Botschafter des Heils in Christo 1872

Hiob und seine Freunde - Teil 1/2

1.: Das Buch Hiob nimmt einen ganz besonderen Platz im Wort Gottes ein. Es trägt einen eigentümlichen Charakter und enthält Unterweisungen, welche in keinem anderen Teil der heiligen Schrift zu finden sind, welche aber Gott zum Nutzen und Segen seines Volkes aufbewahrt hat. Da indessen der Wert dieses Buches im Allgemeinen unterschätzt wird, so glauben wir manchem Leser einen nicht geringen Dienst zu erweisen, wenn wir durch eine Beleuchtung des kostbaren Inhalts seinem Verständnis in etwa zu Hilfe kommen. Möge der Herr uns dazu seinen Segen verleihen!

Die ersten Seiten dieses bemerkenswerten Buches stellen uns den Patriarchen Hiob selbst vor Augen. Wir sehen M von allem umringt, was ihm die Welt angenehm machen und ihm einen wichtigen Platz in der Welt verschaffen konnte. „Es war ein Mann im Land Uz, sein Name war Hiob, und selbiger Mann war vollkommen und aufrichtig und gottesfürchtig, und sich fernhaltend vom Bösen.“ – Hier sehen wir, was er war. Lasst uns nun sehen, was er hatte. „Und es wurden ihm sieben Söhne und drei Töchter geboren. Und seines Viehes waren siebentausend Schafe und dreitausend Kamele und fünfhundert Joch Ochsen und fünfhundert Eselinnen, und seines Gesindes war sehr viel; und selbiger Mann war größer, denn alle Söhne des Ostens. Und seine Söhne, gingen hin und machten ein Gastmahl in dem Haus eines jeglichen an seinem Tag; und sie sandten hin und luden ihre drei Schwestern ein, um mit ihnen zu essen und zu trinken.“ – Und endlich, um das Gemälde zu vollenden, finden wir das, was er tat. „Und es geschah, wenn die Tage des Gastmahls umgegangen waren, so sandte Hiob hin und heiligte sie, und stand des Morgens früh auf und opferte Brandopfer nach ihrer aller Zahl; denn Hiob sprach: Vielleicht haben meine Kinder gesündigt und Gott in ihrem Herzen gelästert. Und also tat Hiob alle die Tage.“ – Wir haben hier also ein höchst seltenes Muster von einem Menschen. Er war vollkommen, aufrichtig, gottesfürchtig, und hielt sich vom Bösen fern. Überdies hatte die Hand Gottes ihn von allen Seiten umgeben und seinen Pfad mit den reichsten Segnungen bestreut. Er besaß alles, was das Herz nur wünschen mochte – Kinder und Reichtum in Überfluss, Ehre und Auszeichnung vor allem, was ihn umgab. Mit einem Wort, wir dürfen fast sagen, dass der Becher seines irdischen Glücks bis an den Rand gefüllt war.

Aber Hiob musste geprüft werden. Es existierte in seinem Herzen eine tiefe, verborgene Wurzel, welche bloßgelegt werden, eine Selbstgerechtigkeit, welche ans Licht gebracht und verurteilt werden mühte. Wir werden in der Tat diese Wurzel bereits in den angeführten Worten unterschieden haben. Er sagt: „Vielleicht haben meine Kinder gesündigt.“ Er schien nicht an die Möglichkeit seines eigenen Sündigens zu denken. Eine Seele, die sich selbst gerichtet hat und, gebrochen vor Gott, ihren eigenen Zustand, ihre Neigungen und Bestrebungen fühlt, wird an die eigenen Sünden und an die Notwendigkeit denken, für diese ein Brandopfer darzubringen.

Merken wir es uns jedoch, dass Hiob ein wirklicher Heiliger Gottes, ein Besitzer des göttlichen und ewigen Lebens war. Wir können dieses nicht bestimmt genug hervorheben. Er war in dem ersten Kapitel eben sowohl ein Mann Gottes, wie er es in dem vierzigsten Kapitel war. Wenn wir dieses nicht festhalten, so werden wir uns einer der großen Belehrungen dieses Buches berauben. Der achte Vers des ersten Kapitels stellt diesen Punkt außer jeden Zweifel. „Und Jehova sprach zu Satan: hast du Acht gehabt auf meinen Knecht Hiob? Denn niemand auf der Erde ist wie er, ein Mann vollkommen und aufrichtig, gottesfürchtig und sich fernhaltend vom Bösen.“ – Aber bei diesem allen hatte er nimmer die Tiefen seines eigenen Herzens erforscht. Er kannte sich selbst nicht. Er hatte wirklich nimmer die Wahrheit seines eigenen Ruhms, seiner gänzlichen Verdorbenheit erfasst. Er hatte nie gelernt zu sagen: „Ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.“ Dieser Punkt muss im Auge behalten werden, oder das Buch Hiob wird nie verstanden werden. Wir werden den eigentlichen Zweck der tiefen und schmerzlichen Hebungen, die Hiob durchzumachen berufen war, nicht erkennen, wenn wir die ernste Tatsache nicht im Auge behalten, dass sein Gewissen nimmer wirklich in der Gegenwart Gottes gewesen war, dass er sich nimmer gesehen in dem Licht, sich nimmer gemessen mit göttlicher Messschnur und sich nimmer gewogen hatte auf der Waage der Heiligkeit Gottes. In Kapitel 29 finden wir hierfür den schlagendsten Beweis. Dort werden wir die starke und tiefe Wurzel der Selbstgefälligkeit in dem Herzen dieses teuren und hochgeschätzten Dieners Gottes bestimmt hervortreten sehen, – eine Wurzel, die in den ihn umgebenden Merkmalen der Gunst Gottes Nahrung fand. Das ganze Kapitel enthält eine rührende Klage im Blick auf den erloschenen Glanz der früheren Tage; und gerade der Ton und Charakter dieses Wehrufs liefert den Beweis, wie nötig es war, dass Hiob bloßgestellt wurde, um sich in dem alles erforschenden Licht der Gegenwart Gottes kennen zu lernen. Hören wir seine Worte.

