Botschafter des Heils in Christo 1871

Das Leben des Christen

Die Frage, welche wir in diesem Abschnitt zu betrachten gedenken, ist eine der lehrreichsten und wichtigsten, die uns je beschäftigen könnte. Was ist das Leben, welches wir als Christen besitzen? Was ist seine Quelle? Welches sind seine Eigenschaften? Was ist sein Ausgang?

Das Wort Gottes spricht von zwei verschiedenen Häuptern oder Quellen. Wir hören dort von einem ersten und einem zweiten Menschen. Schon im 1. Buch Mose lesen wir die Worte: „Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei. ... Und Gott schuf den Menschen, Ihm zum Bild, zum Bild Gottes schuf Er ihn; und Er schuf sie ein Männlein und ein Fräulein“ (Kap 1,26–27). „Da Gott den Menschen schuf, machte Er ihn nach dem Gleichnis Gottes. ... Und Adam war hundert und dreißig Jahre alt, und Zeugte einen Sohn, der seinem Bild ähnlich war“ (Kap 5,1.3).

Aber zwischen der Erschaffung Adams nach dem Bild Gottes und der Geburt eines Sohnes, der dem Bild Adams ähnlich war, hatte ein großer Wechsel stattgefunden. Die Sünde hatte sich eingeschlichen. Der Zustand der Unschuld war verschwunden. Adam war ein gefallener, ruinierter, ausgestoßener Mensch geworden. Diesen Sachverhalt darf man durchaus nicht aus dem Auge verlieren. Es ist eine wichtige, folgenschwere Tatsache, die uns einen Blick in das Geheimnis des Lebens gestattet, welches wir als Söhne Adams besitzen. Ein strafbares, verderbtes und aus gestoßenes Haupt bildet diese Quelle. Nicht im Zustand der Unschuld ward Adam zum Haupt des Menschengeschlechts. Nicht innerhalb der Grenzen des Paradieses, sondern außerhalb in einer verdorbenen, verfluchten Welt wurde Kam geboren; und diese Geburt war nicht nach dem Bild Gottes, sondern nach dem eines gefallenen Vaters.

Wir zweifeln keineswegs daran, dass Adam persönlich ein Gegenstand göttlicher Gnade war, und dass er durch Glauben an den verheißenen Samen des Weibes Rettung gefunden hat. Erblicken wir ihn aber als das Haupt des Menschengeschlechts, so sehen wir ihn nur als einen gefallenen, ruinierten und ausgestoßenen Menschen, und jeder seiner Nachkommen ist in demselben Zustand geboren. Wie das Haupt ist, so sind auch die Glieder – alle Glieder insgesamt, und jedes Glied insbesondere. Der Sohn trägt das Bild seines gefallenen Vaters und ist der Erbe seiner Natur. „Was vom Fleisch geboren, ist Fleisch.“ Man erziehe, veredle, erhebe das „Fleisch“ nach Belieben, so wird es sich doch nimmer in „Geist“ umwandeln lassen. Diese beiden Dinge sind sich einander ganz entgegengesetzt. Ersteres ist der Ausdruck alles dessen, was wir sind, als geboren in dieser Welt und als Sprösslinge des ersten Adams, während letzteres das ausdrückt, was wir sind als wiedergeboren und als gereinigt mit dem zweiten Adam.

