einem gebrochenen und zerknirschten Geist seine Wonne und bei einem solchen seine Wohnung hat, während Er dem Hochmütigen widersteht.
Es wird uns nun klar sein, warum der Zorn Elihus wider Hiob entbrannte. Er stand von Seiten Gottes. Dort befand sich Hiob nicht. Erst in Kapitel 32 hören wir etwas von Elihu; obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass er ein aufmerksamer Lauscher der ganzen Unterhaltung gewesen war. Er hatte für beide Teile einen geduldigen Zuhörer abgegeben; und er hatte gefunden, dass beide Teile im Unrecht waren. Hiob handelte verkehrt, indem er sich selbst verteidigte; und die Freunde handelten verkehrt, weil sie ihn zu verdammen suchten.
Wie oft finden wir dasselbe in unseren Unterhaltungen und Streitfragen! Welch trostlose Erscheinungen! In neunundneunzig unter hundert Fällen zeigt sich dasselbe Ergebnis wie bei Hiob und seinen Freunden. Ein wenig Gebrochensein auf der einen, oder ein wenig Sanftmut auf der anderen Seite würde die Frage vielleicht gründlich entschieden haben. Wir reden hier selbstredend nicht von Fällen wo es sich um die Wahrheit Gottes handelt. In dieser Beziehung bedarf man der Entschiedenheit und der Unnachgiebigkeit. Ein Nachgeben bezüglich der Wahrheit Gottes oder der Herrlichkeit Christi würde ein treuloses Handeln sein gegenüber dem, welchem wir alles verdanken.
In Betreff der Ansprüche dessen, der, um unsere Interessen uns zu sicheren. Alles, ja selbst das Leben einsetzte, geziemt sicher uns eine gänzliche Entschiedenheit und eine nicht zurückweichende Festigkeit. Gott wolle es verhüten, dass wir nicht ein Wort reden oder eine Zeile schreiben, wodurch das Verständnis in Betreff der Wahrheit geschwächt oder der Eifer im Kampf für den heiligen überlieferten Glauben verringert werden könnte. Es ist jetzt nicht der Augenblick, um den Gürtel an den Lenden zu lösen, den Harnisch abzulegen und die Fahne zu senken. Zu keiner Zeit war es wie jetzt so nötig, die Lenden mit Wahrheit zu umgürten, beschuht an den Füßen zu sein, und die Fahne göttlicher Grundsätze in ihrer ganzen Ausdehnung zu entfalten. Wir sagen dieses im Blick auf die Anstrengungen des Feindes, der, indem er uns auf die Mängel derer hinweist, welche in moralischer Beziehung gefehlt haben, uns den Boden der Wahrheit zu verrücken bemüht ist. Sicher gibt es Mängel und Gebrechen selbst von der demütigendsten Art. Wer könnte es leugnen? Der Mensch fehlt stets und überall. Seine Geschichte von Eden bis zur gegenwärtigen Stunde zeigt eine unbeschreibliche Menge von Sünden und Vergehungen. Leider, leider! Aber der feste Grund Gottes steht und kann – gepriesen sei sein Name! – durch menschliche Fehler nicht erschüttert werden. Gott ist treu. Er kennt die Seinen und lässt jeden, der den Namen des Herrn nennt, abstehen von der Ungerechtigkeit. Demütigen wir uns im Blick auf unsere Fehler; aber lasst uns nimmer die Wahrheit Gottes preisgeben. Doch kehren wir jetzt zu unserem Gegenstand zurück.
Der Dienst Elihus enthält etwas sehr Beachtenswertes in sich. Er bildet zu den drei Freunden einen höchst augenscheinlichen Kontrast. Sein Name bezeichnet seine Verwandtschaft mit Gott; und jedenfalls können wir ihn als ein Vorbild unseres Herrn Jesus Christus betrachten. Er bringt Gott in die Szene und macht dem heftigen Streit und Hader zwischen Hiob und seinen Freunden ein Ende. Er liefert keine Beweise auf Grund seiner Erfahrungen; er beruft sich nicht auf alte Überlieferungen; er bedient sich keiner Ausdrücke der Gesetzlichkeit; – er führt Gott ein. Dieses ist der einzige Weg, um allen Streitfragen ein Ende zu machen und den Wort krieg zu schließen. Lauschen wir auf die Worte dieser bemerkenswerten Persönlichkeit.
„Aber Elihu hatte auf Hiob geharrt mit Reden, weil jene älter an Jahren waren, denn er. Da nun Elihu sah, dass keine Antwort war in dem Mund der drei Männer, da entbrannte sein Zorn“ (Kap 32,4–5). Es war keine Antwort. In all ihren Beweisen, in all ihren Schlüssen, in allem, was ihnen die Erfahrung, die Überlieferung und die Gesetzlichkeit lieferte, – nirgends war eine Antwort. Die Freunde Hiobs hatten, so zu sagen, ein weites Feld durchstreift; sie hatten viele wahre Dinge gesagt und viele Einwendungen erhoben; aber es wird uns nachdrücklich gesagt, dass sie „keine Antwort“ fanden. Im Bereich der Erde oder der Natur ist für ein selbstgerechtes Herz keine Antwort zu finden. Gott allein kann, wie wir in der Folge sehen werden, die richtige Antwort geben. Jedem anderen gegenüber ist das ungebrochene Herz zu jeder Zeit zu einer Erwiderung bereit. Hiobs Freunde fanden keine Antwort. „Und es antwortete Elihu, der Sohn Baracheels, des Busiters, und sprach: Ich bin jung an Jahren, und ihr seid Greise, darum habe ich mich gescheut und gefürchtet, euch mein Wissen anzuzeigen. Ich sagte, es mögen die Tage reden, und die Menge der Jahre Weisheit kundtun. Fürwahr der Geist – er ist im Menschen, und der Odem des Allmächtigen macht sie verständig“ (V 6–8). Hier beginnt göttliches Licht, das Licht der Inspiration, auf die Szene herabzuströmen und die dichten, durch den Streit der Zungen heraufbeschworenen Staubwolken zu verscheuchen. Wir fühlen, dass in diesem Augenblick ein gesegneter Diener des Herrn mit Kraft und Gewicht seine Lippen öffnet. Es ist uns klar, dass wir vor einem Mann stehen, welcher Aussprüche Gottes redet – vor einem Mann, welcher sich augenscheinlich in der Gegenwart Gottes befindet. Es ist nicht jemand, der aus dem armseligen Vorrat seiner eigenen und einseitigen Erfahrung etwas hervorlockt; auch nicht jemand, der sich auf die Tage einer grauen Vorzeit, oder auf eine irreleitende Überlieferung, oder auf die streitenden Stimmen der Väter beruft. Nein, wir haben einen Mann vor uns, der uns mit einem Mal in die Gegenwart des „Odems des Allmächtigen“ einführt.
