Botschafter des Heils in Christo 1872
Der Vater und der verlorene Sohn
Es ist ungemein köstlich. Jemanden zu kennen, der Gott nicht nur in seinen Worten, sondern auch in seinen Werken und Wegen so treffend zu offenbaren vermochte, wie der Herr Jesus.
Wir mögen – und sicher ist dieses von höchster Wichtigkeit – die Sünde des Menschen, sowie auch unsere Sünden als eine Frage betrachten, die in dem Licht der Gerechtigkeit vor Gott gerichtet werden muss: aber dennoch bewegt sich Gott, in einem gewissen Sinne, über allem Bösen und behauptet sein Recht, zu zeigen, was Er ist. Und gesegnet ist es für uns, dass Gott trotz der Sünde Gott sein will. Gott ist die Liebe; und wenn Er Gott sein will, so muss er die Liebe sein, und zwar trotz allen wider Ihn erhobenen Bedenken und Einwendungen des menschlichen Herzens. Gott will, wenn ich so sagen darf, nach den Gefühlen seines Herzens handeln und diese ihren Weg in das Herz der Menschen finden lassen. Und das ist der Grund, dass uns in gewissen Stellen des Wortes Gottes, wie oft wir sie auch betrachten mögen, stets eine solche Frische anweht, weil sich Gott in demselben besonders offenbart. Gott ist unfehlbar; sobald Er spricht und sich offenbart, haben wir stets die ganze Segensfülle dessen, was Er ist. Er selbst, der hochgelobte Gott, ist es, der mit Macht zu unseren Herzen herangetreten ist. Er will in keiner Weise den Charakter des Menschen an sich tragen. Er hat mit der Sünde zu handeln und zu zeigen, was dieselbe ist und wie Er sie hinweggetan hat; aber dennoch will Er über allem und durch alles sich selbst offenbaren. Darin nur finden unsere Herzen Ruhe Wir haben das Vorrecht, in dem Haus und an dem Herzen Gottes mit uns selbst abgeschlossen zu haben.
Der Mensch hätte die Offenbarung Gottes in dem Glänze seiner Herrlichkeit nicht ertragen können; darum hüllte er sich in die Person des Sohnes des Menschen. Er kleidete sich in Fleisch; aber die bösen und herzlosen Schlüsse des verdorbenen Urteils des Menschen hatten den Erfolg, dass Er sich genötigt sah, sich als das, was Er war, als Gott zu offenbaren. In seiner Erscheinung als Messias, als der Sohn des Menschen, als der Erfüller des Gesetzes usw. offenbarte Er nicht die ganze Fülle Gottes. Der Mensch verwarf, tadelte und missbilligte beständig diese und jene Dinge, mit denen er nicht übereinstimmen konnte; aber durch sein Drängen und Treiben zwang er Christus, sich umso völliger als den zu offenbaren, der Er wirklich war.
In den Kapiteln, welche dieses darstellen, fühlt sich die Seele gefesselt und befindet sich mit rückhaltloser Sicherheit in der Gegenwart Gottes selbst – in der Gegenwart der Liebe. Dort erlangen wir Ruhe und Frieden.
Dasselbe finden wir in dem uns vorliegenden Kapitel. Er ward gezwungen, die ganze Wahrheit zu sagen, nämlich dass Gott – Gott sein wollte. Wenn Gott – wie es in diesem Gleichnis ausgedrückt ist – das fand, was ihn „fröhlich“ machen konnte, dann genoss Er trotz aller Einwendungen der Menschen seine eigene Freude – eine Freude, die bei der Bewillkommnung des verlorenen Sohnes so deutlich an den Tag tritt. Das ist es aber, was die Menschen in Frage stellen. Sie leugnen nicht, (ich rede hier natürlich nicht von offenbaren Ungläubigen) dass Er die Menschen richten werde; auch stellen sie im Allgemeinen nicht in Abrede, dass Gott gerecht sei, weil ihr Stolz sie glauben lässt, dass sie Ihm auf diesem Boden begegnen können; aber sobald Er sich in seiner, Ihm eigenen, vollen Freude zeigt und an den Tag bringt, was die Freude des Himmels ist, so beginnt der Mensch mit seinen Einwendungen. Nein, nicht alles darf aus Gnaden sein; in solcher Weise darf Gott nicht mit Zöllnern und Sündern handeln! Und warum nicht? Nun, was sollte dann aus der Gerechtigkeit des Menschen werden? Die Gnade macht nichts aus der Gerechtigkeit des Menschen; „es ist kein Unterschied; denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“. Christus bezeugte dieses durch die Offenbarung des Lichtes; und der Mensch hasste es. Unmöglich kann der Mensch das ertragen, was, indem es dem Sünder die Gnade bringt, seinen moralischen Zustand so tief heruntersetzt. Es ist das, was Gott erhöht und den Menschen erniedrigt.