Die „Veredlung“ des von dem ersten Adam abstammenden Menschen ist eine Arbeit, an der sich seit Jahrtausenden alle Weltweisen der Erde vergeblich abgemüht haben. Der Stand des Wassers kann nimmer seine Höhe überschreiten; und ebenso wenig können die Söhne des gefallenen Adams das Höhenmaß ihres gefallenen Vaters übersteigen. Man mache mit ihnen, was man will, – nimmer werden sie, selbst bei der sorgfältigsten Erziehung, die Natur ihres verworfenen Hauptes verleugnen. Der Mensch kann nicht über die Natur, die ihm angeboren ist, hinauswachsen. Er kann hinein, aber nicht darüber hinauswachsen. Man suche den Strom der gefallenen Menschheit in seiner Quelle auf, und man wird einen gefallenen, ruinierten und ausgeworfenen Menschen als diese Quelle entdecken. Diese einfache Wahrheit trifft die Wurzel jedes menschlichen Geburtsstolzes. Wir sind alle einem gemeinschaftlichen Stamm, einem Haupt, einer Quelle entsprossen. Wir sind alle gezeugt nach einem Bild, und zwar nach dem Bild eines verworfenen Menschen. Das Haupt des Geschlechts, sowie auch das Geschlecht selbst – Beide sind in ein gemeinschaftliches Verderben verwickelt. Von gesellschaftlichem Standpunkt aus betrachtet, mögen Unterschiede vorhanden sein; aber von göttlichem Gesichtspunkt aus gibt es keine. Willst du dir eine wahre Vorstellung von dem Zustand jedes Gliedes des Menschengeschlechts verschaffen, so betrachte den Zustand des Hauptes. Du musst bis zum 3. Kapitel des 1. Buches Mose zurückkehren und dort die Worte lesen: „Und Er trieb Adam aus.“ Hier ist die Wurzel der ganzen Sache. Hier ist die Quelle jenes Stromes, aus welchem fast seit sechstausend Jahren die Millionen der Nachkommen Adams all ihr Elend geschöpft haben. Die Sünde ist eingetreten und hat die Kette Zersprengt, das Bild Gottes verunstaltet, die Quelle des Lebens verdorben, den Tod eingeführt und dem Satan die Macht des Todes verliehen. Also verhält es sich sowohl in Bezug auf das Geschlecht Adams, als ein Ganzes betrachtet, als auch in Bezug auf jedes einzelne Glied. Sie alle sind in Sünde und Verderben miteingeschlossen – sie alle sind dem Tod und dem Gericht verfallen. Da gibt es keine Ausnahme. „Deshalb wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist, und durch die Sünde der Tod, und also ist der Tod zu allen Menschen hindurch gedrungen, indem sie alle gesündigt haben“ (Röm 5,12). „In Adam sterben alle“ (1. Kor 15,22). Zwei traurige und ernste Wirklichkeiten: „Sünde und Tod“ sind hier mit einander verbunden.

Doch, Gott sei gepriesen! ein zweiter Mensch hat den Schauplatz betreten; und diese große Tatsache beweist, während sie die wunderbare Gnade Gottes gegen den ersten Menschen und seine Nachkommenschaft ins Licht stellt, in der klarsten und unwiderlegbarsten Weise, dass der erste Mensch völlig bei Seite gesetzt ist. Wäre der erste Mensch fehlerlos gewesen, so würde für den zweiten keine Stätte gesucht worden sein. Ja, wäre ein einziger Hoffnungsschimmer für den ersten Adam vorhanden gewesen, dann gab es für das Erscheinen des zweiten Adams keine Veranlassung.

Aber Gott sandte seinen Sohn in diese Welt. Er war der „Same des Weibes.“ Möge diese Tatsache unseren Herzen stets tief eingeprägt sein! Matthäus leitet seine gesetzliche Abstammung von Abraham und David her. Er war „von dem Samen Davids“, wie Timotheus sagt. Lukas hingegen verfolgt sein Geschlechtsregister bis zu Adam hin. Aber hier finden wir auch die Ankündigung des Engels bezüglich des Geheimnisses seiner Empfängnis. „Und– der Engel antwortete und sprach zu Maria: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden“ (Lk 1,35).

Hier haben wir also einen wahrhaftigen Menschen, jedoch ohne den geringsten Flecken von Sünde und ohne die geringste Spur von Sterblichkeit. Er ward geboren von einem Weib, war also unter allen Umständen ein Mensch, wie wir Menschen sind, jedoch ganz ohne Sünde und ganz frei von jeder Verbindung, welche dem Tod und der Sünde irgendwie ein Anrecht auf Ihn hätte geben können. Wäre jedoch der gepriesene Herr mit Adam, dem Haupt des Menschengeschlechts, in irgendwelcher Verbindung gewesen, so konnte Er nicht der zweite Mensch genannt werden, sondern würde gleich anderen Menschen, ein Nachkomme Adams und sogar in seiner eigenen Person dem Tod unterworfen gewesen sein. Eine solche Behauptung oder Voraussetzung aber wäre eine Lästerung.

