Botschafter des Heils in Christo 1872

Simon Petrus, die gesichtete Seele

Geliebte Freunde! Es ist ein köstliches Vorrecht, auf den Herrn blicken zu können; denn müssten wir die Augen stets auf uns selbst richten, so würden wir nicht nur keine Fortschritte machen, sondern auch bald wegen des in uns wohnenden Bösen ganz entmutigt sein, indem es gerade die Beschäftigung mit dem Bösen in uns ist, die uns zur Überwindung desselben jeglicher Kraft beraubt.

Es ist wichtig, die Natur des Fleisches und die Verblendung des menschlichen Herzens zu erkennen, sowie den Lauf der Gedanken zu verfolgen, welche, selbst in der Nähe des Herrn, in uns das Bewusstsein der Dinge rauben, die unsere Herzen in Anspruch nehmen sollten, und deren Wirkungen um uns her fühlbar sind. Dieses sehen wir in der vor uns liegenden Betrachtung.

Der Herr Jesus war im Begriff, sein unvergleichliches Werk zu vollbringen und den letzten Schritt zu tun, um den Zorn Gottes für uns armen Sünder auf sich zu nehmen. Er befand sich in Umständen, die geeignet waren, die Herzen seiner Jünger zu erschüttern. Soeben hatten sie noch bei Gelegenheit des Passahmahles die rührendsten Worte aus seinem Mund vernommen; und dort war ihnen sogar angekündigt worden, dass einer von ihnen Ihn überliefern würde. Das alles hätte vor ihren Augen sein und ihre Herzen erfüllen sollen; aber stattdessen streiten sie mit einander, wer von ihnen für den größten zu halten sei. Für uns, die wir diese Geschichte lesen, ist der Schleier gelüftet; und weil wir wissen, um welche ernste Sache es sich in jenem Augenblick handelte, so können wir es kaum begreifen, wie die Jünger sich damals mit solchen Dingen beschäftigen konnten. Und dennoch, wie viele Dinge können auch uns, obwohl wir uns eines größeren Maßes von Licht erfreuen, von dem ablenken, was das Herz Jesu beschäftigte! Ja, so ist das menschliche Herz angesichts der ernstesten und feierlichsten Ereignisse. Ach! der Tod Jesu übt auf uns oft eine ebenso geringe Macht aus, als auf die Jünger.

Der Herr ist unter uns, wenn wir zu zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, aber wir wissen alle, welch eine Kette von Gedanken dann unseren Geist durchzieht. Die Jünger geben hierfür einen Beleg, und Zwar unter Umständen, die ganz und gar geeignet waren, das Herz zu bewegen. Er teilt ihnen mit, dass Er auf dem Punkt stehe, sein Blut für sie zu vergießen; und seine Worte: „Die Hand dessen, der mich überliefert, ist mit mir über Tische; und des Menschen Sohn geht Zwar dahin, wie es beschlossen ist; wehe aber jenem Menschen, durch den er überliefert wird“ (Lk 22,31–32), wecken bei ihnen die Frage, wer unter ihnen diese Tat wohl begehen möchte. Man hätte voraussetzen müssen, dass sie sich jetzt ausschließlich mit dem Tod ihres guten Herrn beschäftigen würden; aber stattdessen „ward ein Streit unter ihnen, wer von ihnen für den größten zu halten sei“ (V 24). Ach! geliebte Freunde, wenn wir unser eigenes Herz erforschen, so finden wir gar oft zwei neben einander stehende Dinge, nämlich, in diesem Augenblick solche Gefühle, die in der Tat von unserer Liebe zu Jesu zeugen, und dann vielleicht wieder in der nächsten halben Stunde solche Neigungen, die nicht besser als jene Streitigkeiten der Jünger sind. Dieses Zeigt uns die Torheit und Eitelkeit des menschlichen Herzens, ähnlich dem Stand, der sich an die Wage hängt.