Dieses ist die einzige sichere Autorität – das einzige zuverlässige und untrügliche Banner. „Die Großen sind nicht weise, noch verstehen die Alten das Recht. Darum sage ich: Hört auf mich, auch ich will mein Wissen anzeigen. Siehe, ich harrte auf eure Worte, wandte das Ohr zu eurer Einsicht, bis ihr Worte erforschen möchtet; und ich achtete auf euch, und siehe. Niemand ist, der Hiob widerlege, der von euch seine Rede beantworte, dass ihr nicht sagt: Wir haben Weisheit gefunden, Gott verstößt ihn, nicht der Mensch. Er aber hat wider mich keine Worte gerichtet, und mit euren Worten werde ich ihm nicht erwidern“ (V 9–14). Die Erfahrung, die Überlieferung, die Gesetzlichkeit – kurz alles ist von seiner Stätte verscheucht, um dem „Odem des Allmächtigen“, dem unmittelbaren und mächtigen Dienste des Geistes Gottes, Platz zu machen. 5.: Der Dienst Elihus durchdringt die Seele mit einer außergewöhnlichen Fülle und Macht und bildet einen entschiedenen Gegensatz zu dem höchst mangelhaften Dienst der drei Freunde. Derselbe war ganz und gar geeignet, einer Streitfrage zwischen grober Selbstsucht und anmaßender Gesetzlichkeit ein Ende zu machen, – einer Streitfrage, welche sich bis ins Grenzenlose auszuspinnen drohte.
Indes ist eine solche Streitfrage doch nicht so ganz ohne Wert und ohne Interesse für uns. Sie zeigt uns sehr deutlich, dass zwei Parteien nimmer zum Einverständnis kommen werden, wenn nicht auf der einen oder anderen Seite ein gewisser Grad von Gebrochensein vorhanden ist. Nicht nur in der Welt, sondern auch in der Kirche gibt es ein großes Maß von Eigensinn und Hochmut und viel eigenes Wirken, wobei das „Ich“ eine große Rolle spielt, und dieses sogar selbst da, wo man es am wenigsten vermutet, nämlich in Verbindung mit dem heiligen Dienst Christi. Doch niemals trägt die Selbstsucht einen so verabscheuungswürdigen Charakter, als wenn sie sich zeigt in dem Dienst unseres Herrn, der sich selbst zu nichts machte, dessen ganzer Lauf von Anfang bis zu Ende eine vollkommene Übergabe seiner selbst war, und welcher nie seine eigene Verherrlichung suchte, nie sein eigenes Interesse verfolgte und nie Gefallen an sich selber hatte.
Und dennoch gibt es ein höchst beklagenswertes Maß dieses hässlichen, nicht unterjochten „Ichs“ auf dem Boden des christlichen Bekenntnisses und christlichen Dienstes. Ach! wer könnte es leugnen? Wenn wir das prüfende Auge auf den Inhalt der bemerkenswerten Unterhaltung Zwischen Hiob und seinen Freunden richten, so sehen wir zu unserer Überraschung, dass Hiob in Kapitel 39–31 beinahe hundert Mal auf sich Bezug nimmt. Kurz, es ist alles „Ich“ von Anfang bis zu Ende.
Doch richten wir unseren Blick auf uns selbst. Verurteilen wir unser eigenes Herz in seinem verborgenen Wirken. Betrachten wir unsere Wege im Licht der göttlichen Gegenwart. Legen wir all unser Tun und unseren ganzen Dienst auf die Waage des Heiligtums Gottes. Dann werden wir zu unterscheiden vermögen, wie vieles sich von diesem hässlichen Ich, gleich einer dunklen, unreinen Kette, in das ganze Gewebe unseres christlichen Lebens und Dienstes eingeschlichen hat. Woher z. B. kommt es, dass wir, sobald das Ich berührt wird, gleich bereit sind, das hohe Pferd zu besteigen? Warum sind wir bei Verweisen, selbst wenn sie in die zarteste Sprache gekleidet sind, so leicht verwundet? Warum endlich neigen sich unsere Sympathien und unsere Vorliebe so gern denen zu, welche eine gute Meinung von uns haben, welche unseren Dienst schätzen, mit unseren Meinungen übereinstimmen und unserer Laune beipflichten?
Haben alle diese Dinge uns nicht etwas zu sagen? Fordern sie uns nicht auf, dass wir, bevor wir die Selbstsucht unseres alten Patriarchen verurteilen, vielmehr bemüht sein sollten, zuerst uns von dem großen Maße unserer eigenen los zu machen? Sicher handelte er nicht recht; aber wir sind noch weit mehr im Unrecht. Es ist weit weniger Grund, sich darüber zu verwundern, dass ein Mann, inmitten des Dämmerlichts des in ferner Vergangenheit liegenden patriarchalischen Zeitalters, in den Fallstrick der Selbsterhebung verwickelt wurde, als vielmehr darüber, dass wir in dem vollen Licht des Christentums so oft hineinfallen. Christus war noch nicht gekommen. Keine Stimme eines Propheten hatte das Ohr berührt. Selbst das Gesetz war, als Hiob lebte, noch nicht gegeben worden. Wir können uns in der Tat nur eine höchst schwache Vorstellung von dem matten Lichtstrahle machen, in welchem in den Tagen Hiobs die Menschen zu wandeln hatten, während uns das hohe Vorrecht und die heilige Verantwortlichkeit zu Teil geworden ist, in der vollen Mittagssonne des Christentums wandeln zu dürfen. Christus ist gekommen. Er hat gelebt, ist gestorben, auferstanden und in den Himmel zurückgekehrt. Er hat den Heiligen Geist hernieder gesandt, um als der Zeuge seiner Herrlichkeit, als das Siegel der vollbrachten Erlösung und als der Vorbote des Erbes bis zur Erlösung des erworbenen Besitzes, in unseren Herzen zu wohnen. Der Kreis der Offenbarung ist vollkommen. Das Wort Gottes ist vollständig. Wir haben vor uns die göttliche Geschichte dessen, der sich selbst zu nichts machte und Gutes tuend umherging; wir wissen, was Er tat, und wie Er es tat, was Er sagte, und wie Er es sagte, wer Er war, und was Er war. Wir wissen, dass Er für unsere Sünden starb nach den Schriften, dass Er die Sünde verdammte und hinwegnahm, dass unsere alte Natur – dieses hassenswerte Ding, genannt „Ich“, die „Sünde“, das „Fleisch“ – gekreuzigt, begraben und von dem Angesicht Gottes entfernt, und dass ihrer Herrschaft ein Ende gemacht und ihre Macht für immer beseitigt worden ist. Überdies sind wir der göttlichen Natur teilhaftig gemacht; der Heilige Geist wohnt in uns; wir sind Glieder des Leibes Christi – sein Fleisch und Bein; wir sind berufen zu wandeln, wie Er gewandelt hat; wir sind Erben der Herrlichkeit – Erben Gottes und Miterben Christi.