Es ist das stete Trachten des Menschen, einen Unterschied zwischen der Gerechtigkeit des einen und des anderen Menschen zu machen, damit seine Würde ungeschmälert aufrechterhalten bleibe. Man brachte, wie wir in Johannes 8 lesen, eine Sünderin zu Jesu, die nach dem Gesetz der Steinigung verfallen und unleugbar schuldig war, indem man hoffte, dass Er entweder seine Barmherzigkeit oder seine Gerechtigkeit verleugnen möchte. Man dachte. Ihn auf diese Weise in eine unlösbare Schwierigkeit versetzt zu haben; denn sprach Er die Schuldige frei, so übertrat Er das Gesetz Mose; gebot er hingegen ihre Steinigung, so tat Er nichts anderes, als was auch Moses getan hatte. Wie aber handelte Er? Er ließ dem Gesetz und der Gerechtigkeit vollen Lauf, rief aber den Anklägern zu: „Wer von euch nicht gesündigt hat, der werfe zuerst den Stein auf sie.“ Jetzt begann das Gewissen in Tätigkeit zu treten; ja, das Gewissen – wenn auch nicht, da sie nur um ihren guten Namen besorgt waren, in angemessener Weise – erhob seine Stimme, und sie entfernten sich aus der Gegenwart des Lichtes, weil das Licht offenbar machte, was sie waren, und sie als Sünder erwies. Alle – vom Nettesten bis zum Jüngsten – gingen hinaus. Derjenige, dessen Ansehen es gestattete, am längsten Stand zu halten, war froh, der Erste sein zu können, um jenem Auge auszuweichen, dessen Blick alles durchdrang und das Verborgenste entdeckte. Alle entfernten sich und ließen Jesus mit der Sünderin allein. Er will das Gesetz nicht vollstrecken; denn Er ist nicht gekommen um zu richten, sondern sagt die Worte: „So verurteile auch ich dich nicht; gehe hin und sündige nicht mehr.“ Das, was sich hier sichtbar macht, ist nur Liebe.
„Und es nahten zu Ihm alle die Zöllner und Sünder, Ihn zu hören; und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sagten: Dieser nimmt die Sünder auf und isst mit ihnen.“ – Es mag in der Tat vielen seltsam erscheinen, dass, als Gott auf die Erde herabstieg, Er durchaus keine Notiz von der Gerechtigkeit des Menschen nahm, sondern die Gesellschaft Her Zöllner und Sünder aufsuchte, wodurch alle sittlich gerechten Begriffe der Menschen über den Haufen gestoßen wurden. Aber eben hierzu ist Gott gezwungen, weil diese Begriffe der richtigen Grundlage entbehren.
Diese Gleichnisse werden zeigen, mit welcher Art von Gesinnung die Gnade verworfen ist. Wir finden in ihnen den großen Gedanken, dass Gott sich offenbart hat. Es ist als wollte Er sagen: „Stellt euch nach Belieben einen Menschen in dem schlechtesten, und lasterhaftesten Zustand vor, einen, der sich durch sein Betragen bis zum Schweinhirten heruntergebracht hat. Doch hinter all diesem gibt es ein etwas, das ich ins Licht zu stellen beabsichtige – ein etwas, das eure natürlichen Herzen anerkennen sollten, nämlich die Wonne des Vaters bei der Rückkehr eines Kindes. Das Herz des Vaters wird, mag der Zustand des Kindes sein, wie er will, sich selbst in seinen eigenen Gefühlen von Güte rechtfertigen.“
Nachdem der Herr Jesus die Welt durchschritten und zwar eine sich brüstende Moralität, aber keine Stätte gefunden hatte, wo ein ermüdetes, gebrochenes Herz, um aufgeschlossen und belebt zu werden, Sympathie und Ruhe zu finden vermochte, kam Er, um zu zeigen, dass das, was für den Menschen nach der Ermüdung des Herzens in der Welt nirgends zu finden war, in Gott gefunden werden konnte. Wie gesegnet ist es, dass endlich das arme, seiner eigenen Wege und der Welt überdrüssige, müde Herz in der Glückseligkeit des Vaters Ruhe finden, und, was ihm bisher an jedem anderen Platze versagt war, jetzt hier, wo es Gott gefunden, sich ausschütten und in voller Aufrichtigkeit mit dem Psalmisten sagen kann: „Glückselig der, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde bedeckt ist! Glückselig der Mensch, dem Jehova die Ungerechtigkeit nicht zurechnet, und in dessen Geist kein Trug ist!“ (Ps 32,1–2) Solange ich noch fürchte, getadelt zu werden, ist noch Trug im Herzen; sobald ich aber weiß, dass alles vergeben und dass mir nichts als Liebe entgegenströmt, dann kann ich vor Gott mein ganzes Herz ausschütten. Das Einzige, was die Wahrheit im „Innern“ hervorbringt, ist die Gnade, die nichts zurechnet. In den Worten: „Bei dir ist Vergebung, damit du gefürchtet wirst“, liegt das Geheimnis der Macht Gottes, die Herzen mit sich in Einklang zu bringen. Es ist ein großer Unterschied zwischen einem Menschen, den man seines Gewissens wegen fliehen sieht, und einem, der in Gott das findet, was in Wahrheit ein völlig überführtes Gewissen erleichtert und heilt. Wir können, wenn wir unter dem Gesetz sind, und seine Gerechtigkeit anerkennen, dasselbe in unserem wirklichen Zustand nicht zur Hand nehmen. Wenn ich das Gesetz nehme, um dich damit zu schlagen, so muss ich mich selbst töten; es ist zu scharf, um es zu handhaben. Der Mensch, welcher die Ehebrecherin hätte steinigen wollen, Hütte sein eigenes Haupt unter das Gewicht des Blockes legen müssen. „Ich elender Mensch!“ Bin ich ein Mensch, dann bin ich verloren.