Der Herr, stets voll Langmut und Milde, vergisst sich selbst, um sich mit seinen Jüngern zu beschäftigen, indem Er sagt: „Der Größte unter euch sei wie der Jüngste, und der Leiter wie der Dienende“ (V 26). Auch benutzt Er diese Gelegenheit, um ihnen durch sein eigenes Beispiel die Große der Liebe, Gnade und Treue Gottes verständlich zu machen. Was hatten sie nötig, sich zu erhöhen, da doch sein Vater ihre Erhöhung in die Hand genommen hatte. „Ihr seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen; und ich verordne euch ein Reich, gleich wie es mir mein Vater verordnet hat, damit ihr esst und trinkt an meinem Tisch in meinem Reich, und auf Thronen sitzt, richtend die zwölf Stämme Israels“ (V 28–30). Anstatt dieses scheußliche Benehmen der Jünger mit harten Worten zu rügen. Zeigt Er ihnen, dass, wenn sich bei den Menschen keine Gnade finde, doch in einem Menschen, und zwar in Ihm, diese Gnade zu finden sei. In Jesu offenbart sich dieselbe vollkommen; und sie ist der Grund, auf welchen Er die Jünger trotz ihres traurigen Benehmens stellt und dadurch die Torheit des unter ihnen wirkenden Fleisches ins Licht setzt. Es ist, als hätte Er gesagt: „Ich habe nur Gefühle der Gnade für euch und vertraue euch das Reich.“

Geliebte Freunde! Auch wir sind unter die Gnade gestellt; und sie versichert uns, dass wir trotz unserer Schwachheit mit Jesu ausgeharrt haben; und Jesus gibt uns das Reich, wie es Ihm der Vater gegeben hat. Allein ebenso nötig ist es, dass der, welcher sich dieses Genusses erfreuen soll, geübt werde. Der Mensch muss sehen, was das Fleisch ist; und dieses macht die vielen Prüfungen, die wir durchzumachen haben, notwendig. Aber Jesus, weil wir Ihm angehören, bewirkt unser Ausharren. Wenn Er zu seinen Jüngern sagt: „Ich verordne euch ein Reich; und ihr werdet, richtend die zwölf Stämme Israels, auf Thronen sitzen“, so zeigt Er ihnen auch andererseits, was das Fleisch ist.

„Simon, Simon! siehe der Satan hat eurer begehrt, euch zu sichten, wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebetet, auf dass dein Glaube nicht aufhöre“ (V 31). Der Herr sagt nicht zu dem Jünger: „Du wirst nicht versucht werden; denn ich werde Satan verhindern, dich zu sichten.“ O nein; vielmehr sieht man hier, dass Gott oft seinen Kindern gegenüber den Feind wirken lässt, ohne ihn zu vernichten; aber er wacht angesichts dieses Feindes über die seinigen. Dieses finden mir deutlich in Offenbarung 2,10, wo wir die Worte lesen: „Siehe, der Teufel wird etliche von euch ins Gefängnis werfen, auf dass ihr geprüft werdet ... Sei getreu bis zum Tod, und ich will dir die Krone des Lebens geben.“

Petrus hätte wohl zu Jesu sagen können: „Du wirst schon Sorge tragen, dass mir dieses nicht widerfährt.“ Ebenso dachten auch Marta und Maria, dass Jesus den Tod des Lazarus hätte verhindern können. Und sicher liegt es außer jedem Zweifel, dass Er, der die Krone des Lebens geben kann, uns auch vor jeder Versuchung zu bewahren vermag; allein Er tut es nicht, damit mir geprüft werden. So hatte Satan auch den Hiob zu sichten begehrt, und Gott erlaubte es ihm. – In gleicher Weise geschieht es auch mit uns. Oft fragen wir: „Warum hat mich Gott dieser oder jener Trübsal ausgesetzt? warum muss ich in diesen oder jenen Schmelztiegel?“ – Antwort: Satan hat es begehrt, und Gott hat es ihm erlaubt. Sicher geschehen oft Dinge, von denen wir uns keine Rechenschaft zu geben vermögen; aber jedenfalls ist es ihre Bestimmung, uns aufzudecken, was das Fleisch ist.