„Ach, dass ich wäre wie in den Monden der Vorzeit, wie in den Tagen, da Gott mich bewahrte; da seine Leuchte schien über meinem Haupt, und ich bei seinem Licht durchs Dunkel wandelte; wie ich war in den Tagen meiner Jugend, da das Geheimnis Gottes über meinem Zelt, da der Allmächtige noch mit mir war, meine Knaben rings um mich her; da ich meine Schritte in Milch badete, und der Fels neben mir Ölbäche ergoss; da ich zum Tor durch die Stadt ausging, meinen Stuhl auf die Straße stellen ließ. Die Knaben sahen mich und verbargen sich, und die Greife erhoben sich und standen; die Obersten hielten die Worte zurück, und legten die Hand auf ihren Mund; die Stimme der Edlen verbarg sich, und ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen; wenn das Ohr mich hörte, pries es mich, wenn das Auge mich sah, zeugte es von mir. Denn ich befreite den Elenden, der da rief, und den Waisen, und den, der keinen Helfer hatte. Der Segen des Untergehenden kam über mich, und das Herz der Witwe machte ich jubeln. Ich kleidete mich mit Gerechtigkeit, und sie kleidete mich; wie Mantel und Kopfbund war mein Recht. Auge war ich dem Blinden und Fuß dem Lahmen; Vater war ich dem Dürftigen, und die Rechtssache, die ich nicht kannte, erforschte ich. Und ich zerbrach die Backenzähne des Ungerechten und riss den Raub aus seinen Zähnen. Und ich sprach: In meinem Nest werde ich den Geist aufgeben und die Tage vermehren wie Sand. Meine Wurzel war ausgebreitet am Wasser, und Tau übernachtete auf meinem Ast; meine Herrlichkeit blieb neu bei mir, und mein Bogen erneuerte sich in meiner Hand. Sie hörten mir zu und harrten, und schwiegen auf meinen Rat. Nach meinen Worten sprachen sie nicht wieder, und meine Rede träufelte auf sie. Und sie warteten auf mich, wie auf den Regen, und sperrten ihren Mund auf, wie nach dem Spätregen. Neun ich ihnen zulächelte, sei glaubten sie es nicht, und das Licht meines Antlitzes machten sie nicht fallen. Ich erwählte ihren Weg, und saß als Haupt, und wohnte wie ein König unter den Scharen, wie einer, der Traurige tröstet. Und nun lachen über mich Jüngere denn ich an Jahren, deren Väter ich verschmähte, den Hunden meiner Herde dazuzugesellen.“

Das sind in der Tat höchst bemerkenswerte Äußerungen. Vergeblich horchen wir auf irgendeinen Seufzer eines gebrochenen und zerknirschten Geistes. Nichts zeugt hier von Widerwillen oder Misstrauen gegen sich selbst. Nirgend findet sich ein Bewusstsein von Schwäche und Ohnmacht. Im Lauf dieses einzigen Kapitels beruft sich Hiob mehr als vierzig Mal auf sich selbst, während nur fünfmal auf Gott Bezug genommen wird. Alles erinnert uns an das vorherrschende „Ich“ des siebenten Kapitels des Römerbriefes, jedoch mit dem großen Unterschied, dass dort ein armes, schwaches, verwerfliches und unglückliches Geschöpf sich in der Gegenwart des heiligen Gesetzes Gottes befindet, während in Hiob 29 das „Ich“ einer wichtigen, einflussreichen, bewunderten und von ihren Mitgeschöpfen fast angebeteten Persönlichkeit angehört.

Hiob musste daher von diesem allen entblößt werden; und wenn wir Kapitel 29 und Kapitel 30 mit einander vergleichen, so werden wir uns eine Vorstellung davon machen können, wie schmerzlich der Prozess dieser Entblößung sein musste. Ein besonderer Nachdruck liegt in den Anfangsworten: „Und nun.“ Hiob schildert den höchst auffallenden Gegensatz zwischen diesen beiden Kapiteln. In Kapitel 30 ist er nur mit sich selbst beschäftigt. Hier ist es nur das „Ich“; aber wie sehr ist alles verändert! Dieselben Menschen, die ihm in den Tagen seines Wohlstandes schmeichelten, behandelten ihn mit Geringschätzung in den Tagen seines Unglücks. So ist es immer in dieser armen, falschen, trügerischen Welt. Alles muss einmal die Falschheit der Welt ans Licht stellen, sowie den Wankelmut derer, die bereit sind, heute ihr „Hosanna!“ und morgen ihr „Kreuzige ihn!“ zu schreien. Man kann dem Menschen nicht trauen. Alles lächelt, wenn die Sonne scheint; aber man warte, bis der schneidende Windstoß des Winters kommt, und man wird sehen, wie weit man auf die Versicherungen und zusagen der Natur rechnen kann. Solange der „verlorene Sohn“ noch ein Vermögen zu vergeuden hatte, konnte er von seinem Überfluss mitteilen; aber als er Mangel zu leiden begann, „gab ihm niemand“.

Also war es bei Hiob, wie wir in Kapitel 30 sehen. Aber man bemerke es wohl, dass hier mehr als die Befreiung von sich selbst und als die Entdeckung der Falschheit und des Wankelmutes der Welt nötig war. Man mag alle diese Erfahrungen machen, und, nur Kummer und Enttäuschung wird das Resultat sein, wenn Gott nicht erreicht wird. Solange das Herz nicht in Gott sein volles Genüge gefunden hat, weicht es trostlos vor dem Anblick der Kehrseite menschlichen Glücks zurück; und die Entdeckung der Unbeständigkeit und Falschheit der Menschen erfüllt es mit Bitterkeit. Das sagen uns die Worte Hiobs in Kapitel 30: „Und nun lachen über mich Jüngere denn ich an Jahren, deren Väter ich verschmäht, den Hunden meiner Herde dazuzugesellen.“ War das die Gesinnung Christi? Würde Hiob am Schluss des Buches also gesprochen haben? Sicher nicht. Ach nein, mein Leser! Als sich Hiob in der Gegenwart Gottes befand, da war es mit der Selbstsucht in Kapitel 29 und mit der Bitterkeit in Kapitel 30 zu Ende. 1 Doch hören wir seine ferneren Auslassungen. „Kinder der Toren und Kinder ohne Namen waren sie, hinausgepeitscht aus dem Land. Und nun bin ich ihr Spottlied geworden, und bin ihnen zum Sprichwort. Sie verabscheuen mich, entfernen sich von mir, ja, sie enthalten sich nicht des Ausspeiens in mein Angesicht. Denn er hat meinen Gurt gelöst und mich gebeugt, darum lassen sie den Zügel schießen vor meinem Angesicht. Zur Rechten steht die junge Brut; sie stoßen meine Füße fort und bahnen wider mich ihre verderblichen Wege. Sie zerstören meinen Pfad, befördern meinen Sturz; sie haben keinen Helfer. Sie kommen wie durch eine weite Lücke; unter Gelärm wälzen sie sich heran. Schrecknisse sind gegen mich gekehrt; sie verfolgen wie ein Wind meine Würde, und mein Heil ist vorübergegangen wie eine Wolke.“

Das alles waren die trüben Erfahrungen Hiobs. Aber laute Klagen über ein verschwundenes Glück und bittere Schmähungen über andere Menschen nützen nicht nur nicht dem Herzen, sondern entfalten auch in keiner Weise den Geist und die Gesinnung Christi, noch verherrlichen sie seinen heiligen Namen. Richten wir unseren Blick auf die gesegnete Person des Herrn, dann finden wir etwas ganz anderes. Er, der „sanftmütige und von Herzen demütige“ Jesus, begegnete dem Widerstreben dieser Welt, sowie all den getäuschten Erwartungen inmitten seines Volkes Israel, und endlich dem Unglauben und der Torheit seiner Jünger mit einem: „Ja, Vater, also war es wohlgefällig vor dir.“ Er war fähig, sich von dem Treiben der Menschen zurückzuziehen und in Gott seine Zuflucht zu suchen; und von dort her kam das sanfte Wort: „Kommt her zu mir – ich will euch Ruhe geben“ (Mt 11). Weder Verdruss, noch Bitterkeit, weder lieblose Schmähungen, noch harte, unfreundliche Worte zeigten sich bei dem gnadenreichen Herrn, welcher in die kalte und herzlose Welt gekommen war, um die vollkommene Liebe Gottes zu offenbaren, und welcher den Pfad seines Dienstes verfolgte trotz des ganzen Hasses des Menschen.