Er war – gepriesen sei auf ewig sein unvergleichlicher Name! – der reine, heilige, fleckenlose Mensch Gottes. Er war ohne Gleichen. Er stand allein als das einzige, reine, fleckenlose Weizenkorn des menschlichen Samens, den die Erde je gesehen hat. Er kam in diese Welt der Sünde und des Todes als der Sündenlose und als der Geber des Lebens. In Ihm und nur in Ihm war das Leben. Außer Ihm herrschte der Tod und die Finsternis. Außer Ihm war kein Pulsschlag geistlichen Lebens, kein Schimmer göttlichen Lichts vorhanden. Die ganze Nachkommenschaft des ersten Adams lag unter der Sünde, unter der Macht des Todes, und war dem ewigen Gericht verfallen. Er konnte sagen: „Ich bin das Licht der Welt.“ Außer Ihm herrschte moralische Finsternis und geistlicher Tod. „In Adam sterben alle; in Christus werden alle lebendig gemacht.“ Und in welcher Weise geschieht dieses?

Kaum betrat der zweite Mensch den Schauplatz, so erschien auch Satan, um Ihm jeden Fußtritt streitig zu machen. Der Mensch Christus Jesus hatte sowohl das große Werk der Verherrlichung Gottes, als auch die Zerstörung der Werke des Teufels und die Erlösung seines Volkes auf dieser Erde unternommen. Welch eine erhabene Arbeit! Es war eine Arbeit, die, wir dürfen es kühn sagen, nur der Mensch Gottes ausführen konnte. Jesus hatte der ganzen List und Macht Satans zu begegnen. Er musste mit Ihm, als der Schlange und als dem Löwen zusammentreffen. Daher wurde Er beim Beginn seiner gesegneten Laufbahn, als der getaufte und gesalbte Mensch in die Wüste geführt, um den Versuchungen Satans Stand zu halten.

Bei dieser Gelegenheit machen wir im Vorbeigehen auf die Gegensätze zwischen dem ersten und dem zweiten Menschen aufmerksam. Der erste Mensch befand sich in einem Garten voll der reichsten Genüsse, die geeignet waren für Gott und gegen den Versucher zu reden, während der Zweite Mensch seinen Fuß in eine Wüste voller Entbehrungen gesetzt hatte, die augenscheinlich ganz dazu angetan waren, gegen Gott und für Satan das Wort zu erheben. Satan benutzte bei dem zweiten Adam genau dieselben Waffen, die sich bei der Versuchung des ersten so siegreich erwiesen hatten. Es war „die Lust des Fleisches, die Lust der Augen und der Hochmut des Lebens“ (vgl. 1. Mo 3,6; Mt 4,1–9; Lk 4,1–12; 1. Joh 2,16).

Aber der zweite Mensch überwand den Versucher – überwand ihn mit einer einfachen Waffe – mit dem Wort: „Es steht geschrieben“; – das war die eine unveränderliche Antwort des abhängigen und gehorsamen Menschen. Kein Bedenken, kein Zögern – nichts dieser Art zeigte sich. Das Wort des lebendigen Gottes war eine Achtung gebietende Autorität für den vollkommenen Menschen. Gepriesen sei ewig sein Name! Ihm gebührt die Unterwerfung des ganzen Weltalls durch alle Zeitalter hindurch. Amen, Amen.

Jedoch dürfen wir uns nicht gestatten, hierbei länger zu verweilen, und wir kehren daher zu unserem eigentlichen Thema zurück. Es ist unser Wunsch, dem Leser im Licht der Heiligen Schrift zu zeigen, wie der zweite Adam seinen Gliedern das Leben mitteilt.