Wenn Gott sich eines Christen für sein Werk bedienen will, so nimmt er den, welcher in der Prüfung am weitesten vorgerückt ist. Dieses ist hier der Fall. Obwohl Er durch die Worte: „Satan hat euer begehrt, euch zu sichten“, allen die Gefahr vorgestellt, so wendet Er sich doch nur an Petrus, indem er sagt: „Ich habe für dich gebetet.“ Er unterscheidet ihn von allen anderen, weil er weiter vorgerückt und deshalb auch, obwohl beim Tod Jesu alle gesichtet wurden, am meisten der Versuchung ausgesetzt war. Ja, keinem der Jünger sollte die Sichtung erspart werden; aber die an Petrus gerichteten Worte: „Und bist du einst zurückgekehrt, so stärke deine Brüder“ (V 32) zeigen deutlich, dass dieser Jünger am meisten der Prüfung ausgesetzt werden sollte und darum auch am fähigsten sein würde, seine Brüder zu stärken. Wie wenig kannte er vor der Versuchung sein Fleisch! Dieses zeigt uns sein Selbstvertrauen, welches ihn die Worte sagen lässt: „Herr, mit dir bin ich bereit, auch in Gefängnis und Tod zu gehen.“ Er aber sprach: „Ich sage dir, Petrus, der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst“ (V 33–34).

In dem Augenblick, wo das Fleisch in Petrus wirksam war, hatte es nur die Kraft, ihn bis zur Prüfung zu bringen; aber kaum beginnt diese Prüfung, so verleugnet Petrus den Herrn in seiner nächsten Nähe. Wäre das Herz des armen Jüngers nicht von seinem Heiland abgewandt gewesen, so hatte er Ihn sehen können. Jesus sah ihn; aber dennoch verleugnet Petrus seinen Herrn mit den Worten: „Ich kenne Ihn nicht.“ Er war gewarnt worden, aber der Herr erlaubte nicht, dass die göttliche Macht ihn bis zu jenem Augenblick bewahre, weil er erfahren sollte, was er in sich selbst war.

Wenn man auf alles, was Christus getan hat, seinen Blick richtet, so wird man bald finden, dass Er während der ganzen Dauer dieser Prüfung in Gnaden und mit großer Sorgfalt über den Jünger wachte. Ja, seine Gnade ging demselben voraus; denn noch ehe die Versuchung kam, hörten wir die Worte: „Ich habe für dich gebetet.“ – Es war nicht die Reue des Petrus, die zur Fürbitte Jesu Veranlassung gab, sondern vielmehr war es die Fürbitte Jesu, welche die Reue in dem Herzen des Jüngers hervorrief. Er hatte für ihn gebetet und „Jesus blickte den Petrus an“. Judas hatte den Herrn überliefert; und als sein Gewissen berührt wurde, machte er seinem Leben durch Selbstmord ein Ende. Bei Petrus aber offenbart sich die Wirkung des Gebets darin, dass er im Grund seines Herzens den Glauben bewahrte und, sobald Christus ihn anblickte, Thronen der Reue vergoss. „Und der Herr wandte sich um und blickte Petrus an. Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich“ (V 61–62). Also handelt der Herr auch mit uns; Er betet für uns und lässt uns der Versuchung entgegengehen. Wenn Er uns zu derselben führt, so fordert Er uns zwar zur Wachsamkeit und zum Gebet auf, „damit wir nicht in die Versuchung hineingehen“; aber Gott erlaubt alles dieses, und hat seine weisen Absichten dabei.