Aber die gerechtesten und besten Menschen müssen, geprüft nach dem vollkommenen Maße der Liebe Christi, in den Schatten treten. Das Licht seiner moralischen Herrlichkeit macht die Mängel und Gebrechen selbst des vollkommensten der Menschenföhne offenbar. „Er muss unter allen Dingen den Vorrang haben.“ Er ragt weit hervor über Hiob oder Jeremias, wenn es sich handelt um geduldige Ergebenheit bezüglich dessen, was Er zu erdulden hatte. Hiob brach unter dem Gewicht der Trübsal völlig zusammen. Er ergoss nicht nur einen Strom der bittersten Schmähungen über seine Mitmenschen, sondern verfluchte auch den Tag seiner Geburt. „Danach öffnete Hiob seinen Mund und verfluchte seinen Tag; und Hiob antwortete und sprach: Es verschwinde der Tag, an dem ich geboren, und die Nacht, die da sprach: Ein Knäblein ist empfangen“ (Kap 3,1–3).

Wir finden dasselbe bei Jeremias, diesem gesegneten Mann Gottes. Auch er vermochte nicht dem schweren Druck der mannigfaltigen, sich anhäufenden Prüfungen zu widerstehen und machte seinen Gefühlen Luft in den bitteren Ausdrücken: „Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren ward! Der Tag, an dem mich meine Mutter geboren, sei nicht gesegnet! Verflucht der Mann, der meinem Vater die frohe Botschaft brachte und sprach: Ein männliches Kind ist dir geboren, und ihn hoch erfreute! Ja, selbiger Mann sei wie die Städte, die Jehova umgekehrt, und ihn nicht gereut hat; und er höre ein Rufen in der Morgenstunde, und ein Geschrei zur Mittagszeit, dass er mich nicht getötet von Mutterleib an, dass nicht meine Mutter mein Grab geworden und ihr Leib ewig schwanger geblieben. Warum bin ich aus Mutterleib hervorgekommen, Jammer und Betrübnis zu sehen, und dass meine Tage vergehen in Schande“ (Jer 20,14–18).

Welch eine Sprache! Er verflucht den Mann, der die Nachricht seiner Geburt brachte; er verflucht denselben, weil er nicht von ihm getötet worden ist. Welch ein Gegensatz bilden sowohl der Patriarch, als auch der Prophet gegenüber dem sanftmütigen und von Herzen demütigen Jesus von Nazareth! Er, der fleckenlose Heiland, hat schrecklichere und zahlreichere Prüfungen durchgemacht, wie alle seine Diener zusammen; und dennoch kam nie ein murrender Ton über seine Lippen. Er unterwarf sich allem und begegnete den finstersten Stunden mit den Worten: „Den Kelch, den mir mein Vater gegeben hat, soll ich den nicht trinken?“ Gesegneter Herr, Sohn des Vaters, wie anbetungswürdig bist du! Lob und Anbetung sei deiner unendlichen Liebe dargebracht! 2.: Es gibt in dem Buch Hiob für unsere Betrachtung kein fruchtbareres Feld, als dasjenige der Geschichte der Führungen der Seelen von Seiten Gottes. Wir finden hier die reichhaltigsten und nützlichsten Belehrungen. Der große Zweck solcher Führungen ist, ein wirkliches Gebrochensein und eine wahre Demütigung zu erwecken, alle falsche Gerechtigkeit von uns abzustreifen, uns von allem Selbstvertrauen zu befreien und uns Christus als die einzige Stütze anzuweisen. Alle haben, so zu sagen, den Prozess des Ausleerens und des Abstreifens durchzumachen. Bei etlichen schreitet dieser Prozess der Bekehrung voraus, bei anderen folgt er derselben nach. Etliche werden durch schmerzliche Erfahrungen des Herzens und Gewissens, die sich oft über die ganze Lebensdauer ausdehnen, zu Christus gebracht, während andere vergleichsweise durch leichte Übungen der Seele dieses Ziel erreichen. Die Letzteren ergreifen schnell die frohe Botschaft der durch den Versöhnungstod Christi bewirkten Vergebung der Sünden, und ihr Herz ist plötzlich mit Freude erfüllt. Aber der Prozess des Abstreifens und Ausleerens erfolgt jedenfalls und äußert sich oft in einer solchen Kraft, dass die Seele bis auf den Grund erschüttert wird, und nicht selten betreffs ihrer Bekehrung Zweifel hervorgerufen werden.

Dies ist sehr schmerzlich, aber durchaus notwendig. Das „Ich“ muss früher oder später erkannt und verurteilt werden. Wenn es nicht in der Gemeinschaft mit Gott kennen gelernt wird, so muss es durch die bittere Erfahrung des Strauchelns und Fallens erkannt werden. „Kein Fleisch kann sich vor Gott rühmen“; und wir müssen alle unsere gänzliche Ohnmacht in allen Beziehungen kennen lernen, um die Lieblichkeit und den Trost der Wahrheit kosten zu können, dass Christus uns von Gott zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung gemacht ist. Gott will leere Gefäße haben. Vergessen wir es nicht. Es ist eine ernste und unabänderliche Wahrheit. „Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der in der Ewigkeit wohnt, und dessen Name heilig ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum, und bei dem, der zerschlagenen und demütigen Geistes ist, auf dass ich belebe den Geist der Demütigen, und auf dass ich belebe das Herz der Zerschlagenen.“ Und wiederum: „So spricht Jehova: Der Himmel ist mein Thron, und die Erde der Schemel meiner Füße. Wo ist das Haus, das ihr mir bauen wollt, und wo ist der Ort meiner Ruhe? Und alles dieses hat meine Hand gemacht, und alles dieses ist geworden, spricht Jehova. Aber auf diesen will ich blicken: auf den Armen und Zerschlagenen im Geist, und der da zittert vor meinem Wort“ (Jes 57,15; 66,1–2).