Wir haben in unserem Kapitel drei Gleichnisse. Die Quelle, die uns darin gezeigt wird, ist die Liebe. Wir finden dort:
1. Den Hirten, welcher das verlorene Schaf suchte.
2. Das Weib, welches die verlorene Drachme suchte.
3. Der Vater, der den verlorenen Sohn wieder zurückempfing. In dem letzten Gleichnis handelt es sich nicht um das Suchen, sondern um die Art und Weise, wie der zurückkehrende Sohn empfangen wurde. Manches Herz sehnt sich, zurück zu kehren, aber es weiß nicht, wie es empfangen wird. Der Herr Jesus Zeigt uns die Gnade Gottes zuerst im Suchen und dann im Aufnehmen. In den beiden ersten Gleichnissen haben wir das Suchen, in dem letzten die Aufnahme von Seiten des Vaters. Ein erhabener Grundsatz zieht sich durch alle drei hindurch: es ist die Freude Gottes, den Sünder zu suchen und aufzunehmen. Er handelt seinem eigenen Charakter gemäß. Ohne Zweifel ist es Freude für den Sünder, aufgenommen zu werden; aber hier ist es die Freude Gottes, ihn aufzunehmen. Nicht bloß sollte das Kind sich freuen, im Haus des Vaters zu sein, sondern Er sagt: „Lasst uns essen und fröhlich sein!“
Geliebte Freunde! Das ist eine trostreiche Wahrheit. Es ist der Ton, den Gott angestimmt hat und der im Himmel in jedem Herzen nachklingt. Die von Gott berührte Saite ruft das Echo des Himmels wach; und so sollte es hienieden in jedem Herzen sein, welches durch die Gnade gestimmt worden ist. Welch einen Missklang muss daher die Selbstgerechtigkeit hervorbringen! Jesus verkündigte die in dieser Weise handelnde Freude und Gnade Gottes und stellt dieses in den Gegensatz mit den Gefühlen des älteren Bruders oder – obschon derselbe eigentlich die Juden repräsentiert – einer jeden Selbstgerechten Person.
Das ist der Tag, der in Liebe vom Himmel herabklingt und den wir hienieden im Herzen Jesu entdecken; doch wie süß diese Klänge auch sein mögen, so sind sie doch in einem gewissen Sinne hier unten noch lieblicher, als dort oben. Hier unten ist diese Liebe Gottes (und sie muss es sein, wenn der Mensch erreicht werden soll) staunenerregend; im Himmel ist sie natürlich. Hier auf Erden unter uns hat Gott offenbart, was Er ist und dass es seine Wonne ist, verlorene Sünder zu erretten und die Engel begehren hineinzuschauen.
Der Hirte legt das Schaf auf seine Schultern und trägt es heim mit Freuden. – Hat Gott nicht das Recht, verlorene Sünder zu suchen und sich Zöllnern und Sündern zu nahen? Dieses mag einem ehrbaren Menschen nicht anstehen; aber es ist Gott angenehm; es ist sein Vorrecht inmitten der Sünde zu wandeln und den verlorenen Sündern nahe zu treten, weil Er sie aus ihrem Zustand befreien kann. Der Hirte hat das Schaf auf den Schultern und freut sich; er belädt sich mit demselben und übernimmt alle Mühe. Es ist gleichsam sein eigenes Interesse, also zu handeln, weil das Schaf ihm wert und teuer ist; es ist sein und er bringt es heim. Das ist die Darstellung des Hirten. – Und also ist es mit „dem großen Hirten der Schafe“. Er stellt es als sein Interesse dar, „zu suchen und zu erretten, was verloren ist“. Ja, sein Interesse steigert sich zu dem Gefühl der innigsten Liebe; denn Er bringt das Schaf heim mit Freuden (Dies ist die Stärke und Macht der Errettung). Aber wie fängt Er dieses an? Wir fordern zuweilen die Menschen auf, Christus zu suchen. Nun, in einem gewissen Sinne ist das auch richtig; denn es ist ganz wahr, dass „wer da sucht, der findet“. Aber Er hat nimmer gesagt: „Kommt zu mir!“, als bis Er zuerst zu ihnen gekommen war, und zwar um „zu suchen und zu erretten, was verloren war“. Er hat dieses auffordernde Wort nicht vom Himmel herab gesprochen; denn dorthin konnte der Sünder nimmer gelangen. Aber eben weil der arme Sünder nicht gen Himmel gehen konnte, um Christus zu suchen, ist Christus auf die Erde gekommen, um ihn zu suchen. Er rief nicht dem armen Aussätzigen zu: „Komm herauf in den Himmel“, sondern Er kam selbst hernieder und sagte: „Sei gereinigt.“ Hätte ein anderer die Hand dem Aussätzigen aufgelegt, so würde derselbe ebenso verunreinigt worden sein, wie er selbst; aber Christus konnte die Macht des Bösen in dem Aussätzigen berühren, und anstatt von demselben befleckt zu werden, beseitigt Er es. Er sagt: „Kommt her zu mir, alle Mühselige und Beladene, und ich werde euch Ruhe geben!“ Man findet hier ebenso wenig Ruhe, wie die Taube Noahs, die inmitten der Sintflut keinen Platz fand, um ihren Fuß daraufsetzen zu können. „Ich habe die Welt nach allen Seiten hin geprüft; sie ist ein Meer voll des grenzenlosesten Übels; kommt zu mir, und ihr werdet Ruhe finden.“ Wer außer Jesu hätte dieses sagen können?