Durch den Sieg in der Wüste war der Starke „gebunden“, aber nicht „zu Grund gerichtet“. Daher sehen wir, dass ihm am Ende der Laufbahn unseres Herrn noch einmal gestattet wird, seinen Arm zu versuchen. Nachdem er sich „eine Zeitlang“ entfernt hatte, kehrte er in einem anderen Charakter und zwar als der zurück, welcher zum Schrecken der Seele des Menschen die Macht des Todes hatte. Welch ein entsetzlicher Gedanke! Mit dieser Macht erschien er im Garten Gethsemane, um mit ihrer schrecklichen Größe auf den Geist Christi einzudringen. Wir können unmöglich diese Szene betrachten, ohne Zugleich zu fühlen, dass unser Herr und Heiland hier etwas durchschreiten musste, was Er nimmer zuvor erfahren hatte. Es ist augenscheinlich, dass hier dem Versucher gestattet wurde, in einer ganz besonderen Weise aufzutreten und eine ganz besondere Macht zu entwickeln, um, wenn möglich, den Herrn auf seinem Weg zurück zu schrecken.– Wir hören den Herrn daher in Johannes 14,30 die Worte sagen: „Der Fürst dieser Welt kommt und hat nichts in mir;“ – und ebenso sagt Er in Lukas 22,52–53 zu den Hohepriestern und Hauptleuten des Tempels: „Seid ihr ausgezogen mit Schwertern und Stöcken, wie gegen einen Räuber? Als ich täglich unter euch im Tempel war, habt ihr die Hände nicht gegen mich ausgestreckt. Aber dieses ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis.“

Es tritt daher deutlich ins Licht, dass die Periode zwischen dem letzten Abendessen bis zum Kreuz durch Züge gekennzeichnet ist, die von jeder vorhergehenden Leidensstufe in der wundervollen Geschichte unseres Herrn gänzlich unterschieden sind. „Dieses ist eure Stunde.“ Und ferner: „die Gewalt der Finsternis.“ Der Fürst dieser Welt trat dem zweiten Menschen mit jener ganzen Macht entgegen, womit die Sünde des ersten Menschen ihn bekleidet hatte. Er schleuderte auf seinen Geist das Gewicht der ganzen Macht und aller Schrecken des Todes, als des gerechten Gerichts Gottes; und Jesus fühlte diese Macht und diese Schrecken in ihrer furchtbarsten Größe. Dieses erklärt uns seinen Ausruf: „Meine Seele ist bestürzt bis in den Tod;“ – sowie seine Angst, wenn wir lesen: „Und als Er in ringendem Kampf war, betete Er heftiger. Es ward aber sein Schweiß wie große Blutstropfen, die auf die Erde Herabfielen.“

Mit einem Wort, Er, der es unternahm. Sein Volk zu erlösen, seinen Gliedern ewiges Leben zu geben und den Willen und die Ratschlüsse Gottes zu erfüllen, musste alle Folgen des Zustandes ertragen, in welchem sich der Mensch befand. Er konnte denselben nicht entrinnen. Er durchschritt sie alle; Er durchschritt sie allein; denn wer außer Ihm hätte es zu tun vermocht? Er, die wahre Arche, war allein im Stande, die finsteren und schrecklichen Fluchen des Todes zu überschreiten, um Bahn zu machen, damit sein Volk trockenen Fußes Ihm nachfolgen könne. Er war allein in der schrecklichen Grube und in dem schlammigen Kot, damit wir mit Ihm auf dem Felsen sein möchten.

Aber nicht nur begegnete Er der ganzen Macht Satans als des Fürsten dieser Welt, sowie der ganzen Macht des Todes als des gerechten Gerichts Gottes, und endlich der ganzen Heftigkeit und bitteren Feindschaft des gefallenen Menschen, – o nein, es gab noch etwas unvergleichlich Schrecklicheres. Nachdem der Mensch und Satan, die Erde und die Hölle, ihr Äußerstes geleistet hatten, um ihrem Hass Befriedigung zu verschaffen, gab es für den Geist unseres hochgelobten Herrn noch eine Region des Dunkels und der undurchdringlichsten Finsternis zu durchschreiten – eine Region, in welche der menschliche Gedanke nimmer einzudringen vermag. Wir vermögen nur an den Grenzen derselben zu stehen und mit gebeugtem Haupt und in dem tiefen Schweigen unaussprechlicher Anbetung auf den lauten und bitteren Schrei zu lauschen, der von dort her uns entgegen dringt, begleitet durch die Worte: „Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?“ – Worte, deren tiefe Bedeutung zu enthüllen selbst die Ewigkeit nicht reichen wird. Ach! welch ein Weg, um uns zu erretten und lebendig zu machen! Mögen unsere Herzen Ihn anbeten! Mögen unsere Lippen Ihn loben und preisen! Wöge unser Leben Ihn verherrlichen! Möge seine Liebe uns dringen, nicht mehr uns selbst zu leben, sondern Ihm, welcher für uns gestorben und auferstanden ist und uns Leben in Auferstehung gegeben hat.