Hätte Petrus das Gefühl seiner Schwachheit gehabt, so würde er sich sicher nicht in die Nähe der Priester gewagt haben. Er kam in diese Trübsal, weil sein Fleisch wirksam war; aber Gott wollte ihn gebrauchen und ihn in seinem Werk an die Spitze stellen. Sein Selbstvertrauen, eine Wirkung seines Fleisches, gab die Veranlassung zu seinem Fall; aber nach der Weisheit Gottes lernte er die Macht der Sichtung Satans erkennen. Die übrigen Jünger, welche nicht wie Petrus dieses starke Selbstvertrauen, diese Kraft des Fleisches besaßen, flohen augenblicklich; aber Gott überlässt den sich selbstvertrauenden Jünger dem Satan, und Jesus bittet für ihn, selbst während des Falles, damit sein Glaube nicht aufhöre. Nachdem Petrus gefallen ist, richtet Jesus seinen Blick auf ihn, und die Folge davon ist nicht, dem Petrus den Frieden zu schenken, wohl aber eine tiefe Beschämung in ihm hervorzurufen. Er „geht hinaus und weint bitterlich“, und alles ist in Ordnung. Er hat sein Fleisch kennen gelernt; Er hat gefehlt, seine Sünde ist begangen, unmöglich ist es, sie ungeschehen zu machen. Es war jetzt die Sache des Herrn, sie zu vergeben, sie auszulöschen. Petrus konnte nicht vergessen, dass er den Herrn verleugnet hatte; aber Jesus bediente sich dieses Falles, um ihn von seiner Vermessenheit zu heilen. Ebenso verhält es sich mit uns. Es geschieht nicht selten, dass wir im Vertrauen auf uns selbst Fehler begehen, die unmöglich wieder gut gemacht werden können. Aber was ist zu tun, wenn diese Unmöglichkeit erwiesen ist? Wir müssen uns der Gnade Gottes überlassen – das ist alles, was wir tun können. Wenn das Fleisch zu stark ist, so lässt Gott es zu, dass Fehltritte geschehen, weil wir uns nicht in jener Abhängigkeit befinden, in der wir allein bewahrt bleiben können. Jakob hatte sich zu sehr an Esau versündigt, um nicht seinen Zorn fürchten zu müssen; jedoch lasst ihn Gott nicht in den Händen seines Bruders; Er gibt ihm den Glauben, welcher genügt, um aus diesem Kampf siegreich hervorgehen zu können. Gott kämpft mit Jakob, und dieser trägt den Sieg davon. Aber er hat vorher in seinem Herzen fühlen müssen, was es heißt, mit dem Bösen zu schaffen gehabt zu haben; und dann erlaubte Gott nicht, dass er der Bosheit Esaus überliefert wurde, und Jakob konnte am Ende seiner Laufbahn sagen: „Der Gott, der mich geweidet hat, seitdem ich bin bis auf diesen Tag, der Engel, der mich erlöst hat von allem Übel usw“ (1. Mo 48,15–16).

Wenn Gott auf diese Weise die Herzen übt und sie, so zu sagen, den Schlägen Satans preisgibt, so lässt Er doch nie die Gewissen seiner Kinder in den Händen dieses Widersachers. Das Gewissen des Judas war in den Händen Satans; darum fiel er der Verzweiflung anheim. Das Herz des Petrus war für einen Augenblick unter der Macht Satans; sein Gewissen aber nie. Darum, anstatt wie Judas ein Opfer der Verzweiflung zu werden, genügte ein Blick voll Liebe von Seiten des Herrn, um sein Herz zu rühren.

Sobald die Gnade im Herzen wirkt, gibt sie das Gefühl der Sünde; aber Zugleich ist auch das Gewissen von dem Gefühl der Liebe Christi erfasst; und je tiefer das letztere der Fall ist, desto tiefer ist auch das Gefühl der Sünde.