Was wusste Hiob von diesem allem? Nichts. Wie konnte er das wissen, was erst fünfzehn Jahrhunderte nach seiner Zeit offenbart wurde? Der ganze Umfang der Erkenntnis Hiobs wird uns in den heftigen und leidenschaftlichen Worten desselben am Schluss des 19. Kapitels ausgedrückt: „O würden meine Worte doch aufgeschrieben! o, würden sie auch in ein Buch gezeichnet! würden sie mit eisernem Griffel und Blei eingehalten in einen Felsen auf ewig! Und ich weiß, mein Erlöser lebt, und am Ende wird Er auf der Erde stehen; und wenn nach meiner Haut dieses da zerstört sein wird, so werde ich aus meinem Fleisch Gott anschauen, den ich mir anschauen, und den meine Augen sehen werden, und kein Fremder; meine Nieren verzehren sich in meinem Innern“ (Kap 19,23–27).
Das war die Erkenntnis Hiobs – das war sein Glaubensbekenntnis Wie gering war der Umfang dessen, was er wusste, wenn wir damit den ausgedehnten Zirkel von Wahrheiten vergleichen, in dessen Mitte wir uns zu bewegen das Vorrecht haben. Hiob schaute durch das matte Dämmerlicht vorwärts auf etwas, das in ferner Zukunft geschehen sollte. Wir blicken, inmitten der Flutzeit göttlicher Offenbarung, rückwärts auf etwas, das bereits geschehen ist. Hiob konnte von seinem Erlöser sagen: „Am Ende wird er auf der Erde stehen.“ Wir hingegen wissen, dass unser Erlöser sitzt auf dem Thron der Majestät in den Himmeln, nachdem Er auf Erden gelebt, gearbeitet hat und in den Tod gegangen ist.
Mit einem Wort, das Maß des Lichts und des Vorrechts Hiobs lässt kaum einen Vergleich zu mit dem, dessen wir uns erfreuen; und aus diesem Grund ist es umso unverzeihlicher, wenn wir mit den verschiedenen Formen der in uns entdeckten Selbstsucht und Eigenliebe Nachsicht haben. Unsere Selbstverleugnung sollte stets im Verhältnis stehen zu dem Maß unseres geistlichen Vorrechts. Aber leider ist es nicht also. Wir bekennen die höchsten Wahrheiten; aber weder ist unser Charakter durch sie gebildet, noch unser Wandel durch sie beherrscht. Wir sprechen von unserer himmlischen Berufung; aber unsere Wege sind irdisch, oft fleischlich oder noch schlechter. Wir bekennen, uns der höchsten Stellung zu erfreuen; aber unser praktischer Zustand stimmt nicht damit überein. Unser wirkliches Betragen entspricht nicht dem Boden, den wir betreten zu haben bekennen. Wir sind hochmütig, empfindlich, eigensinnig und leicht gereizt. Wir sind oft ebenso geneigt, uns in die Tätigkeiten der Selbstrechtfertigung zu verwickeln, wie es unser Patriarch Zwo war.
Und dann, wenn wir andererseits uns berufen fühlen. Anderen in der Haltung und dem Ton des Tadels zu nahen, mit welcher Unnachsichtigkeit und Härte entledigen wir uns nicht selten dieses notwendigen Dienstes! Wie sehr mangelt dann oft der milde Ton und das zarte Gefühl! Wie wenig Güte und Sanftmut, wie wenig von jenem „Öl“ des barmherzigen Samariters. Wie selten findet man ein gebrochenes Herz und ein weinendes Auge! Wie gering ist die Kraft, um den irrenden Bruder dahin zu bringen, dass er sein Haupt beuge und sich demütige! Und warum dieses alles? Einfach, weil unser eigener Zustand kein guter ist. Wenn wir aber wie Hiob in den Fehler der Eigenliebe und der Selbstrechtfertigung verfallen sind, so werden wir auch ebenso unfähig sein, wie die Freunde Hiobs, bei unserem Bruder ein Selbstgericht hervorzurufen. Wir prunken mit unserer Erfahrung, wie Elifas, wir handeln in gesetzlichem Geist, wie Zofar, oder wir führen menschliche Autorität ein, wie Bildad! Wie selten offenbaren wir die Gesinnung Christi! Und darum, wie wenig zeigt sich die Macht des Heiligen Geistes oder die Autorität des Wortes Gottes!
Es ist nicht angenehm, in dieser Weise schreiben zu müssen. Im Gegenteil wird es uns schwer, die Blößen zu Zeigen und die Ursachen aufzudecken, die unseren gegenseitigen Dienst lähmen. Aber wir erkennen die Notwendigkeit einer solchen Sprache; denn mit ernster Betrübnis fühlen wir die zunehmende Schlaffheit und Gleichgültigkeit, die sich in unseren Tagen kundgibt. Nichts ist beklagenswerter, als das Missverhältnis zwischen unserem Bekenntnis und unserem praktischen Wandel. Die höchsten Wahrheiten werden bekannt in unmittelbarer Verbindung mit großer Weltlichkeit und Selbstbefriedigung. In etlichen Fällen scheint es in der Tat sogar, als ob, je höher das Bekenntnis der Lehren, desto niedriger der Wandel sei. Wir sehen in unserer Mitte die Erkenntnis der Wahrheit sehr vermehrt, aber wo ist die von ihr erzeugte Macht? Ströme des Lichts sind ausgegossen auf das Verständnis, aber wo sind die gründlichen Übungen des Herzens und Gewissens in der Gegenwart Gottes? Eine unverfälschte Lehre ist dem Buchstaben nach entfaltet; aber wo ist der Geist?
Sicher ist die gesunde, unverfälschte Lehre ein Gut, dessen Wert wir nicht hoch genug anschlagen können; und wir unterschätzen keineswegs die Erkenntnis der kostbaren Wahrheit in ihren höchsten Formen. Gott verhüte es, dass wir eine Zeile schreiben, welche in dem Herzen des Lesers in irgendeiner Weise das Gefühl des unaussprechlichen Wertes und der hohen Wichtigkeit Betreffs der gesunden Lehre vermindern könnte! Aber, mein teurer Leser, fühlst du nicht, wie beklagenswert es ist, dass sich in unserer Mitte der traurigste Mangel an zarten Gewissen und geübten Herzen kundgibt? Hält unsere praktische Frömmigkeit gleichen Schritt mit dem Bekenntnis unserer Grundsätze? Ist der Standpunkt unseres äußeren Verhaltens auf der Höhe der von uns bekannten Lehre? Ach! es liegt nur zu klar am Tag, dass die Wahrheit nicht, wie es sein sollte, auf das Gewissen wirkt, dass die Lehre im Leben nicht ausstrahlt, und dass die Praxis nicht mit dem Bekenntnis im Einklänge steht.