Das sind passende Worte für uns alle. Das Gebrochensein des Geistes ist ein spezielles Bedürfnis des gegenwärtigen Augenblicks. Der überwiegendste Teil unserer Leiden sind dieses Bedürfnisses wegen notwendig. Es ist in der Tat wunderbar, welche Fortschritte wir in der Familie, in der Versammlung, in der Welt, ja in unserem ganzen Leben machen, wenn das Ich unterjocht und getötet ist. Manche Dinge, die sonst unsere Herzen in Feuer und Flammen setzen würden, werden, wenn unsere Seelen zerknirscht sind, in ihrer ganzen Wertlosigkeit erkannt. Wir können dann Beleidigungen und Schmähungen ertragen, Zurücksetzungen und Beschimpfungen übersehen, unsere Grillen, Launen und Vorurteile unter den Füßen halten, und sind fähig gemacht zu guten Werken und Handlungen, welche die Lehre Gottes unseres Heilands zieren. Aber ach, wie oft ist es anders bei uns! Wie oft Zeigen wir einen starren unnachgiebigen Eigensinn; wie oft bestehen wir auf unserem Recht, wie oft haben wir unser eigenes Interesse im Auge, wie oft richten wir unser Auge nur auf unsere eigenen Dinge, und wie oft sind wir nur für unsere eigenen Personen beschäftigt! Alles dieses beweist nur zu deutlich, dass unser Ich nicht in der Gegenwart Gottes gemessen und gerichtet ist.

Doch wir wiederholen es mit allem Nachdruck: Gott will leere Gefäße haben. Er liebt uns zu sehr, als dass Er uns in unserer Härte und Unbeugsamkeit lassen könnte; und darum findet Er es für nötig, uns durch allerlei Arten von Übungen hindurchgehen zu lassen, um uns in einen Seelenzustand zu bringen, in welchem Er uns für seine Herrlichkeit verwenden kann. Der Wille muss gebrochen, das Selbstvertrauen bis auf die Wurzel ausgerottet werden. Gott will sowohl die Szenen und Umstände, welche wir zu durchschreiten haben, als auch die Menschen, mit denen wir im tagtäglichem Leben verkehren müssen, zur Zucht des Herzens und zum Brechen des eigenen Willens benutzen.

Dies alles tritt in dem Buchs Hiob ganz deutlich vor unser Auge. Es ist sehr einleuchtend, dass Hiob einer ernsten Sichtung bedurfte. Hätte er derselben nicht bedurft, so würde der gnadenreiche Gott sicher ihm die schweren Prüfungen erspart haben, durch welche er gehen musste. Es war gewiss nicht ohne Zweck, dass Er Satan erlaubte, Verwundende Pfeile auf seinen teuren Diener abzuschießen. Wir können mit der vollsten Zuversicht sagen, dass Gott eine solche Reihe von Drangsalen keineswegs zugelassen hätte, wenn der Zustand Hiobs es nicht unabweislich forderte. Gott liebte ihn mit einer vollkommenen Liebe; aber es war eine weise und treue Liebe, eine Liebe, die bis ins Innere zu dringen und im Herzen seines Dieners eine tiefe moralische Wurzel zu entdecken vermochte, welche Hiob nimmer gesehen und darum auch nimmer gerichtet hätte. Welch eine Gnade, mit solch einem Gott zu tun zu haben! Welch eine Gnade, den Händen dessen anvertraut zu sein, der keine Mühe spart, um in uns alles, was Ihm zuwider ist, zu brechen und sein gesegnetes Bild in uns hervor zu bringen.

Es ist eine Sache von höchster Wichtigkeit, dass Gott sich selbst des Satans als eines Werkzeuges zur Zucht seines Volkes bedienen kann. Wir finden dieses bei dem Apostel Petrus ebenso wohl, wie bei dem Patriarchen Hiob. Petrus musste gesichtet werden, und Satan wurde zu diesem Werk gebraucht. „Simon, Simon! siehe, der Satan hat eurer begehrt, euch zu sichten, wie den Weizen.“ Es war dieses eine gebieterische Notwendigkeit. In dem Herzen des Apostels musste eine verborgene Wurzel erreicht werden – die Wurzel des Selbstvertrauens; und sein treuer Herr fand es unbedingt nötig, ihn einen höchst ernsten und schmerzlichen Prozess durchmachen zu lassen, damit diese Wurzel ans Licht gestellt und gerichtet werden konnte. Aus diesem Grund nun wurde es dem Satan gestattet, ihn zu sichten, damit er nie wieder seinem eigenen Herzen vertraue, sondern in den kommenden Tagen mit Vorsicht seinen Weg fortsetze. Gott muss leere Gefäße haben, sei es bei einem Patriarchen, oder bei einem Apostel. Alles muss mürbegemacht und unterworfen sein, damit die göttliche Herrlichkeit in einem stets glänzenden Strahle Hervorscheinen kann.

Hätte Hiob diesen großen Grundsatz erkannt, hätte er den göttlichen Zweck begriffen, wie ganz anders würde er alles ertragen haben! Aber er hatte, wie auch wir, seine Lektion zu lernen; und der Heilige Geist teilt uns zu unserem Nutzen durch seine Geschichte mit, in welcher Weise diese Lektion gelernt wurde. Folgen wir daher dieser Mitteilung.

„Und es war des Tages, da die Söhne Gottes kamen, sich vor Jehova zu stellen, und es kam auch Satan in ihrer Mitte. Und Jehova sprach zu Satan: Wo kommst du her? Und Satan antwortete Jehova und sprach: Vom Durchstreifen der Erde und vom Umherwandeln auf ihr. – Und Jehova sprach zu Satan: Hast du Acht gehabt auf meinen Knecht Hiob? denn niemand auf der Erde ist wie er, ein Mann vollkommen und aufrichtig, gottesfürchtig und sich fernhaltend vom Bösen. – Und Satan antwortete Jehova und sprach: Ist es umsonst, dass Hiob Gott fürchtet? Hast du nicht umzäunt ihn und sein Haus und alles, was er hat, ringsum? Du hast das Werk seiner Hände gesegnet, und sein Vieh hat sich ausgebreitet im Land. Aber strecke doch deine Hand aus und taste an alles, was sein ist, ob er dich nicht in dein Angesicht lästern wird“ (Kap 1,6–11). Wie deutlich tritt hier die Bosheit Satans vor unser Auge! Wie scharf ist hier die Art und Weise gezeichnet, in welcher er die Wege und Werke des Volkes Gottes überwacht und beobachtet! Wie klar erkennt er den menschlichen Charakter! Welch eine genaue Kenntnis besitzt er über den geistigen und moralischen Zustand des Menschen! Wie schrecklichem seine Hände zu fallen! Er steht immer auf der Lauer und ist, wenn Gott es erlaubt, stets bereit, seine Bosheit wider die Christen geltend zu machen.