Es ist nicht möglich, die Wichtigkeit und den Wert jener erhabenen Wahrheit zu überschätzen, dass ein auferstandener und siegreicher Christus die Quelle des Lebens ist, welches wir als Christen besitzen. Als der Auferstandene aus den Toten ist der zweite Mensch das Haupt eines neuen Geschlechts – das Haupt der Kirche, seines Leibes, geworden. Das Leben, welches der Gläubige jetzt besitzt, ist ein Leben, das in jeder nur möglichen Weise geprüft und erprobt worden ist und folglich nimmer ins Gericht kommen kann. Es ist ein Leben, welches durch Tod und Gericht gegangen ist und darum nicht sterben und nicht gerichtet werden kann. Christus, unser lebendiges Haupt hat den Tod zunichtegemacht und durch das Evangelium Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht. Er ist dem Tod in der ganzen Wirklichkeit desselben begegnet, damit wir ihm nimmer begegnen sollten. Er starb, damit wir nimmer sterben möchten. Er hat in seiner wunderbaren Liebe so für uns gewirkt, dass wir selbst den Tod als einen Teil unseres Eigentums betrachten können (1. Kor 3,22).

In der alten Schöpfung gehört der Mensch dem Tod an; und in der Tat, von dem Augenblick an, wo er zu leben beginnt, beginnt er – wie jemand gesagt hat – auch zu sterben. Welch ein ernster Gedanke! Der Mensch kann dem Tod nicht entrinnen. „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, und danach das Gericht.“ Nicht das Geringste, welches in der alten Schöpfung im Besitz des Menschen ist, vermag dem Griff der unbarmherzigen Hand des Todes zu entrinnen. Der Tod beraubt den Menschen jedes Dinges, verwandelt seinen Leib in Staub und sendet seine Seele ins Gericht. Seine Häuser und Äcker, sein Wohlstand und seine Stellung, sein Ruf und sein Einfluss – alles flieht, sobald der letzte Feind sich nähert. Besäße der Mensch auch die Reichtümer der ganzen Welt, so vermöchte er dennoch sich nicht den Aufschub eines Moments zu erkaufen. Der Tod entblößt ihn von allem und trägt ihn hinweg ins Gericht. Der König und der Bettler, der Edelmann und der Bauer, der gelehrte Philosoph und der unwissende Tagelöhner, der Zivilisierte und der Wilde – der Tod macht keinen Unterschied, sondern ergreift alle, welche sich inmitten der Grenzen der alten Schöpfung befinden. Das Grab ist der Schlussstein der irdischen Geschichte des Menschen; und jenseits des Grabes erhebt sich der Richterstuhl, und breitet der Feuersee seine schauerlichen Fluten aus.