Wir sprechen aus eigenem Herzen. Gott ist unser Zeuge, dass wir diese Zeilen in seiner Gegenwart im Geist des Selbstgerichts schreiben, und dass es unser brennendster Wunsch ist, dass das Messer in unsere eigene Seele eindringen und dort die verborgenen Wurzeln Dinge erreichen möchte. Aber wir fühlen auch, dass wir eine heilige Pflicht sowohl gegenüber dem einzelnen Leser, als auch gegenüber der Kirche Gottes zu erfüllen haben, und dass wir dieser Pflicht nicht nachkommen würden, wenn wir bloß das Liebliche, Schöne und Wahre vorstellen wollten. O, möchte doch die Stimme der Warnung unser aller Ohr erreichen und unser aller Gewissen aufrütteln. Wie könnten wir die Schlaffheit, die Gleichgültigkeit, die laodizäische Lauheit – Dinge, welche den Weg zu dem schroffsten Unglauben und zu praktischer Gottesleugnung bahnen – in dem eigenen Herzen und Gewissen dulden, und dabei andere aus ihrem Schlaf aufrütteln wollen? Wir fühlen wohl, dass wir, wenn das Böse durch das Gute ausgestoßen, das Fleisch durch den Geist unterjocht, das „Ich“ durch Christus ersetzt und die Liebe der Welt durch die Liebe des Vaters verdrängt ist, der Weg des Dienstes für uns geebnet ist. Allein wir sollten dieses nicht allein fühlen und als eine Wahrheit einräumen, sondern wir sollten uns auch bezüglich unserer ganzen Laufbahn einer ernsten und sorgfältigen Prüfung des Herzens und Gewissens in der Verborgenheit der Gegenwart Gottes unterziehen. Und, gepriesen sei Gott! wir können diese Übungen vor dem Gnadenthron vornehmen. „Die Gnade herrscht.“ Welch kostbare, trostreiche Wahrheit! Kann sie die Kraft des Selbstgerichts schwächen? Keineswegs. Vielmehr verleiht das Bewusstsein der Gnade demselben die wahre Tiefe und den rechten Ton und Charakter. Wir haben es mit der siegreichen Gnade zu tun; und eben sie lehrt uns, mit unserem Ich keine Nachsicht zu haben, sondern es durchaus und völlig zu töten.
Möge der Herr uns wirklich demütig, ernst und ergeben machen! Möge der tiefe Ausdruck unseres Herzens sein: „Herr, ich bin dein – nur dein – ganz dein – für immer dein!“ 6.: Wir hoffen nicht, dass die uns erlaubte kleine Abschweifung ohne Nutzen sei; denn obwohl darin nicht vieles über Hiob und seine Freunde zu lesen war, so gaben diese Personen uns doch Anleitung, um einen Blick in das eigene Herz und Gewissen zu tun. Ist dieses in Wahrheit geschehen, so werden wir den mächtigen Dienst Elihus umso besser zu verstehen und zu würdigen vermögen.
Der Leser wird nicht ermangeln, die doppelte Tragweite dieses beachtenswerten Dienstes zu erkennen, eine Tragweite, die sich sowohl auf Hiob, als auch auf die beiden Freunde ausdehnte. Wie bereits bemerkt, hatte Elihu geduldig auf die von beiden Seiten gebrachten Beweisgründe gelauscht. Er hatte, so zu sagen, beide Parteien ausgehorcht und ihnen gestattet. Alles zu sagen, was sie zu sagen vermochten. „Und Elihu hatte auf Hiob geharrt mit Reden, weil jene älter an Jahren waren, denn er“ (V 4). Es war dieses ganz sicher der Weg des Geistes Gottes. Bescheidenheit ist eine Zierde junger Leute. Möchte sich dergleichen mehr in unserer Mitte zeigen! Nichts ist betreffs eines Jünglings anziehender als ein stilles, zurückhaltendes Wesen. Wenn wirklicher Wert unter einem bescheidenen und demütigenden Äußeren verborgen liegt, so zieht er sicher das Herz mit unwiderstehlicher Gewalt an. Aber andererseits ist nichts zurückstoßender, als das kecke Selbstvertrauen, die kühne Dreistigkeit und der Eigendünkel so vieler jungen Leute in unseren Tagen. O, wie wünschenswert würde es für die Folge sein, wenn sie sich die Eingangsworte Elihus einprägten und sein Beispiel nachahmten!
„Und es antwortete Elihu, der Sohn Baracheels, des Busiters, und sprach: Ich bin jung an Jahren, und ihr seid Greise; darum habe ich mich gescheut und gefürchtet, euch mein Wissen anzuzeigen. Ich sagte: Es mögen die Tage reden, und die Menge der Jahre Weisheit kundtun“ (Kap 32,6–7). das ist die Ordnung der Natur. Wir setzen bei grauen Häuptern Weisheit voraus, und darum ist es billig und anständig für junge Leute, dass sie in Gegenwart älterer Personen langsam sind zum Reden und schnell zum Hören. Man kann es fast als einen bestimmten Grundsatz feststellen, dass ein vorschneller junger Mann nicht durch den Geist Gottes geleitet wird, dass er sich eigentlich nie in göttlicher Gegenwart gemessen hat, und dass sein Herz nie vor Gott gebrochen gewesen ist.
Ich zweifle nicht daran, dass – wie dieses auch bei Hiob und seinen Freunden der Fall war – alte Leute oft die törichsten Dinge zur Sprache bringen mögen. Graue Haare und Weisheit gehen nicht immer zusammen; und es geschieht nicht selten, dass alte Leute, vertrauend auf die Zahl ihrer Jahre, sich einen Platz anmaßen, für welchen sie weder in moralischer, noch in geistiger, noch endlich in geistlicher Beziehung irgendeine Art von Kraft besitzen. Alles dieses ist völlig wahr, und verdient von denen, die es betrifft, in Betracht gezogen zu werden. Allein dieses lässt jenes zarte moralische Gefühl gänzlich unberührt, welches seinen vollen Ausdruck findet in den Einleitungsworten Elihus: „Ich bin jung an Jahren, und ihr seid Greise; darum habe ich mich gescheut und gefürchtet, euch mein Wissen anzuzeigen.“ Das bleibt immer richtig. Es ist stets geziemend für einen jungen Mann, dass er sich scheut, sein Wissen zu Zeigen. Wir können überzeugt sein, dass jemand, welcher innere moralische Kraft besitzt, nie die Hast zeigen wird, sich selbst vorschnell hervor zu drängen, aber wenn er dennoch hervortritt, so wird er sicher mit Achtung und Aufmerksamkeit angehört werden. Die Vereinigung von Bescheidenheit und moralischer Kraft flößt dem Charakter einen unwiderstehlichen Reiz ein, während das glänzendste Talent abstößt, wenn es sich in dem Ton des Selbstvertrauens kundgibt.
„Fürwahr“, fährt Elihu fort, „der Geister ist im Menschen, und der Odem des Allmächtigen macht sie verständig“ (V 8). Hier wird ein durchaus verschiedenes Element eingeführt. In diesem Augenblick betritt der Geist Gottes den Schauplatz; und jetzt, insoweit er durch Junge wie durch Alte reden kann, handelt es sich nicht mehr um die Frage des Alters oder der Jugend. „Nicht durch Gewalt oder Macht, sondern durch meinen Geist, sagt der Herr der Heerscharen.“ Lasst uns dieses stets festhalten. Es war dieses wahr für die Patriarchen, wahr für die Propheten, wahr für die Apostel; und es ist wahr für uns und für alle. Hier Handel: es sich nicht um menschliche Gewalt, sondern um den ewigen Geist.