Der Gedanke an dieses alles ist sehr ernst und sollte uns, da wir uns auf einem Schauplatz befinden, wo Satan seine Herrschaft ausübt, stets zu einem demütigen und sorgfältigen Wandel leiten. Er ist völlig machtlos gegenüber einer Seele, die auf dem Platz der Abhängigkeit und des Gehorsams bleibt; und, Gott sei gepriesen! er kann nicht um ein Haarbreit die Grenze überschreiten, die der göttliche Befehl gezogen hat. So war es auch bei Hiob. „Und Jehova sprach zu Satan: Siehe, alles, was sein ist, sei in deiner Hand; nur nach ihm strecke deine Hand nicht aus“ (V 12). Hier wird also dem, Satan erlaubt, seine Hand an das Besitztum Hiobs zu legen, ihn seiner Kinder zu berauben und seines Wohlstandes zu entblößen. Und in der Tat, er verliert keine Zeit, um sein Werk in Angriff zu nehmen. Mit einer bewunderungswürdigen Schnelligkeit führt er seinen Auftrag aus. In schneller Aufeinanderfolge fällt Schlag auf Schlag auf das gebeugte Haupt des Patriarchen. Kaum hatte der eine Bote seine traurige Kunde überbracht, so erschien schon ein anderer mit einer noch schrecklicheren Nachricht, bis endlich der betrübte Diener Gottes „sein Gewand zerriss und sein Haupt schor und zur Erde fiel und anbetete und sprach: Nackt bin ich gekommen aus meiner Mutter Leib; und nackt werde ich dahin zurückkehren; Jehova hat gegeben und Jehova hat genommen; der Name Jehovas sei gelobt!“ (V 20–22)

Wie ergreifend sind diese Vorfälle. In einem Moment seiner zehn Kinder beraubt und aus fürstlichem Wohlstände in gänzliche Armut versetzt zu sein, das war, menschlich gesprochen, Ursache genug, um wankend zu werden. Welch ein greller Kontrast zwischen den ersten und den letzten Zeilen dieses Kapitels! Zu Anfang sehen wir Hiob von einer zahlreichen Familie umringt und im Besitz ausgedehnter Besitzungen; und am Schluss sehen wir ihn allein gelassen in Armut und Nacktheit. Und Satan war es, der ihn unter der Zulassung, ja gar im Auftrag Gottes in diese Lage gebracht hatte. Welch ein Gedanke! Aber welches war der Zweck? Es geschah, um der kostbaren Seele Hiobs einen großen und bleibenden Nutzen zu verschaffen. Gott sah, dass sein Diener es nötig hatte, eine Lektion zu lernen und dass auf keinem anderen Wege und durch kein anderes Mittel dieser Zweck erreicht werden konnte, als dadurch, dass Er ihn durch eine Feuerprobe gehen ließ. Doch gehen mir weiter.

„Und es war des Tages, da kamen die Söhne Gottes, sich vor Jehova zu stellen, und es kam auch Satan in ihrer Mitte, sich vor Jehova zu stellen. Und Jehova sprach zu Satan: Wo kommst du her? Und Satan antwortete Jehova und sprach: Vom Durchstreifen der Erde und vom Umherwandeln auf ihr. – Und Jehova sprach zu Satan: Hast du Acht gehabt auf meinen Knecht Hiob? Denn niemand auf der Erde ist wie er, ein Mann vollkommen und aufrichtig, gottesfürchtig und sich fernhaltend vom Bösen; und er hält noch fest an seiner Vollkommenheit; und du hast mich gereizt wider ihn, ihn zu verschlingen ohne Ursache. Und Satan antwortete Jehova und sprach: Haut um Haut, ja alles, was jemand hat, wird er für sein Leben hingeben; doch strecke deine Hand aus und taste an seine Gebeine und sein Fleisch, ob er dich nicht in dein Angesicht lästern wird? – Und Jehova sprach zu Satan: Siehe, er sei in deiner Hand; nur seines Lebens wahre. – Und Satan ging aus von dem Angesicht Jehovas und schlug Hiob mit bösen Schwären, von seiner Fußsohle bis zu seinem Scheitel. Und er nahm sich eine Scherbe, sich damit zu schaben, und setzte sich nieder mitten in die Asche. Und sein Weib sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner Vollkommenheit? Lästere Gott und stirb! – Er aber sprach zu ihr: Du redest, wie eine der Törinnen redet: Auch das Gute haben wir von Gott angenommen, und das Böse wollten wir nicht annehmen? – In diesem allen sündigte Hiob nicht mit seinen Lippen“ (Kap 2,1–10).

Das sind bemerkenswerte Worte. Sie zeigen uns den Platz, den Satan bezüglich der Regierung Gottes einnimmt. Er ist nichts als ein Werkzeug; und obwohl stets bereit, das Volk Gottes anzuklagen, so kann er doch nur das ausführen, was ihm von Gott gestattet ist. Seine Anstrengungen sind, soweit es sich um Hiob handelt, fehlgeschlagen; nachdem er das Äußerste versucht hat, verschwindet er; und was auch immer seine inneren Versuchungen gewesen sein mochten, so hören wir in unserem Buch doch nichts weiter von ihm. Hiob hatte sich fähig erwiesen, an seiner Vollkommenheit fest zu halten; und hätten hiermit die Dinge ein Ende gehabt, so würde er in seinem Ausharren für seine eigene Gerechtigkeit und für seine Selbstgefälligkeit einen noch festeren Boden gefunden haben. „Von dem Ausharren Hiobs habt ihr gehört“, sagt Jakobus. Und was weiter? „Das Ende des Herrn habt ihr gesehen, dass der Herr voll von innigem Mitgefühl und barmherzig ist“ (Jak 5,11). Hätte es sich nur um das Ausharren Hiobs gehandelt, so würde er in seinem Selbstvertrauen noch befestigt worden sein; und das „Ende des Herrn“ wäre nicht erreicht worden. – Denn sicher wird das innige Mitgefühl und die Barmherzigkeit des Herrn nur von denen gekostet, welche zerknirschten Geistes und gebrochenen Herzens sind. In diesem Zustand befand sich Hiob nicht, wiewohl er sich mitten in die Asche gesetzt hatte. Er war nicht gänzlich vor Gott zusammengebrochen. Er war noch immer der große Mann – ebenso groß in seinem Missgeschick, wie in den Tagen seines Wohlergehens – ebenso groß unter den schneidenden, ausdorrenden Windstößen der Widerwärtigkeit, wie in dem Sonnenschein glänzender und besserer Tage. Das Herz Hiobs war noch nicht erreicht. Er war noch nicht zubereitet, um zu schreien: „Siehe, nichtig bin ich!“ und: „Ich verabscheue mich und bereue in Sack und Asche!“ (Kap 39,34; 42,6)