In der neuen Schöpfung hingegen gehört der Tod dem Menschen an. Nicht das Geringste, was sich im Besitz des Christen befindet, ist dem Tod unterworfen. Ja, er verdankt sogar alles dem Tod. Er besitzt Leben, Vergebung, Gerechtigkeit, Frieden, Annahme, Herrlichkeit; und alles hat er dem Tod – dem Tod Christi – zu verdanken. Mit einem Wort, das ganze Wesen des Todes ist gänzlich verändert. Satan kann denselben nicht mehr als das Gericht Gottes wider die Sünde auf die Seele des Gläubigen werfen. Gott bedient sich, wenn es sich um seine Regierung bezüglich seines Volkes handelt, zwar desselben auf dem Weg der Züchtigung; (siehe Apg 5; 1. Kor 11,30; 1. Joh 5,16) aber Satan als der, welcher die Gewalt des Todes hatte, ist zunichtegemacht. Unser Herr Jesus hat ihm seine Macht entrissen und hält jetzt in deiner allmächtigen Hand die Schlüssel des Todes und des Grabes. Der Tod hat seinen Stachel, das Grab seine Beute verloren; und wenn jetzt der Tod vor den Gläubigen tritt, so erscheint er nicht als ein Gebieter, sondern als ein Diener. Er kommt nicht wie ein Gerichtsdiener, um die Seele auf ewig in ihr Gefängnis abzuführen, sondern er kommt wie eine freundliche Hand, um die Tür des Käfigs zu öffnen und den Geist nach seiner Geburtsstätte in den Himmeln ausfliegen zu lassen.

Alles dieses macht einen wesentlichen Unterschied. Beseitigt ist jetzt jede Furcht vor dem Tod, welche stets mit dem Stand der Gläubigen unter dem Gesetz verbunden war, jetzt aber gänzlich unverträglich ist mit der Stellung und den Vorrechten derer, welche vereinigt sind mit Ihm, der aus den Toten auferweckt ist. Und das ist nicht alles. Das ganze Leben und der Charakter des Christen musste der Quelle gleichen, von welcher dieses Leben ausgeschlossen ist. „Wenn ihr denn mit dem Christus auferweckt seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott“ (Kol 3,1–4).

Möge indessen niemand die Wichtigkeit dieser Wahrheit verkennen und sie etwa nur für eine Streitfrage menschlichen Verstandes halten. Weit entfernt davon. Sie ist eine Wahrheit von großer, praktischer Tragweite, die der Apostel Paulus beständig darstellte, und auf der er unter allen Umständen beharrte – eine Wahrheit, die er als Evangelist predigte, als Lehrer lehrte und entwickelte, und deren Wirkungen er als treuer, sorgsamer Hirte stets pflegte und überwachte. Der Platz, den die große Wahrheit der Auferstehung in der Predigt des Apostels einnahm, war so hervorragend, dass sogar etliche der Philosophen Athens von ihm sagten: „Er scheint ein Verkündiger fremder Götter zu sein! – weil er ihnen Jesus und die Auferstehung predigte“ (Apg 17,18). Der Leser möge sich diese Zusammensetzung merken: „Jesus und die Auferstehung“ Warum war es nicht „Jesus und die Fleischwerdung“? Warum nicht „Jesus und die Kreuzigung“? Fanden denn diese tiefen und unschätzbaren Geheimnisse keinen Platz in der apostolischen Predigt und Belehrung? Man lese 1. Timotheus 3,16, und man besitzt die Antwort. „Und unaussprechlich groß ist das Geheimnis der Gottseligkeit: Gott ist offenbart worden im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, gesehen von den Engeln, gepredigt unter den Nationen, geglaubt in der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit.“ Auch lese man Galater 4,4–5: „Als aber die Fülle der Zeiten gekommen, war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weib, geboren unter Gesetz, auf dass Er die, welche unter Gesetz waren, loskaufte.“