Dann finden wir in dem zweiten Gleichnis noch eine andere Sache, nämlich die Unverdrossenheit, mit welcher diese Liebe das Verlorene sucht. Hier ist nicht ein Schaf, sondern ein Geldstück der verlorene Gegenstand. Alles wird angewandt, um das Verlorene wieder zu erlangen. Das Weib zündet ein Licht an; sie kehrt das Haus; unmöglich kann sie in der Arbeit ihrer emsigen und tätigen Liebe innehalten, bevor die verlorene Drachme wiedergefunden ist. Wiederum handelt es sich um ihre Angelegenheit und um ihr Interesse. Und dann sehen wir ihre Freude, nachdem ihr Eigentum wiedergefunden ist; sie gibt gleichsam allen in ihrer Umgebung den Ton an, und andere werden herzu gerufen, um Anteil an ihrer Freude zu nehmen: „Freut euch mit mir, denn ich habe die Drachme gefunden, die ich verloren hatte.“ Und das ist die Art und Weise des Herrn. So haben wir also in diesem, wie in dem vorigen Gleichnis denselben großen Grundsatz. In beiden Gleichnissen zeigt sich die ausharrende Tätigkeit der Liebe, bis das Resultat erreicht ist. Hier war es die Freude des Weibes, dort die des Hirten. Als erster hervorragender Punkt zeigt sich hier sowohl die energische Macht und Tätigkeit dieser Gnade, als auch der gute Wille. Bei dem Schaf, wie bei der Drachme herrschte volle Untätigkeit. Der Hirte und das Weib verrichteten alles. Zwar zeigt sich zu gleicher Zeit ein höchst wichtiges Werk – eine Wirkung, die in dem Herzen dessen hervortritt, der von dem Irrtum seines Weges zurückgeführt ist; und daher haben wir das dritte Gleichnis, welches sowohl die Gefühle des Verirrten, als auch seine Aufnahme vor unsere Augen stellt. Wir haben hier mit einem Wort nicht nur die Art und Weise des inneren Wirkens, sondern auch eine Kundgebung des Herzens des Vaters. Nicht der Wert, den der Wiedergefundene auf diese Liebe legt, sondern die Kundgebung des Vaterherzens selbst befriedigt alle seine Gedanken. Hier gilt die einfache Tatsache, dass der Vater ihm um den Hals fiel und ihn sehr küsste; und dieses verkündigte ihm, was dieses Herz ist.
Der Herr führt hier einen Fall an, um den Einwürfen der Pharisäer gegen seine Aufnahme der Zöllner und Sünder zu begegnen. Er sagt gleichsam: Ich will den Fall setzen, ein Mensch sei bis (man muss sich erinnern, was das Schwein für den Juden war) zum Schwein hüten heruntergekommen. Stellen wir ihn so schlecht, so unwürdig, als nur möglich, uns vor, und dann will ich euch zeigen, was Gnade – was Gott ist. Doch merkt euch, dass, ob wir dem Laster frönen oder nicht, wir alle Gott den Rücken gewandt haben. Der verlorene Sohn war damals, als er noch im Besitz seines Vermögens, die Türschwelle seines Vaters überschritt, ein ebenso großer Sünder als hernach, da er sich gleich den Schweinen im fernen Land nährte; er hatte erwählt, unabhängig von Gott zu handeln; und das ist Sünde. Er erntete ohne Zweifel die Früchte seiner Tat; aber das ist hier nicht die Frage. In gewissem Sinn waren die Folgen seiner Sünde Wohltaten für ihn; denn sie zeigten ihm, was Sünde war.