Hier liegt das Geheimnis der ruhigen Macht Elihus. Er war mit dem Heiligen Geist erfüllt; und darum vergessen wir seine Jugend und lauschen auf die Worte von geistlichem Gewicht und himmlischer Weisheit, die aus seinem Mund hervorströmen, wobei wir erinnert werden an Ihn, welcher redete wie einer, der Gewalt hat, und nicht wie die Schriftgelehrten, lind wie bedeutend ist der Unterschied zwischen einem Mann, welcher Aussprüche Gottes redet, und einem anderen, welcher nur mit Geläufigkeit menschliche Gedanken ausspricht – zwischen einem, der mittels der Salbung des Geistes von Herzen redet, und einem anderen, welcher durch menschliche Autorität dem Verstand gemäß spricht! Wer vermag die Verschiedenheit zwischen beiden gebührend zu würdigen? Niemand außer denen, welche den Geist Christi besitzen und verwirklichen.
Doch wenden wir uns wieder zu den Worten Elihus. „Die Großen“, fährt er fort, „sind nicht weise, noch verstehen die Alten das Recht. Darum sage ich: Hört auf mich, auch ich will mein Wissen anzeigen. Siehe, ich harrte auf eure Worte, wandte das Ohr zu eurer Einsicht, bis ihr Worte erforschen mochtet; und ich achtete auf euch, und siehe, niemand ist, der Hiob widerlege, der von euch seine Reden beantworte“ (V 9–12).
Merken wir uns dies in ganz besonderer Weise. „Niemand ist, der Hiob widerlege.“ Das war deutlich genug. Hiob war am Schluss der Unterhaltung ebenso weit davon entfernt, widerlegt und überführt zu sein, wie am Anfang derselben. Wir dürfen in der Tat sagen, dass jeder neue, aus der Schatzkammer der Erfahrung, der Überlieferung und der Gesetzlichkeit hervorgeholte Beweisgrund nur dazu diente, irgendeine neue und verborgene Tiefe der ungebrochenen und nicht getöteten Natur Hiobs aufzuwühlen. Das ist eine große moralische Wahrheit, die uns auf jeder Seite des vor uns liegenden Buches enthüllt und erläutert wird.
Aber wie lehrreich ist der Grund für dieses alles! „Dass ihr nicht sagt: Wir haben Weisheit gefunden; Gott verstößt ihn, nicht der Mensch“ (V 13). das Fleisch wird nicht verherrlicht in der Gegenwart Gottes. Es mag sich außerhalb dieser Gegenwart rühmen. Es mag seine Ansprüche erheben, sich seiner Hilfsmittel rühmen und sich mit seinen Unternehmungen brüsten, solange Gott dabei nicht in Betracht kommt. Doch Gott tritt dazwischen, und alle Großtuereien, Anmaßungen und dünkelhaften Vorspiegelungen sind im Nu zerstoben. „Der Ruhm ist ausgeschlossen.“ Ja, aller Ruhm – der Ruhm Hiobs, der Ruhm seiner Freunde. Wenn Hiob in der Begründung seiner Angelegenheit guten Erfolg gehabt hätte, so würde er sich gerühmt haben. Wenn es andererseits seinen Freunden gelungen wäre, ihn durch ihre Einwendungen zum Schweigen zu bringen, so würden sie sich ebenfalls gerühmt haben. Aber nein: „Gott verstößt ihn, nicht der Mensch.“ Also war es, also ist es und also muss es stets sein. Gott weiß, wie das stolze Herz zu brechen und der unbeugsame Wille zu unterwerfen ist. Es ist äußerst eitel, sich selbst zu erhöhen; denn wir können versichert sein, dass ein jeder, der sich selbst erhöht, früher oder später erniedrigt werden wird. Die Regierung hat solche Vorkehrungen und Maßregeln getroffen, dass alles, was hoch ist, hernieder in den Staub gezogen werden muss. Das ist eine heilsame Wahrheit für uns alle, aber namentlich für die feurige, hochstrebende Jugend. Es ist gut, im Schatten zu bleiben, denn dort erfreuen wir uns am meisten der Sonnenstrahlen. Das scheint widersinnig zu sein, aber für den Glauben ist es klar. Der niedrige, verborgene, schattige Pfad ist ohne Zweifel der sicherste, glückseligste und beste. Möge unser Fuß ihn stets betreten, bis wir jene glänzende und gesegnete Szene erreichen, wo Stolz und Anmaßung unbekannte Dinge sind!
Die Worte Elihus waren in Bezug auf die drei Freunde Hiobs von erstaunlicher Wirkung. „Sie sind bestürzt, sie antworten nicht mehr, die Worte sind ihnen entrückt. Und ich habe gewartet, denn sie redeten nicht, denn sie standen da, sie antworteten nicht mehr. Auch ich will mein Teil erwidern, auch ich will mein Wissen anzeigen. Denn voll bin ich der Worte; der Geist meines Innern drängt mich“ (V 15–18). das ist die wahre Quelle und die Kraft alles Dienstes zu allen Zeiten. Es muss der „Odem des Allmächtigen“ sein, oder alles ist wertlos.
Vergessen wir indessen nicht, dass, seitdem Christus gen Himmel aufgefahren ist und sich kraft der vollbrachten Erlösung zur Rechten Gottes gesetzt hat, ein mächtiger Wechsel eingetreten ist. Seit dem Tod, der Auferstehung und der Himmelfahrt Christi, sowie seit der Gegenwart des Heiligen Geistes auf Erden und seiner Innwohnung in jedem Gläubigen und der ganzen Kirche, als dem Leib Christi, ist alles verändert. Wir dürfen daher Elihu von diesem Gesichtspunkt aus nicht beurteilen. Die Innwohnung des Heiligen Geistes war noch eine unbekannte Sache. Sein Grundsatz aber hat zu allen Zeiten Geltung. Will jemand mit Kraft und mit praktischer Wirkung reden, so muss er in einem gewissen Maße sagen können: „Voll bin ich der Worte, der Geist meines Innern drängt mich. Siehe, mein Inneres ist wie Wein, der nicht geöffnet ist, gleich neuen Schläuchen, welche bersten. Ich will reden, dass mir Luft werde; ich will meine Lippen öffnen und antworten“ (V 18–20). Also muss es stets sein bezüglich derer, die mit Kraft und Wirkung zu den Herzen und Gewissen ihrer Mitmenschen reden wollen. Elihu besaß den Keim von dem, was fünfzehn Jahrhunderte später durch die Sendung des Heiligen Geistes zur vollen Blüte und zur reifen Frucht werden sollte. Er wusste, dass, wenn jemand mit Bestimmtheit, Schärfe und Kraft reden wollte, von dem „Odem des Allmächtigen“ angeweht sein musste. Er hatte bis zur Ermüdung auf das kraftlose Geplauder der Alten gelauscht, die etliche unleugbare Wahrheiten aus ihrer Erfahrung oder aus dem verbrauchten Vorrat menschlicher Überlieferungen geschöpft hatten. Fast gänzlich erschöpft durch alles, was in sein Ohr drang, erhob er sich in der Kraft des Geistes, um sich an seine Zuhörer zu wenden wie jemand, der fähig ist, Aussprüche Gottes zu reden.