Petrus konnte seine Sünde nimmer vergessen, wiewohl er vollkommene Vergebung hatte. Und noch mehr: sein Gewissen war in den Händen Jesu, als ihm der Heilige Geist später die Fülle des Herzens Jesu offenbarte. Sein Gewissen wurde vollkommen gereinigt, so dass er die Juden der Sünde anklagen konnte, die er selbst unter den ernstesten Umständen begangen hatte, indem er ihnen sagte: „Ihr habt den Heiligen und Gerechten verleugnet“ (Apg 3,14). das Blut Christi hatte sein Gewissen völlig gereinigt; wenn es sich aber um die Kraft seines Fleisches handelte, so musste er stets von sich sagen: „Ich habe den Herrn verleugnet, und ohne seine unendliche Gnade dürfte ich meinen Mund nicht öffnen.“ In keiner der Unterredungen, die Jesus mit Petrus hatte, wirft Er ihm je seine Sünde vor; Er fragt nie: „Warum hast du mich verleugnet?“ Nein, nicht ein einziges Mal erinnert Er ihn an seinen Fehltritt; Er handelt im Gegenteil gemäß der Worte der Liebe des Heiligen Geistes: „Ich werde ihrer Sünden nicht mehr gedenken.“ Aber dennoch hatte Er dem armen Petrus noch etwas zu sagen. Er musste ihm zeigen, welches die Wurzel seines Fehltritts war. Die Versuchung Satans und der Mangel an Liebe in dem Herzen des Petrus hatten seinen Fall bewirkt und sein Selbstvertrauen erschüttert. Jetzt aber, nachdem sein Gewissen erreicht war, musste sich das geistliche Verständnis bilden. Petrus hatte sich gerühmt, den Herrn mehr zu lieben, als alle anderen Jünger, und er war tiefer gefallen, als sie alle. Darum richtet der Herr die Frage an ihn: „Liebst du mich mehr, als diese?“ Wo war jetzt das frühere Selbstvertrauen des Petrus? Ohne ihn direkt an seine Geschichte zu erinnern, richtet Jesus dreimal die Frage an ihn: „Liebst du mich?“ – und Petrus antwortet: „Du weißt alles – du erkennst, dass ich dich liebhabe.“ Er beruft sich auf die göttliche Kenntnis Jesu, der ihn gewarnt und seinen Fall vorausgesagt hatte. Was hatte auch Petrus auf die Frage: „Liebst du mich mehr, als diese?“ anders sagen können, als dass er, seine Schwachheit bekennend, im Grund weniger Liebe gezeigt habe, als alle die anderen Jünger. Sicher, die Verbindung zwischen Jesu und seinem Jünger ruht nur auf einer vollkommenen Gnade. Es gibt für Petrus keinen anderen Ausweg, als sich Jesu anzuvertrauen; Er hat die Macht des Blickes Jesu erfahren und kann nun sein Zeuge sein.

Es ist gerade, als wollte Petrus sagen: „Ich lasse es auf dich ankommen; du weißt, dass ich dich verleugnet habe; aber du weißt auch, dass ich dich liebe; mache mit mir, was du willst!“ – Und Jesus unterstützt nun das Herz seines Jüngers, damit Satan ihn nicht seiner Zuversicht beraube. Petrus war zurückgekehrt und fähig gemacht, seine Brüder zu stärken. In Folge seiner Verleugnung hatte, er das, was das Fleisch ist, so völlig kennen gelernt, dass er nichts verspricht, sondern der Überzeugung Raum gibt, dass er nichts anderes tun kann, als sich Gott zu überlassen. Wie groß auch seine Unfähigkeit im Widerstände gegen Satan sein mochte, so konnte er doch seine Zuflucht zu der Gnade dessen nehmen, der alles wusste. Was ihn stark machen konnte, war das Bewusstsein, dass er auf Jesus rechnen durfte. Erst nachdem der Herr ihn an die Ohnmacht seines Fleisches erinnert hatte, vertraut Er ihm mit den Worten: „Weide meine Lämmer!“ die seinigen an; denn nun erst war er fähig, seine Brüder zu stärken. Das Fleisch setzt ein gewisses Vertrauen aufs Fleisch; und dieses ist eine Torheit, in der wir uns oft befinden. Es ist daher nötig, dass wie im Kampf mit Satan uns selbst kennen lernen. Es gibt sicher nicht einen Christen, der nicht durch die Umstände, in denen er sich befand, wenigstens in einem gewissen Maße das Bewusstsein dessen, was er ist, erlangt hätte. Um unsere eigenen Herzen kennen zu lernen, lässt Gott es zu, dass wir von Satan gesichtet werden. Wäre genug Treue und Demut bei uns vorhanden, um von Herzen zu sagen: „Ich kann nichts ohne den Herrn“, so würde er sicher nicht nötig haben, uns die traurige Erfahrung unserer Schwachheit machen zu lassen.