Aber der Mensch macht Unterschiede zwischen Sündern und Sündern. Darum wählt der Herr einen Fall, worin der Sünder nach menschlichem Urteil sogar den höchsten Grad des Bösen erstiegen hat, indem er Zugleich zeigt, dass dennoch dieses Böse nicht über die Gnade Gottes hinausreiche, und dieser Fall stellt in wunderbarer Weise die Wahrheit ins Licht, dass da, „wo die Sünde überströmend geworden, die Gnade noch überschwänglicher geworden ist“. Dieser junge Mann reiste hinweg (V 13), um seinen eigenen Willen zu tun; und das ist das Geheimnis aller unserer Sünden. Unser Kind sündigt wider uns, und wir fühlen es; wir sündigen wider Gott und fühlen es nicht. Wir sind alle große Kinder.
„Und daselbst vergeudete er sein Vermögen, indem er ausschweifend lebte.“ So wie jemand, der über seine Mittel hinaus lebt, den Schein des Reichtums zur Schau trägt, so scheint auch der seine Seele verwüstende Sünder glücklich zu sein. „Als er aber alles verzehrt hatte, ward eine große Hungersnot in jenem Land; und er selbst sing an, Mangel zu leiden. Und er ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes, und der schickte ihn auf seine Äcker, die Schweine zu hüten. Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit den Trabern, welche die Schweine fraßen; und niemand gab sie ihm“ (V 14–16). In fernem Land ist das „Geben“ nicht im Gebrauch. Satan verkauft alles und zwar sehr teuer; – unsere Seelen sind der Preis. Wenn ihr euch dem Teufel verkauft, so werden Traber eure Speise sein; er wird euch nie irgendetwas geben. Wünscht ihr einen Geber zu finden, dann müsst ihr zu Gott kommen. Die Herzen finden es nicht leicht in der Welt; man überlasse einen Menschen nur etliche Stunden sich selbst, und er wird bald darben. „Und er fing an Mangel zu leiden;“ aber sein Wille war noch nicht getroffen. Es gibt wenige Herzen, welche, nachdem sie eine gewisse Lebensstufe erreicht, nicht „anfingen, Mangel zu leiden“. Sie suchen in den Vergnügungen oder im Laster etwas zu ihrer Befriedigung. Das Letzte, woran der Mensch denkt, ist Gott; und zwar erst dann, wenn er überzeugt ist, dass nichts anders helfen wird. Er denkt nimmer an das Haus des Vaters, denn er kennt es nicht. Wenn er je an Gott denkt, so ist es Gott im Gericht, nicht aber in Gnade. So war es bei dem verlorenen Sohn.
„Als er aber zu sich selbst kam, sprach er: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Überfluss an Brot; ich aber komme hier um vor Hunger. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen, und ich will zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen; mache mich wie einen deiner Tagelöhner“ (V 17–19). Er hatte noch nicht verstanden, wie seine Aufnahme sein würde, wohl aber, dass Liebe in diesem Haus zu finden war. Der geringste Tagelöhner hatte Überfluss an Brot; und in Betreff seiner selbst erkannte er nicht bloß, dass er hungrig war, sondern auch, dass er vor Hunger umkam. Dort herrschte völliges Glück; sogar die Tagelöhner waren glücklich, während da, wo er sich befand, alles bei ihm zur Neige gegangen war. Die Not seiner Lage – alles drängt ihn zur Rückkehr. „Ich will mich aufmachen.“ Jede Seele, die zu Gott zurückkehrt, ist auf diesem Weg zu dem Gedanken an die Güte Gottes gebracht worden.
Bei Petrus finde ich dasselbe. Er geht hin und fällt zu den Füßen Jesu und sagt: „Herr, gehe von mir hinaus; ich bin ein sündiger Mensch.“ Welch ein Widerspruch! Er liegt zu Jesu Füßen und heißt Ihn dennoch hinaus zu gehen. Und dieser scheinbare Widerspruch zeigt sich stets, wenn die Gnade in dem Gewissen und Herzen zu wirken beginnt. Wir fühlen, dass wir Gott nötig haben; und doch sagt das Gewissen: „Ich bin zu sündig!“ Petrus fühlte seine Unwürdigkeit; er fühlte, dass Jesus zu heilig, zu gerecht sei, um bei einem solchen, wie er war, verweilen zu können; und dennoch konnte er nicht umhin zu Ihm zu gehen.
Der verlorene Sohn kehrt zurück und sagt: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen.“ Er verstand nicht, was sein Vater – was ein Vaterherz war. Es zog ihn zu dem Haus des Vaters; aber sein Gedanke blieb stets: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner.“ Im Bewusstsein dessen, was er gewesen, und des Bösen, in welches er sich verstrickt hatte, setzte er nur ein geringes Maß von Liebe beim Vater voraus; er hoffte, die Stellung eines Tagelöhners einnehmen zu können. Es gibt in diesem Zustand eine Menge von Seelen, die (ich rede indes nicht von ausgeprägter Selbstgerechtigkeit) das, was der Vater zu tun hat, nach ihrer eigenen Tauglichkeit abmessen; sie haben stets noch Überreste von Gesetzlichkeit, die ihnen einen Platz als Tagelöhner im Haus anweist.