Hier liegt das tiefe und gesegnete Geheimnis der Kraft und des Erfolges jedes wahren Dienstes. „Wenn jemand redet, so rede er als Aussprüche Gottes“, sagt Petrus. Es ist nicht nur, dass jemand redet nach der Schrift, wie wesentlich notwendig auch dieses an und für sich ist. Es kann jemand stundenlang reden, ohne ein einziges Wort zu sagen, welches schriftwidrig wäre, und dennoch hat man vielleicht nicht eine Spur von Aussprüchen Gottes bei ihm entdeckt. Das ist besonders sehr wichtig und beachtenswert für alle, welche berufen sind, ihre Lippen inmitten des Volkes Gottes zu öffnen. Ich mag einzelne Wahrheiten klar vortragen können; aber ein Kanal zu sein, um die Gedanken des Herzens Gottes den Seelen der seinen zuzuführen, ist etwas ganz anderes. Nur das letztere ist der wahre Dienst; denn wer in dieser Weise redet, wird die Herzen und Gewissen seiner Zuhörer dergestalt treffen, dass der Einzelne zu meinen versucht sein wird, es habe jemand dem Redner die Gefühle des eigenen Herzens verraten. Er wird das Gewissen des Horchenden so völlig ins Licht der Gegenwart Gottes bringen, dass jeder Winkel des Herzens bloßgelegt und jede innere Wurzel getroffen wird. Das ist wahrer Dienst. Alles andere ist kraft–, wert– und fruchtlos. Es ist nichts ermüdender, als auf die Worte eines Mannes lauschen zu müssen, der auf seine eigenen, armseligen Hilfsquellen angewiesen ist und, so zu sagen, aufgewärmte Wahrheiten und geborgte Gedanken als eine Handelsware zu Markt bringt. Vielleicht hat er der Schrift gemäß gesprochen, aber er hat nichts geredet als Aussprüche.
Wir können daher aus dem Benehmen Elihus eine wichtige Lehre ziehen. Wenn wir leben in der Gegenwart des Herrn und in dem Gefühl, dass wir nichts sind und Er in allem genug ist, so werden wir auch das kostbare Geheimnis eines wirkungsvollen Dienstes kennen lernen. Wir werden uns dann auf Gott allein zu stützen wissen und im richtigen Sinne von Menschen unabhängig sein; und wir werden die Bedeutung und Kraft der Worte Elihus verstehen, wenn er weiter sagt: „Dass ich doch die Person nicht ansähe und dem Menschen nicht schmeichelte? Denn ich weiß nicht zu schmeicheln, sonst würde mein Schöpfer mich bald hinwegraffen“ (V 21–22). 7.: Bei näherer Betrachtung des Dienstes Elihus finden wir zwei große Elemente, nämlich „Gnade und Wahrheit“. Er versichert dem Patriarchen und seinen drei Freunden mit aller Bestimmtheit, dass er dem Menschen nicht zu schmeicheln wisse. Die Stimme der „Wahrheit“ berührt das Ohr. Die Wahrheit stellt jedes Ding an seinen rechten Platz; und darum kann sie dem armen, schuldigen Sterblichen keine Schmeicheleien sagen. Der Mensch muss dahin gebracht werden, seinen wahren Zustand zu sehen und zu bekennen, was er wirklich ist. Eben dieses war es auch, dessen Hiob bedurfte. Er kannte sich selbst nicht, und seine Freunde vermochten ihm diese Erkenntnis nicht zu geben. Es war für ihn nötig, in die Tiefen geführt zu werden, aber seine Freunde waren dazu außer Stand. Er bedurfte des Selbstgerichts, aber seine Freunde waren gänzlich unfähig, dasselbe hervor zu rufen.
Doch Elihu beginnt, ihm die Wahrheit zu verkündigen. Er führt Gott in seinem wahren Charakter auf den Schauplatz. Gerade darin hatten die drei Freunde gefehlt. Zwar hatten sie auf Gott hingewiesen, aber ihre Hinweisungen waren düster, verkehrt und falsch. Dieses wird uns deutlich, wenn wir in Kapitel 42,7–8 die Worte lesen: „Jehova sprach zu Elifas, dem Temaniter: Mein Zorn ist entbrannt wider dich und wider deine beiden Freunde; denn nicht recht habt ihr von mir geredet, wie mein Knecht Hiob. Und nun nehmt euch sieben Stiere und sieben Widder und geht hin zu meinem Knecht Hiob und opfert Brandopfer für euch; und Hiob, mein Knecht, möge für euch bitten; denn ihn will ich annehmen, damit ich an euch nicht tue nach eurer Torheit, denn nicht recht habt ihr von mir geredet, wie mein Knecht Hiob.“ – Ihr Fehler bestand darin, dass sie Gott nicht vor die Seele ihres Freundes gebracht und darum auch nicht das nötige Selbstgericht erzeugt hatten.
Elihu hingegen lässt das Licht der „Wahrheit“ auf das Gewissen Hiobs wirken; aber zu gleicher Zeit träufelt er auch den köstlichen Balsam der „Gnade“ in dessen Herz, indem er sagt: „Nun aber, Hiob, höre meine Reden, und nimm zu Ohren alle meine Worte. Siehe nun, ich tue meinen Mund auf, meine Zunge redet in meinem Gaumen. Meine Reden sollen die Geradheit meines Herzens sein, und was meine Lippen wissen, sollen sie rein aussprechen. Der Geist Gottes hat mich gemacht, und der Odem des Allmächtigen hat mir das Leben gegeben. Wenn du kannst, so antworte mir, rüste dich vor meinem Angesicht, stelle dich! Siehe, ich bin Gottes, wie du, vom Ton abgekniffen bin auch ich. Siehe, mein Schrecken wird dich nicht verwirren, und meine Last wird nicht schwer auf dir sein“ (Kap 33,1–7).
In diesen Ausdrücken entfaltet sich dem Herzen Hiobs lieblich und mächtig der Dienst der „Gnade“. Dem Dienst der drei Freunde fehlte dieser vortreffliche Bestandteil gänzlich. Sie zeigten sich nur zu bereit, den armen Hiob mit „einer schweren Hand“ zu Boden zu drücken. Als strenge Sittenrichter konnten sie ihr kaltes Auge auf die Wunden ihres trostlosen Freundes richten. Sie schauten auf die zerbröckelnden Mauern seines Hauses und zogen den harten Schluss, dass der Ruin seiner ganzen Habe eine Folge seines schlechten Betragens sei. Sie erwiesen sich als völlig einseitige Richter. Sie missverstanden gänzlich die Führungen Gottes und begriffen keineswegs die Kraft des Wortes: „Gott prüft den Gerechten.“ Mit einem Wort, sie irrten gänzlich. Ihr Standpunkt war ein falscher, und darum ihr Urteil ein mangelhaftes. Sie verurteilten ihn, ohne ihn zu überführen, während sie ihn hätten überführen sollen, damit er sich selbst verurteilte.