Wir können diesen Punkt nicht fest genug im Auge behalten. Er bildet größtenteils den Schlüssel zu dem ganzen Buch Hiob. Es war der göttliche Zweck, vor das Auge Hiobs die Tiefen seines eigenen Herzens zu bringen, damit er lerne, sich der Gnade und der Barmherzigkeit Gottes zu erfreuen und keinen Wert auf die eigene Vortrefflichkeit zu legen, welche gleich einer Morgenwolke und gleich dem frühen Tau gar bald verschwindet. Hiob war ein wahrer Heiliger Gottes, alle Anklagen Satans waren abgewiesen; aber nichtsdestoweniger war Hiob kein leeres Gefäß und darum nicht zubereitet für das „Ende des Herrn“, – für jenes gesegnete Ende, welches sich, zum Wohl jedes zerknirschten Herzens, durch „inniges Mitgefühl und Barmherzigkeit“ kundgibt. Gottgesegnet und gepriesen sei sein Name! – will nicht dulden, dass Satan uns anklagt; aber Er will die Verborgenheiten unserer Herzen vor unser Auge bringen, damit wir uns selber richten und auf diesem Weg lernen, unseren eigenen. Herzen zu misstrauen und in der ewigen Unerschütterlichkeit seiner Gnade zu ruhen. 3.: Wir sehen also, dass Hiob an seiner „Vollkommenheit festhielt“. Er begegnet mit Ruhe den schweren Prüfungen, die Satan nach Gottes Zulassung über ihn verhängen darf; und dazu weist er mit Entschiedenheit den törichten Rat seines Weibes von der Hand. Er nimmt, mit einem Wort, alles aus der Hand Gottes und beugt sein Haupt in der Gegenwart der geheimnisvollen, göttlichen Fügungen.

Alles dieses ist anerkennenswert. Aber die Erscheinung der drei Freunde Hiobs ruft einen auffälligen Wechsel hervor. Schon ihre bloße Gegenwart, die einfache Tatsache, dass sie Augenzeugen seiner Leiden waren, regte ihn in auffallender Weise auf. „Und es hörten die drei Freunde all dieses Unglück, das über ihn gekommen war; und sie kamen, ein jeglicher aus seinem Ort: Elifas, der Temaniter, und Bildad, der Suchäer, und Zofar, der Naamathiter; und sie waren eins gewesen zu kommen, ihn zu beklagen und ihn zu trösten. Und da sie ihre Augen erhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht; und sie erhoben ihre Stimme und weinten und zerrissen ein jeglicher sein Gewand und streuten Staub auf ihre Häupter himmelwärts. Und sie sahen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte, und keiner sprach zu ihm ein Wort; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war“ (Kap 2,11–13).

Wir glauben gern, dass diese drei Männer im Grund durch gute Gefühle gegen Hiob beherrscht waren; und es war ihrerseits kein geringes Opfer, ihre Heimat zu verlassen, um ihren verarmten und niedergebeugten Freund zu trösten. Alles dieses ist leicht zu begreifen. Aber es ist augenscheinlich, dass ihre Gegenwart die Wirkung hatte, dass Gefühle und Gedanken in seinem Herzen und Gemüt wachgerufen wurden, welche bisher geschlummert hatten. – Er hatte mit Ergebenheit den Verlust seiner Kinder, seines Vermögens und seiner Gesundheit ertragen. Satan war verstoßen und der Rat seines Weibes verworfen; aber die Gegenwart seiner Freunde warf den armen Hiob gänzlich zu Boden. „Danach öffnete Hiob seinen Mund und verfluchte seinen Tag“ (Kap 3,1).

Das ist sehr beachtenswert. Wie es scheint, hatten die Freunde bis dahin nicht ein einziges Wort gesprochen. Sie saßen da in gänzlichem Schweigen mit zerrissenen Gewändern und mit Staub bedeckten Häuptern, und sie schauten hier einen Kummer, dem sie nicht auf den Grund kommen, konnten. Hiob selbst musste das Schweigen brechen; und der ganze Inhalt des dritten Kapitels ist ein Ausschütten der bittersten Wehklagen und liefert das traurige Zeugnis einer nicht unterworfenen Gesinnung. Es ist – wir dürfen es kühn behaupten – unmöglich, dass jemand, der in irgendeinem Grad gelernt hat zu sagen: „Herr, dein Wille geschehe!“ seinen Tag verfluchen oder jene Sprache führen kann, die in dem dritten Kapitel unseres Buches enthalten ist. Es ist freilich schon oft gesagt worden, dass es für jemanden, der nie solche schwere Leiden wie Hiob kennen gelernt hat, leicht sei, ein Urteil zu fällen. Wir räumen dies gern ein und fügen sogar noch hinzu, dass vielleicht kein anderer unter solchen Umständen um ein Haar besser gehandelt haben würde. Aber dieses berührt keineswegs die Bedeutung des Buches Hiob, die zu erfassen unser Vorrecht ist. Hiob war ein wahrer Heiliger Gottes; aber wie wir, so hatte auch er es nötig, sich selbst kennen zu lernen. Es war nötig, dass die verborgenen Wurzeln seines inneren Zustandes vor seinem Auge bloßgelegt wurden, damit er in Wahrheit sich „verabscheute und bereute in Sack und Asche.“ Auch bedurfte er eines wahreren und tieferen Gefühls betreffs dessen, was Gott war, um Ihm unter allen Umständen vertrauen zu können.

Doch nach diesem allen suchen wir vergeblich in dem Benehmen Hiobs. „Und Hiob antwortete und sprach: Es verschwinde der Tag, an dem ich geboren, und die Nacht, die da sprach: Ein Knäblein ist empfangen! ... Warum starb ich nicht von Mutterleib an?“ (Kap 3,2–11) das sind nicht Ausdrücke eines gebrochenen und zerknirschten Geistes, der gelernt hat zu sagen: „Ja, Vater, also war es wohlgefällig vor dir.“ Es ist ein wichtiger Punkt in der Geschichte der Seele, wenn jemand befähigt ist, sich mit Sanftmut unter die Fügungen der Hand Gottes zu beugen. Ein gebrochener Wille ist eine reiche und seltene Gabe. Es ist eine hohe Stufe in der Schule Christi, wenn man sagen kann: „Ich habe gelernt, worin ich bin, mich zu begnügen“ (Phil 4,11). Paulus hatte dieses lernen müssen. Es war nicht von Natur bei ihm vorhanden; und sicher hätte er es nimmer zu, den Füßen Gamaliels zu lernen vermocht. Saulus von Tarsus würde sich nimmer mit den höchsten Stufen in dieser Welt begnügt haben. Er musste zu den Füßen Jesu von Nazareth gänzlich zusammengebrochen sein, bevor er von Herzen sagen konnte: „Ich begnüge mich!“ Er hatte über die Bedeutung der Worte nachzusinnen: „Meine Gnade ist dir genug“, bevor er sich „am allerliebsten seiner Schwachheiten rühmen“ konnte. Der Mann, welcher eine solche Sprache zu führen vermochte, bildete den auffallendsten Gegensatz zu dem Mann, der seinen Tag verfluchen und sagen konnte: „Warum starb ich nicht von Mutterleib an?“ Ach! wenn Hiob in der Gegenwart Gottes gewesen wäre, so würde er sicher solche Worte nicht haben aussprechen können. Er würde völlig erkannt haben, warum er nicht gestorben war. Er würde sich ohne Murren mit dem begnügt haben, was Gott für ihn auf Lager hatte; er würde Gott in allen Dingen gerechtfertigt haben. Aber Hiob befand sich nicht in der Gegenwart Gottes, sondern in der Gegenwart seiner Freunde, welche in der deutlichsten Weise den Beweis lieferten, dass sie wenig oder nichts von dem Charakter Gottes begriffen und über den wahren Zweck seiner Handlungen bezüglich seines teuren Knechtes Hiob durchaus kein Verständnis hatten.