„Mache mich wie einen deiner Tagelöhner.“ Allein das genügt dem Vater nicht, wenn es auch dem Sohn genügen würde; es würde das Herz des Vaters beständig mit Betrübnis erfüllen, wenn er einen Sohn als Tagelöhner im Haus hätte. Und wo wäre für den Tagelöhner im Haus das Zeugnis in Betreff der Liebe des Vaters? Nein, der Vater kann nicht Söhne als Tagelöhner im Haus haben; und wenn seine grenzenlose Liebe sie hineinbringt, so muss die Art des Empfangs einer Vaterliebe würdig sein. Der verlorene Sohn war noch nicht zu völliger Demut geführt, um zu fühlen, dass, wenn ihm nicht eine unumschränkte Gnade zu Teil werde, er nichts zu erwarten habe.
Doch der Vater lässt ihm nicht einmal die Zeit, um zu sagen: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner.“ Er lässt ihn sagen: „Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin nicht mehr würdig, dein Sohn zu heißen“; – aber weiter nichts; denn er hängt schon an seinem Hals und küsst ihn. Wie hätte der Sohn noch sagen können: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner“, nachdem der ihn umarmende Vater das Bewusstsein geweckt hat, dass er ein Sohn war?
Das Urteil des verlorenen Sohnes bezüglich des Vaters muss jetzt aus dem, was dieser wirklich ist, und nicht aus selbst gebildeten Vorstellungen geschöpft sein. Der eine war Vater, wenn der andere sich auch nicht als Sohn fühlte. Und auf diesem Weg empfangen wir das Evangelium der Gnade Gottes. Es ist nicht das Wirken des menschlichen Verstandes betreffs dessen, was ich vor Gott bin, sondern eine durch den Heiligen Geist bewirkte Offenbarung betreffs dessen, was der Vater für mich ist. Wenn Er aber ein Vater ist, so bin ich ein Sohn.
Ich verweile hierbei, weil ich weiß, dass es viele Seelen gibt, welche, so zu sagen, nicht völlig den Geist der Kindschaft empfangen haben, indem sie weder wissen, dass sie als Söhne im Haus des Vaters sind, noch ihre Ruhe in der ihres Vaters finden. Man betrachte noch einmal die Art der Aufnahme des verlorenen Sohnes. Sein Sinn war erneuert und er sagte: „Ich will mich aufmachen usw.“ Aber „als er noch fern war“, und bevor er das väterliche Haus erreicht hatte und die sich vorgesetzten Worte sagen konnte, erblickt ihn der Vater und ist innerlich bewegt. Der Pfad des Sohnes endet jetzt in der Liebe des Vaters; der Vater eilt ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Dem Sohn bleibt nichts übrig als das Bekenntnis seiner Unwürdigkeit. Nachdem er wiederaufgenommen, ist es uns, so zu sagen, überlassen, durch die Erkenntnis dessen, was der Vater ist, ausfindig zu machen, welches seine Gedanken und Gefühle sein mochten.
Hier zeigt sich so völlig der Wert der Errettung. Es bleibt uns anheimgestellt zu erforschen, was wir in der Liebe des Vaters sind. Der Vater hängt an dem Hals des Sohnes, während dieser noch in die Lumpen des fernen Landes gehüllt ist. Der Vater hält sich nicht damit auf, ihn um irgendetwas zu fragen; er wusste und die ganze Erscheinung des Sohnes bezeugte es, dass dieser sehr unrecht gehandelt hatte. Aber hier handelt es sich nicht um die Würdigkeit des Sohnes. Der Vater handelt für sich selbst, wie es seiner als eines Vaters würdig ist. Er hängt an dem Hals seines Sohnes, weil es gerade ihm gefällt, dieses zu tun.
Doch er tut noch etwas anderes. Die Knechte werden herbeigerufen, um den Sohn in würdiger Weise in das Haus einzuführen, wo alles bereitet wird, um „zu essen und fröhlich zu sein“. Es ist die Erkenntnis der Liebe des Vaters, die mich fühlen lasst, was ich bin. Aber wenn ich weiß, dass meine Sünden vergeben sind, und dass ich mich in den Armen meines Vaters befinde, dann bin ich, Je mehr ich meine Sünden erkenne und Zugleich der Liebe des Vaters versichert bin, umso glücklicher. Vorausgesetzt, ein Kaufmann hätte Verbindlichkeiten, die er, wie er selbst weiß, nicht zu erfüllen im Stande ist – würde er nicht mit Furcht seine Bücher durchblättern? Aber wenn irgendein Freund die Schuld gelöscht hätte, und ihm, nachdem alles bezahlt, noch ein großes Vermögen in Aussicht bliebe, würde er sich auch dann noch scheuen, die Verzeichnisse seiner früheren Schulden anzuschauen? Keineswegs; vielmehr würde die Entdeckung der Größe seiner allen Verpflichtungen nur das Gefühl in Betreff der Liebe seines Freundes erhöhen. Wenn er fände, dass seine Schuld statt auf 1000 Thlr. sich auf 10,000 Thlr. belaufen habe, so würde er sicher sagen: „Da bin ich ja aus einer schlimmeren Lage herausgebracht, als ich dachte.“ Und wenn sich endlich nach weiterer Prüfung die Schuld auf 100,000 Thlr. herausstellte, so würde er sicher ausrufen: „Wahrlich, es gab nie einen Freund gleich diesem Freund.“ Die Gnade hat alles getilgt; und die ganze Wirkung der Entdeckung der Sünde dient, wenn wir die Vergebung kennen, nur dazu, die Liebe zu erhöhen und die Freude zu mehren. Wenn der Vater mich küsst, so beweist gerade das Bewusstsein, dass Er dieses tut, während ich noch in den Lumpen bin, welch einer Art von Vergebung ich mich erfreue. Es gibt niemanden in der ganzen Welt, der nicht, bevor er an meinem Hals hing, an meine Lumpen gedacht hätte.