Das Verfahren Elihus bildet hier den augenscheinlichsten Kontrast. Er verkündigt Hiob die Wahrheit; aber er legt keine schwere Hand auf ihn. Er kannte die Macht der Gnade, welche die Seele beugt und das Herz erweicht. Hiob hatte sich Äußerungen erlaubt, die aus einer Wurzel hervorsprossen, an welche die scharfe Axt der Wahrheit gelegt werden musste. „Gewiss“, sagt Elihu, „du hast gesprochen vor meinen Ohren, und ich habe gehört die Stimme der Worte: ‚Ich bin rein, ohne Übertretung, lauter, und ist keine Ungerechtigkeit an mir.‘“ (V 8–9) Welch vermessene Worte für einen armen, sündigen Sterblichen. Obwohl das „wahre Licht“, in welchem wir wandeln, noch nicht in die Seele des Patriarchen schien, so erregt dennoch eine solche Sprache unser Erstaunen. Aber was folgte jetzt? Wenn Hiob auch in seinen Augen rein, lauter und ohne Ungerechtigkeit war, so musste er dennoch von Gott sagen: „Siehe, Er findet Feindschaft wider mich; Er hält mich für seinen Widersacher. Er legt meine Füße in den Stock, Er bewacht alle meine Wege“ (V 10–11). Hier ist ein offenbarer Widerstreit. Wie könnte ein heiliges und gerechtes Wesen einen reinen und lauteren Menschen als seinen Feind betrachten. Entweder täuschte sich Hiob, oder Gott war ungerecht. Doch Elihu, der Diener der Wahrheit, gibt Aufschluss, indem er sagt: „Siehe, darin hast du nicht recht, antworte ich dir, denn Gott ist mehr als ein Mensch“ (V 13). Welch eine einfache Wahrheit! Wenn Gott größer ist als der Mensch, dann steht auch Ihm und nicht dem Menschen ein Urteil über das, was recht ist, zu. Das ungläubige Herz räumt dieses nicht ein, und daherkommt die beständige Neigung, über die Werke und Wege und Worte Gottes – über Gott selbst – zu Gericht zu sitzen. Der Mensch in seiner gottlosen Torheit wagt es zu bestimmen, was Gott tun und reden soll. Welche Anmaßung!
Wenn sich das Herz unter das Gewicht der Wahrheit beugt, dass Gott größer ist als der Mensch, erst dann sind wir fähig, den Zweck der Handlungen Gottes in Bezug auf uns zu beurteilen. Sicher, Er muss die Oberhand haben. „Warum haderst du wider Ihn? Denn über all sein Tun gibt Er nicht Antwort. Denn einmal redet Gott und zweimal – und man achtet nicht darauf – im Traum, im Gesicht des Nachts, wenn tiefer Schlaf die Menschen befällt, im Schlummer auf dem Lager. Dann öffnet Er das Ohr der Menschen und versiegelt ihre Unterweisung, um den Menschen von seinem Werk abzuwenden, und Übermut vom Mann zu verbergen; Er hält seine Seele ab von der Grube, und sein Leben vom Rennen ins Geschoss“ (V 13–18).
Verwahre Grund aller falschen Schlüsse Hiobs ist darin zu suchen, dass er den Charakter Gottes nicht erkannte. Er sah nicht, dass Gott ihn versuchte, dass Er hinter der Szene stand und sich zur Ausführung seiner weisen und gnädigen Absichten verschiedener Werkzeuge bediente. Selbst Satan war ein solches Werkzeug in der Hand Gottes und vermochte nicht um ein Haarbreit die ihm vorgeschriebene Grenze zu überschreiten. Sobald er die für ihn bestimmte Arbeit ausgeführt hatte, wurde er entlassen, und wir hören nichts mehr von ihm. Gott beschäftigte sich mit Hiob. Er versuchte ihn, um ihn zu unterweisen, um ihm sein Inneres aufzudecken und den Stolz seines Herzens zu brechen. Das Verständnis dieses Punktes würde ihm eine Welt voll Streit und Kummer erspart haben. Anstatt über Menschen und Dinge zu zürnen, würde er sich selbst gerichtet und sich in Demut und wahrer Zerknirschung vor Gott gebeugt haben.
Dieses ist wichtig für uns alle. Wir vergessen so leicht, dass „Gott den Gerechten prüft.“ „Er wendet seine Augen nicht von ihnen ab.“ Wir sind beständig in seinen Händen und vor seinen Augen. Wir sind die Gegenstände seiner tiefen, zärtlichen und unwandelbaren Liebe; aber wir sind auch die Gegenstände seiner weisen Regierung. Seine Absicht ist, uns zu belehren, dem Nebel vorzubeugen, oder das Übel zu heilen. Er zertrümmert unsere Luftschlösser, zerstreut unsere goldenen Träume und unterbricht manchen Lieblingsplan, an dem unser Herz hängt und dessen Erreichung unser Ruin sein würde. „Siehe, dieses alles wirkt Gott zwei–, dreimal mit dem Menschen, um seine Seele zurückzuführen von der Grube, und dass er erleuchtet werde mit dem Licht der Lebendigen“ (V 29–30). In Hebräer 12 werden uns drei Wege bezeichnet, in denen wir der Züchtigung der Hand des Vaters begegnen sollen. Wir sollen sie nicht „geringachten“, als ob seine Hand und seine Stimme nicht darin wären; wir sollen nicht darunter „ermatten“, als ob sie unerträglich und nicht die kostbare Frucht seiner Liebe wäre, und endlich sollen wir durch sie „geübt“ werden und zu seiner Zeit die „friedsame Frucht der Gerechtigkeit“ ernten.
Hätte nun unser Patriarch verstanden, dass Gott sich mit ihm beschäftigte, dass Er ihn zu seinem eigentlichen Nutzen versuchte und sich dazu der Umstände, der Menschen und selbst des Satans, als seiner Werkzeuge bediente, dass alle seine Trübsale, Verluste, Beraubungen und Leiden nur wunderbare Wirkungen Gottes waren, um seine weisen und gnadenreichen Absichten zu erreichen – mit einem Wort, hätte er alle Umstände aus den Augen verloren und, nur auf die Liebe Gottes schauend, alles aus seiner liebenden Hand angenommen, so würde er sicher in Betreff all seiner Schwierigkeiten sehr bald im Besitz göttlicher Ausschlüsse gewesen sein.
Aber gerade hier ist die Klippe, wo gewöhnlich unser Schiff scheitert. Wir schauen auf die Umstände und die Menschen und wiegen sie ab im Blick auf unsere bessere Kraft. Wir wandeln nicht mit Gott hindurch, sondern erlauben vielmehr den Umständen, uns zu beherrschen. Anstatt Gott zu sehen zwischen uns und den Umständen, sehen wir die Umstände zwischen Gott und uns. Dadurch verlieren wir das Gefühl seiner Gegenwart, das Licht seines Angesichtes und die selige Gewissheit, dass wir in seinen Händen und unter seinem Äuge sind. Wir werden mürrisch, ungeduldig und reizbar, wir entfernen uns immer mehr aus der Gemeinschaft Gottes, verfallen in allerlei Irrtümer, richten andere, aber nicht uns selbst, bis uns endlich Gott bei der Hand fasst und durch seinen unmittelbaren und mächtigen Dienst unser Herz bricht, unseren Geist beugt und uns, wieder zu sich zurückbringt. Das ist das „Ende des Herrn“.