Es ist indes keineswegs unsere Absicht, auf die zwischen Hiob und seinen Freunden stattgefundenen Gespräche, die den Inhalt von neunundzwanzig Kapiteln ausmachen, näher einzugehen. Wir wollen nur einige wenige Stellen aus den Reden der Freunde herausnehmen, die den Leser fähig machen werden, sich von dem wirklichen Grund, auf welchem diese drei irrenden Männer standen, eine Vorstellung machen zu können.

Elifas war der erste Sprecher. „Und es antwortete Elifas, der Temaniter, und sprach: Wenn man ein Wort an dich versuchte, würde dich es verdrießen? Doch der Rede sich zu enthalten, wer vermag es? Siehe, du hast viele unterwiesen, und erschlaffte Hände hast du gestärkt; den Strauchelnden haben deine Hände aufgerichtet, und sinkende Knie hast du befestigt. Aber nun kommt es an dich, und es verdrießt dich; es erreicht dich, und du wirst bestürzt. Ist nicht deine Gottesfurcht, deine Zuversicht, deine Hoffnung gewesen, und die Vollkommenheit deiner Wege? Gedenke doch, wer ist der Unschuldige, der umgekommen, und wo sind Aufrichtige vertilgt? Sowie ich gesehen, die Unheil pflügen und Mühsal säen, ernten es“ (Kap 4,1–8). Und wiederum: „Ich sah einen Toren wurzeln, aber sogleich fluchte ich seiner Wohnung“ (Kap 5,3; siehe auch Kap 15,16).

Diese Aussprüche verraten es unzweideutig, dass Elifas den Reihen jener Leute angehört, die ihre Beweise fast immer aus ihren eigenen Erfahrungen schöpfen. Sein Losungswort war: „Ich sah.“ – Was wir gesehen, mag, soweit es sich um uns handelt, wahr genug sein. Aber es ist durchaus irrtümlich aus unserer Erfahrung eine allgemeine Regel zu machen; und dennoch ist es ein Irrtum, zu welchem sich Tausende hinneigen. Was hatte z. B. die Erfahrung des Elifas mit Hiob zu tun? Vielleicht war er nie einem Fall begegnet, der diesem völlig ähnlich war; und wenn zwischen zwei Fällen nur ein einziger Zug von Unähnlichkeit vorhanden ist, dann hat der auf Erfahrung gegründete Beweis keine Gültigkeit. Und was erreichte Elifas durch sein Urteil? Gar nichts. Denn kaum hatte er seine Worte beendet, so setzte Hiob, der denselben nicht die mindeste Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die Sprache seiner Trostlosigkeit wieder fort, und zwar vermengt mit einer Rechtfertigung seiner selbst und mit bitteren, gegen die göttliche Handlungsweise gerichteten Klagen (Kap 6 und 7).

Bildad ist der zweite Sprecher. Er betritt einen ganz anderen Boden wie sein Vorgänger. Er beruft sich nicht ein einziges Mal auf seine eigenen Erfahrungen, oder auf das, was unter sein beobachtendes Auge gekommen war. Er beruft sich auf die Vorzeit. „Frage doch das vorige Geschlecht und richte deinen Sinn auf die Erforschung ihrer Väter; (denn wir sind von gestern und wissen nichts, denn ein Schatten sind unsere Tage auf Erden) Werden sie dich nicht lehren, und zu dir sprechen, und Reden hervorbringen aus ihrem Herzen?“ (Kap 8,8–10)

Es muss eingeräumt werden, dass uns Bildad auf ein viel weiteres Feld führt, als Elifas. Die Autorität einer Menge von „Vätern“ hat viel mehr Gewicht und Achtungswürdigkeit, als die Erfahrung einer einzelnen Persönlichkeit. Überdies zeigt es weit mehr Bescheidenheit, wenn man sich durch die Stimme zahlreicher weiser und geübter Männer, und nicht durch das Licht der eigenen Erfahrung leiten lässt. Aber in der Tat wird weder die eigene Erfahrung, noch die alte Sitte hier etwas auszurichten vermögen. Erstere mag ihrem Umfang nach wahr sein, aber man findet kaum zwei Menschen, deren Erfahrung ganz und gar in Übereinstimmung ist; und was das Zeugnis der Alten betrifft, so herrscht hier die größte Verwirrung; denn der eine der Alten unterscheidet sich oft in den wichtigsten Punkten von dem anderen, so dass es nichts Unschlüssigeres und Schwankenderes geben kann, als die Stimme der Vorzeit – die Autorität der Väter.

Daher hatten, wie vorauszusehen war, die Worte Bildads für den unglücklichen Hiob kein größeres Gewicht, als diejenigen des Elifas. Der eine stand der Wahrheit ebenso fern, wie der andere. Im Licht der göttlichen Offenbarung werden sich ihre Worte in ihrer ganzen Wertlosigkeit erweisen. Die Wahrheit Gottes ist das einzige Banner – die einzige Autorität. Mit ihrem Maß muss alles gemessen werden; unter ihre Autorität muss sich früher oder später alles beugen. Niemand hat in irgendeiner Weise das Recht, seine eigene Erfahrung als eine Richtschnur für andere zu betrachten; und wenn nicht ein Mann dieses Recht hat, dann kann es sich auch eine Menge von Männern nicht anmaßen. Mit einem Wort, nicht die Stimme des Menschen, sondern die Stimme Gottes muss uns beherrschen. Nicht die Erfahrung, oder die Überlieferung aus der Vorzeit, sondern das Wort Gottes wird am letzten Tage das Urteil sprechen. Das ist eine wichtige, ernste Wahrheit! Mögen wir dieses nie aus den Augen verlieren! Hätten Elifas und Bildad es erkannt, so würden ihre Worte ein weit größeres Gewicht für ihren armen, trostlosen Freund gehabt haben. Doch werfen wir jetzt noch in Kürze einen Blick auf etliche Worte des dritten Freundes.