In der Tat, wenn der Christ nicht in dem beständigen Gefühl seiner Schwachheit wandelt, so wird Gott es dem Satan erlauben müssen, als Werkzeug zur Selbsterkenntnis desselben zu dienen. Dann folgen Fehltritte, die oft nicht wieder gut zu machen sind. Jakob musste während des Restes seines Lebens hinken, weil er in moralischer Beziehung 21 Jahre lang gehinkt hatte. Er musste einen peinlichen Kampf bestehen, wo er, wiewohl Gott ihn nicht den Händen Esaus überlieferte, die Erfahrung machen konnte, dass er nur ein schwaches Wesen im Fleisch sei.

Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn der Herr uns vielfachen Schwierigkeiten preisgibt, denn dieses geschieht, weil etwas in uns ist, was niedergehalten werden muss und uns auf diesem Weg zum Bewusstsein gebracht wird. Doch bei allem ist die Gnade tätig. Christus handelt nur in Gnade; und wenn Er auch oft, damit wir uns selbst kennen lernen, uns preis zu geben scheint, so ist sein Tun uns gegenüber doch stets Gnade, ja vollkommene Gnade. Nicht erst dann, nachdem Petrus vorher sein Auge auf Jesu gerichtet hatte, blickte Jesus ihn an; denn schon vor seinem Fall hatte der arme Jünger die Worte seines Herrn vernommen: „Ich habe für dich gebetet.“ Die Gnade geht stets voran. Jesus weiß, was Satan begehrt, und Er gibt uns diesem Begehren preis; aber Zugleich trägt Er Sorge, dass wir bewahrt bleiben. Petrus weinte nicht, indem er auf den Herrn blickte; sondern er weinte bitterlich, nachdem der Herr ihn angeblickt hatte. Die Liebe Jesu kommt den Seinen stets zuvor. Er geht unseren Schwierigkeiten voraus und begleitet uns durch alle Hindernisse hindurch. Während er uns den Händen Satans überlässt, damit wir erfahren, was wir sind, stellt er sich stets für uns in den Riss und weiß uns vor der List des Feindes zu bewahren. Dieses zeigt uns die vollkommene Güte und Gnade dessen, der uns nicht nur, wenn unsere Herzen auf uns gerichtet sind, völlig liebt, sondern der sich auch aller Fehler unseres Charakters annimmt, damit wir nach den Ratschlüssen Gottes völlig und ganz gesegnet seien. Alles dieses sollte uns lehren, uns „unter die mächtige Hand Gottes zu demütigen“, um zur rechten Zeit getröstet und gestärkt werden zu können.

Wenn ich nach einem Fehltritt im Blick auf mich selbst niedergebeugt bin, so sollte ich nicht, wie natürlich dieses auch ist, sofort Trost, sondern zu allererst Christus suchen; denn ich habe eine Lektion zu lernen, in welcher mich Gott unterweisen will. Wenn ihr sagt, dass ihr Gott in den schwierigen Verhältnissen, in welchen ihr euch befindet, nicht verstehen könnt, so kennt doch Er den Zweck dieser Schwierigkeiten und lässt euch in denselben, damit ihr gesichtet und durch dieses Mittel zu einer tieferen Erkenntnis, sowohl in Betreff seiner, als auch eurer selbst, geführt werdet. Er will euch alles zeigen, was Er in euch gesehen hat; und man muss daher, anstatt sich zu bemühen, dieser Sichtung auszuweichen, vielmehr danach trachten, die uns durch dieses Mittel bereitete Unterweisung des Herrn uns zu Nutze zu machen; und sicher wird man dann eine weit tiefere Erkenntnis dessen erlangen, was Er für uns ist.

Wir müssen, mit einem Wort, lernen, unter seiner mächtigen Hand zu bleiben, bis Er uns wiederaufrichtet. Gott schenke uns die Gnade, Ihn kennen zu lernen! Würde es sich nur darum handeln, uns selbst kennen zu lernen, so würden wir bald gänzlich entmutigt sein. Aber durch die Erkenntnis, die Er uns Zugleich von seiner Gnade gibt, wird Er uns zum Ziel führen, so dass wir sagen können: „Fürwahr, Güte und Huld werden mir folgen alle die Tage meines Lebens, und ich werde wohnen im Haus Jehovas in Länge der Tage“ (Ps 23,6). Nach J. N. D.

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