„Der Vater aber sprach zu seinen Knechten: Bringt das vornehmste Kleid her und zieht es ihm an, und gebt einen Ring an seine Hand und Sandalen an seine Füße, und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es, und lasst uns essen und fröhlich sein“ (V 22–23).. Gott erweist seine Liebe gegen uns als arme Sünder; aber dann bekleidet Er uns mit Christus. Er bringt uns in das Haus, wo die Knechte sind, mit nichts Geringerem als all der Ehre, womit Er uns überhäufen kann. Seine Liebe bewillkommt uns, während wir noch in den Lumpen sind; aber hier handelt dieselbe Liebe in anderer Weise. Er führt uns ein in das Haus, wie Er uns dort haben will, und zwar mit seiner ausgeprägten Gesinnung in Betreff des Wertes eines Sohnes. Wir finden hier das gemästete Kalb, das vornehmste Kleid, den Ring und das Festmahl. Die Meinung des Vaters war, dass ein Sohn von ihm dieser Dinge würdig sei, und dass es seiner selbst würdig sei, sie ihm zu geben. Wie wenig hatte es sich eines in Gnaden handelnden Vaters geziemt, den Sohn als Knecht im Haus zu behalten! Manche mögen das Begehren, ein Knecht in dem Haus sein zu wollen, für Demut halten. Aber dasselbe verrät nur ihre Unbekanntschaft mit der Gesinnung des Vaters. Ich lese die Worte: „Damit Er erwiese den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade in Güte gegen uns in Christus Jesus“ (Eph 2,7). Wenn man nun von diesem Ziel aus die Gesinnung und Gnade des Vaters beschaut, würde es dann seiner würdig gewesen sein, uns mit einer beständigen Erinnerung an unsere Sünde und Schande, an unsere frühere Unehre und Erniedrigung in das Haus des Vaters geführt zu haben? Und würde es des Vaters würdig gewesen sein, wenn ein Gefühl der Scham – die geringste Spur aus dem „fernen Land“ zurückgeblieben wäre? Sicher nicht. „Die den Gottesdienst Übenden haben einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden.“ Der Zustand dessen, der einen Platz im Haus Gottes findet, muss Gottes würdig sein. Vielleicht mögen unsere elenden, ungläubigen Herzen sagen: „Ach, das wird ganz wahr werden, wenn wir einmal dort – wirklich droben im Vaterhaus sind.“ Doch fragen wir uns: „Was ist der Glaube?“ Der Glaube urteilt, wie Gott urteilt. Ich sehe die Sünde im Licht der Heiligkeit Gottes. Ich richte sie erst recht, wenn ich ihre Feindschaft gegen Gott, so wie die Unehre erkenne, deren ich mich gegen Ihn schuldig mache. Auch lerne ich die Gnade in dem Herzen meines Vaters kennen. „Wer da glaubt, versiegelt es, dass Gott wahrhaftig sei.“ Der Glaube allein gibt Sicherheit, nicht die Vernunft. Diese mag für die Dinge dieser Welt ihren Wert haben; aber wenn Gott sich über etwas ausspricht, so nimmt es der Glaube an. Der Glaube hält das, was Gott gesprochen, nicht etwa bloß für möglich, sondern drückt sein Siegel darauf, dass Gott wahrhaftig ist. Im Besitz dieses Glaubens bin ich von der Wahrheit seiner Worte und Werke so völlig überzeugt, als ob ich bereits im Himmel wäre. „Abraham hat Gott geglaubt;“ nicht (an Gott, obwohl auch dieses der Fall war) er glaubte, dass das, was Gott sagte, wahr sei. Und das sollten wir stets tun. Gott zu glauben, nimmt den ersten Platz ein. Was verkündigt Er mir, wenn ich an seinen Sohn glaube? – Dass meiner Sünden und meiner Ungerechtigkeiten nicht mehr gedacht werde; ich glaube es und glaube, dass ich das ewige Leben habe; es ist Sünde, daran zu zweifeln. Wenn ich das nicht glaube, dessen Gott mich versichert, so begehe ich ein Unrecht gegen Ihn. Es ist Sünde, wenn ich mich nicht als einen Sohn betrachte, und wenn ich nicht glaube, dass ich, durch das Blut des Lammes von jedem Flecken der Sünde gereinigt, vor Gott stehe. Der Glaube ergreift dieses. Wenn es sich um meine eigene Gerechtigkeit handelte, so müsste sie zu Fetzen zerrissen werden; aber es handelt sich um das Blut des Lammes. Und was hat dieses Blut getan? Hat es mich nur zur Hälfte von meinen Sünden gereinigt? Die Frage ist: Welchen Wert hat dieses Blut vor Gott? Glaubt ihr, dass Gott die Wirkung des Blutes in irgendeiner Weise beschränke? Sicher nicht; vielmehr versichert Er uns in seinem Wort: „Das Blut Jesu Christi reinigt von allen Sünden.