Zophar, der Naamathiter, sagt: „O dass Gott redete und seine Lippen wider dich öffnete, und dir die Geheimnisse der Weisheit kundmachte, weil sie gedoppelt sind an Einsicht! Und wisse, dass Gott dir manche deiner Ungerechtigkeiten vergisst.“ Und wiederum: „Wenn du dein Herz bereitet hast und deine Hände zu ihm ausstreckst – wenn Unheil in deiner Hand, so entferne es, und lass das Unrecht nicht wohnen in deinen Zelten, – dann wirst du dein Angesicht erheben ohne Makel, und wirst fest sein und dich nicht fürchten“ (Kap 11,5–6.13–15).

Diese Worte schmecken stark nach Gesetzlichkeit. Sie zeigen ganz deutlich, dass Zofar kein wahres Gefühl von dem Charakter Gottes hatte. Er kannte Gott nicht. Nicht jemand, welcher die wahre Erkenntnis Gottes besitzt, wird von Ihm als von einem sprechen können, der seine Lippen wider einen armen, niedergebeugten Sünder öffnet und der manche der Ungerechtigkeiten vergisst. Gott ist – gepriesen sei sein Name! – nicht wider uns, sondern für uns. Er ist nicht ein gesetzlicher Forderer, sondern ein edler Geber. Dann hören wir ferner die Worte: „Wenn du dein Herz bereitet hast.“ – Aber wenn Hiob es nicht bereitet hatte, was dann? Sicher sollte ein Mensch sein Herz bereitet haben, und dieses wird, wenn sein Zustand gut ist, gewiss der Fall sein. Aber wenn sein Zustand kein guter ist, und er sich vornimmt, sein Herz zu bereiten, so findet er nur das Böse. Er findet sich selbst völlig machtlos. Was hat er dann zu tun? Zofar kann es ihm nicht sagen. Auch niemand außer seiner Schule ist dazu im Stande; denn er und seine Schüler wissen nur, dass Gott ein strenger Forderer ist, der, wenn Er seine Lippen öffnet, nur gegen den Sünder sprechen kann.

Dürfen wir uns daher wundern, dass Zofar betreffs der Überführung Hiobs ebenso wenig fähig war, wie seine beiden Gefährten? Die Gesetzlichkeit, die Feststellung der Alten und die eigene Erfahrung stehen auf einem Boden und sind gleich mangelhaft, einseitig und falsch. Nichts von dieser Art kann in dem Fall Hiobs von irgendwelchem Nutzen sein. Nicht einer der drei Freunde verstand Hiob, ja, was noch mehr ist, sie verstanden nicht den Charakter Gottes und darum auch nicht seine Absicht hinsichtlich der Behandlung seines Ihm so teuren Knechtes. Sie befanden sich gänzlich im Irrtum. Sie wussten nicht, wie sie Gott dem unglücklichen Freunde darstellen sollten; und folglich waren sie auch außer Stand, das Gewissen Hiobs in die Gegenwart Gottes zu leiten. Anstatt ihn zum Selbstgericht zu führen, riefen sie in ihm den Geist der Rechtfertigung seiner selbst wach. Sie führten Gott nicht in die Szene ein. Sie sagten etliche wahre Dinge; aber sie besaßen nicht die Wahrheit. Erfahrung, der Väter Sitte und Gesetzlichkeit standen auf dem Plan; aber die Wahrheit blieb verborgen.

Aus diesem Grund vermochten die drei Freunde den trostlosen Hiob nicht zu überführen. Ihr Dienst war einseitig; und anstatt ihn zum Schweigen zu bringen, drängten sie ihn auf einem Kampfplatz, der ohne Grenzen zu sein schien. Er bleibt ihnen kein Wort schuldig. „Fürwahr“, sagt er, „ihr seid die Leute, und die Weisheit wird mit euch sterben. Auch ich habe Verstand, wie ihr; ich bin nicht geringer, als ihr; und bei wem ist nicht dergleichen? ... Was ihr wisst, weiß auch ich; ich bin nicht geringer als ihr. ... Ihr seid Lügenschmiede; ihr seid unnütze Ärzte alle. Ach, dass ihr stille schwiegt! das würde euch zur Weisheit gereichen. ... Ich habe vieles dergleichen gehört; ihr seid allesamt leidige Tröster. Hat es ein Ende mit den windigen Worten? oder was reizt dich, dass du also antwortest? Auch ich könnte reden wie ihr, wäre eure Seele an meiner Seele statt; ich könnte Worte wider euch zusammen häufen und mein Haupt über euch schütteln. ... Bis wann wollt ihr meine Seele betrüben und mich mit Worten zermalmen. Diese zehn Mal habt ihr mich geschmäht; ihr schämt euch nicht, mich zu übertäuben. ... Erbarmt euch meiner, erbarmt euch meiner, ihr meine Freunde! denn die Hand Gottes hat mich angetastet“ (Kap 12,2–3; 13,4–5; 16,2–4; 19,2–3.21).

Alle diese Äußerungen zeigen uns, wie fern Hiob von jenem wahren Gebrochensein des Geistes war, welches stets der Gegenwart Gottes entspringt. Freilich seine Freunde waren im Unrecht völlig im Unrecht, sowohl in Bezug auf ihre Bemerkungen über Gott, als auch in Bezug auf ihren Verkehr mit Hiob. Aber ihr Unrecht rechtfertigt ihn nicht. Wäre sein Gewissen in der Gegenwart Gottes gewesen, so würde er seinen Freunden nichts erwidert haben, selbst wenn ihr Irrtum noch tausendmal größer und ihre Handlungsweise noch tausendmal strenger gewesen wäre. Er hätte demütig sein Haupt gebeugt und die Zeit der Vorwürfe und der Anklagen über sich hinwegrollen lassen. Er würde die Strenge seiner Freunde zu seinem Nutzen verwandt haben, indem er dieselbe als eine heilsame Zucht seines Herzens betrachtet hätte. Aber nein, Hiob hatte mit sich noch keinen Abschluss gemacht. Er rechtfertigte sich selbst, tadelte seine Mitmenschen und irrte in Bezug auf Gott. Es bedurfte noch eines anderen Dienstes, um seine Seele in die rechte Stellung zu versetzen (Schluss folgt).

Fußnoten

  • 1 Obwohl es der Heilige Geist ist, welcher die Unterredungen zwischen Hiob und seinen Freunden mitteilt, so waren doch sicher ihre Worte nicht durch Inspiration gesprochen.
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