Doch der Raum dieser Blätter gestattet uns nicht, näher in den gesegneten Dienst Elihus einzugehen. Wir überlassen die Betrachtung der noch übrigen Kapitel dem ernsten Leser selbst und richten unsere Aufmerksamkeit dahin, wo Gott selbst beginnt, sich direkt mit seinem Diener zu beschäftigen (Kap 38–41). Gott beruft sich auf die seine Macht und Weisheit darstellenden Werke der Schöpfung, um Hiob seine eigene Kleinheit fühlen zu lassen. Wir wollen hier nicht einzelne dieser herrlichen Stellen anführen; man muss sie im Zusammenhang lesen. Sie bedürfen keiner Erklärung. Der menschliche Finger würde ihren Glanz nur trüben. Wir werden daher nur versuchen, das Auge des Lesers auf die mächtige Wirkung zu lenken, die dieser höchst wunderbare und unmittelbare Dienst des lebendigen Gottes in dem Herzen Hiobs hervorbrachte.
Diese Wirkung war eine dreifache. Sie stand in Beziehung zu Gott, zu Hiob selbst und zu seinen Freunden – zu den drei Richtungen, nach denen hin der Patriarch geirrt hatte. In Bezug auf Gott hatte Elihu den Irrtum Hiobs mit den Worten bezeichnet: „Hiob hat nicht mit Einsicht gesprochen, und seine Worte waren nicht mit Verstand. Dass doch Hiob immerdar geprüft werde wegen seiner Antworten nach Art der ungerechten Leute! Denn er fügt seiner Sünde noch Übertretung hinzu, klatscht unter uns in die Hände, und häuft seine Reden wider Gott. ... Hältst du das für recht, dass du gesagt: Meine Gerechtigkeit ist größer denn Gottes“ (Kap 34,35–37; Kap 35,2). – Man merke hier die Veränderung. Man horche auf die Seufzer eines reumütigen Geistes, auf die gedrängte und dennoch so umfangreiche Darstellung eines korrekten Selbstgerichts. „Und Hiob antwortete Jehova und sprach: Ich weiß, dass du alles vermagst, und in nichts, woran du denkst, verhindert werden kannst. ‚Wer ist es, der den Ratschluss verdunkelt ohne Kenntnis?‘ So habe ich nun ausgesprochen, was ich nicht verstand, zu wunderbar für mich, was ich nicht kannte. ‚Höre doch, und ich will reden, ich will dich fragen, und du belehre mich.‘ Mit dem Gehör des Ohres habe ich von dir gehört, aber nun sieht dich mein Auge“ (Kap 42,1–5).
Hier war also der Wendepunkt. Alle seine vorhergehenden Darstellungen in Betreff Gottes und seiner Wege werden jetzt als „Worte ohne Verstand“ bezeichnet. Welch ein Bekenntnis! Welch ein Moment in der Geschichte eines Menschen, wenn er sein bisheriges Unrecht entdeckt! Es ist ein Moment, der einen unauslöschlichen Eindruck in der Seele zurücklässt. Eine richtige Beurteilung Gottes ist der Anfang einer richtigen Beurteilung aller Dinge. Irre ich in Bezug auf Gott, so irre ich auch bezüglich meiner, bezüglich anderer und bezüglich aller Umstände um mich her. Also war es bei Hiob. Seine neuen Gedanken über Gott traten sofort in Verbindung mit neuen Gedanken über sich selbst. Seine leidenschaftliche Ruhmredigkeit war verschwunden und hatte dem Ausdruck Platz gemacht: „Ich verabscheue mich“ (V 6).
Das ist der wahre Boden, auf dem wir alle stehen müssen, aber wie bei Hiob, so bedürfen auch wir nur zu oft einer laugen Zeit, bevor wir ihn betreten. Viele von uns bilden sich ein, mit dem „Ich“ gebrochen zu haben, wenn sie etliche der Sprösslinge menschlicher Verderbtheit auf der Oberfläche ihres praktischen Lebens entdeckt und gerichtet haben. Aber ach! es mögen wenige unter uns sein, welche wirklich die volle Wahrheit bezüglich ihrer selbst kennen. Es ist leicht zu sagen: „Wir sind schlecht“; aber nur ein in der Gegenwart Gottes gebeugtes Herz vermag zu sagen: „Ich bin schlecht.“ Die Worte: „Nun siehst dich mein Auge“, – und: „Ich verabscheue mich“, gehören zusammen. Scheint das Licht Gottes auf mich, dann ist die Verabscheuung meiner selbst eine wirkliche Sache. Das wahre Geheimnis eines gebrochenen und zerknirschten Herzens ist daher, dass wir bleiben in der Gegenwart Gottes.
Wir sehen nun, dass Hiob, sobald er Gott und sich selbst richtig beurteilt, auch seinen Freunden gegenüber den rechten Platz einnimmt; denn er betet für sie. Ja, er konnte beten für die „leidigen Tröster“, für die Männer, die ihm so heftig widerstanden hatten: „Und Jehova wandte die Gefangenschaft Hiobs, da er für seine Freunde gebetet hatte“ (V 10). Es war die auserlesene Frucht göttlicher Wirksamkeit. Wie rührend, zu sehen, wie die Freunde Hiobs ihre Erfahrung, Überlieferung und Gesetzlichkeit in ein kostbares „Brandopfer“ umwandelten, und wie der Patriarch statt der bitteren Schmähungen ein liebliches Gebot der Liebe hören ließ! Alles ist verändert. Die Streiter liegen im Staub vor Gott und sich einander in den Armen. Der Wortkrieg ist beendet; wir finden nur die Tränen der Reue, den süßen Wohlgeruch des Brandopfers, die Umarmung der Liebe. Welch eine herrliche Szene! Welch eine Frucht der Arbeit Gottes! Was fehlt nun noch? Nichts anderes, als dass Gott seine Hand auf den obersten Stein dieses heiligen Gebäudes legt. Und auch das ist geschehen, denn wir lesen: „Und Jehova mehrte alles, was Hiob gehabt, um das doppelte“ (V 10). Hiob steht auf einem neuen moralischen Boden. Er hat neue Gedanken über Gott, über sich selbst, über seine Freunde, über die Umstände – kurz, alles ist neu geworden. „Und zu ihm kamen alle seine Brüder und alle seine Schwestern und alle, die ihn zuvor gekannt hatten; und sie aßen das Brot mit ihm in seinem Haus, und beklagten ihn und trösteten ihn über all das Unglück, welches Jehova über ihn gebracht hatte; und sie gaben ihm ein jeglicher ein Stück Geld, ein jeglicher auch einen goldenen Ring. Und Jehova segnete das Letzte Hiobs mehr, denn sein Erstes. ... Und Hiob lebte nach diesem hundert und vierzig Jahre und sah seine Kinder und Kindeskinder, vier Geschlechter. Und Hiob starb alt und der Tage satt“ (V 11–17).