“ Und weiterforschend finden wir die Worte: „Welcher selbst unsere Sünden an seinem eigenen Leib auf das Holz getragen hat.“ Ist hier nur von etlichen unserer Sünden die Rede? Nein, es heißt: „Unsere Sünden.“ Wenn nun meine Seele einerseits den Wert des Blutes des Lammes vor Gott kennt, so weiß ich andererseits, dass ich die Quelle von allem in der Liebe des Vaters zu suchen habe. An dieser Liebe zu zweifeln, würde höchst tadelnswert sein, wie es auch dem verlorenen Sohn, während der Vater ihn küsste, übel angestanden hätte, zu sagen: „Ich trage aber noch die Lumpen aus fernem Land an mir.“ Dachte er wohl in diesem Augenblick an seine Lumpen, als an einen Grund, um dessentwillen die im Herzen seines Vaters wohnende Liebe nicht zum Ausdruck kommen sollte? Wenn ich das Zeugnis beschaue, welches mir Christus, gezwungen durch die Selbstgerechtigkeit der Pharisäer, in Betreff dessen gibt, was Gott mir als einem Sünder gegenüber ist, dann müssen angesichts einer solchen Gnade alle Zweifel des menschlichen Herzens zum Schweigen gebracht sein.
Aber sollte jemand unter uns wohl zu behaupten wagen, dass die göttliche Gnade die Sünde erlaube? Nun ein solcher möge sein Urteil in der Gesinnung des altern Bruders lesen, aber Zugleich auch sehen, wie die Gnade zu ihm redet. „Sein Vater aber ging hinaus und bat ihn“ (V 28), – diesen nicht nur armen Verlorenen, sondern diesen Elenden, der die allgemeine Freude nicht teilte. Die Knechte verkündigen in freudigem Ton: „Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiedererhalten hat“ (V 27). alle nahmen Teil an der Freude, nur einer nicht; – und wer ist dieser eine? Der Mensch, welcher mit seinem Ich und seiner eigenen Gerechtigkeit beschäftigt war; deshalb „ging der Vater hinaus und bat ihn“.
Habt Acht, dass eure Herzen beim Anblick der einem Mitsünder erwiesenen Liebe und Gnade Gottes nicht mit Bitterkeit erfüllt werden. Der ältere Bruder „wollte nicht hineingehen“, wiewohl der Vater ihm die Erklärung gibt: „Es geziemte sich aber fröhlich zu sein und sich zu freuen; denn dieser, dein Bruder, war tot und ist wieder lebendig geworden, und war verloren, und ist gefunden worden“ (V 32). Er blieb draußen; er teilte weder das Glück, noch die Freude, sondern zeigte ein Widerstreben des Herzens gegen die Reichtümer der Gnade des Vaters.
Kennt ihr Gott in dieser Weise? Ihr wünscht auch euch selbst zu kennen. Wohlan, dieses ist in der Tat gut; aber stellt deshalb nicht das Herz Gottes in Frage. Wie kann ich dieses Herz kennen lernen? Etwa dadurch, dass ich in mein eigenes Herz schaue? Keineswegs. Nur die Gabe seines Sohnes gewährt mir diese Kenntnis. Der Gott, mit dem wir zu tun haben, ist der Gott, der seinen Sohn für Sünder hingab; und wenn wir dieses nicht erkennen, dann erkennen wir ihn ganz und gar nicht. Lasst uns nicht zu Gott sagen: „Mache uns, wie einen deiner Tagelöhner.“ Der Dienst muss aus der Erkenntnis seiner selbst hervorgehen. Messt nicht die Güte Gottes nach euren eigenen Herzen. Unsere Herzen zeigen stets eine starke Neigung, zur Gesetzlichkeit zurückzukehren und dieses als Demut zu betrachten. Die einzige, wahre Demut, die einzige Kraft und Segnung besteht darin, dass mir unser Ich in der Gegenwart und Segnung Gottes bei Seite stellen. Die Demut besteht nicht bloß darin, dass mir schlecht von uns selbst denken, wozu uns ein demütigender Vorfall gebracht haben mag, sondern wir haben das Vorrecht, uns selbst zu vergessen in der Offenbarung der Liebe unseres Gottes und Vaters, welcher für uns die Liebe ist.
Der Herr gebe euch, dass ihr als arme Sünder durch Jesus Gott erkennen möget, der sich also in Liebe offenbart hat!