Diese Stellen setzen die Frage bezüglich der Grundlehren der Fleischwerdung und der Kreuzigung an ihren bestimmten Platz. Aber nichtsdestoweniger predigte und lehrte der Apostel die Auferstehung mit einer unbeugsamen Beharrlichkeit. Er selbst war zu einem auferstandenen und verherrlichten Christus bekehrt worden. Selbst der erste Lichtblick auf die Person Jesu von Nazareth zeigte ihm einen auferstandenen Menschen in Herrlichkeit. Nur als solchen kannte er ihn, wie er uns in 2. Korinther 5 erzählt. „So denn kennen wir von nun an niemanden nach dem Fleisch; wenn wir aber auch Christus nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr.“ Paulus predigte ein Evangelium der Auferstehung. Es war sein Bestreben, jeden Menschen in dem auferstandenen und verherrlichten Christus vollkommen darzustellen. Er ging weit hinaus über die bloße Frage der Sündenvergebung oder der Errettung von ewiger Verdammnis, wie überaus kostbar diese Früchte des Versöhnungstodes Christi auch an und für sich sein mochten; er streckte sich nach dem herrlichen Endziel der ewigen Einpflanzung der Seele in Christus. „Wie ihr nun den Christus Jesus, den Herrn, empfangen habt, so wandelt in Ihm, eingewurzelt und auferbaut in Ihm, und befestigt in dem Glauben, wie ihr gelehrt worden, reich seiend in demselben mit Danksagung.“ – „Ihr seid vollendet in ihm“ ... „Mit ihm begraben in der Taufe, in welcher ihr auch mit auferweckt worden seid.“ ... „Euch hat er mit lebendig gemacht, mit ihm“ (Kol 2).

Das war die Predigt und Lehre des Paulus. Das war sein Evangelium. Das ist wahres Christentum im Gegensatz zu allen Formen menschlicher Religiosität und fleischlicher Frömmigkeit unter der Sonne. Das Leben in einem auferstandenen Christus war das großartige Thema des Apostels. Es war nicht bloß die Vergebung und Errettung durch Christus, sondern das Einssein mit Christus. Das Evangelium des Paulus verpflanzte die Seele sogleich in einen auferstandenen und verherrlichten Christus, indem er die Erlösung und Sündenvergebung als natürliche Folge voraussetzte. Das war das herrliche Evangelium Gottes, womit Gott den Apostel betraut hatte.

Wir würden gern noch länger bei der gesegneten Betrachtung der Quelle des christlichen Lebens verweilen; allein wir müssen zu den übrigen Punkten unseres Gegenstandes eilen und werden daher in Kürze die Aufmerksamkeit des Lesers auf unseren zweiten Punkt, auf die Eigenschaften oder moralischen Züge des Lebens richten, welches wir als Christen besitzen. Es würde hierbei am Platz sein, dass wir das kostbare Geheimnis des Lebens Christi, als eines Menschen auf dieser Erde, zu entfalten, seine Wege zu verfolgen, und die Weise und Gesinnung, womit Er durch alle Szenen und Umstände seiner Laufbahn hienieden schritt, zu kennzeichnen suchten. Wir sollten Ihn als ein seinen Eltern unterworfenes Kind betrachten, welches aufwuchs unter dem Auge Gottes, welches von Tag zu Tag zunahm an Weisheit und Größe, und welches alles zur Schau trug, was lieblich war im Angesicht Gottes und der Menschen. Wir sollten seinen Pfad verfolgen, als den eines in allen Dingen treuen Dieners – einen Pfad, der die Spuren einer ununterbrochenen Arbeit und Beschwerde zeigte. Wir sollten über Ihn, den niedriggesinnten, demütigen und gehorsamen Menschen, nachsinnen, der, in allem unterworfen und abhängig, sich selbst zu nichts machte und, ohne in irgendeiner Weise sein eigenes Interesse zu suchen, sich für die Verherrlichung Gottes und für das Wohl der Menschen vollkommen überlieferte. Wir sollten Ihn anschauen als den gnadenreichen, liebenden, teilnehmenden Freund, der, voll von Mitgefühl, immer bereit ist, jedem trauernden Kind den Kelch der Tröstung darzureichen, der nimmer fehlt, um die Tränen der Witwe zu trocknen, den Schrei des Unterdrückten zu hören, den Hungrigen zu speisen, den Aussätzigen zu reinigen und alle Arten von Krankheiten zu heilen. Mit einem Wort, wir sollten alle die unzähligen Strahlen der moralischen Herrlichkeit auffangen, welche in dem kostbaren und vollkommenen Leben dessen zum Vorschein kommen, der Gutes tuend umherging.

Aber wer ist fähig, alle diese herrlichen Dinge ans Licht zu bringen? Wir können dem christlichen Leser nur sagen: Gehe hin, erforsche selbst dein großes Ideal! Richte den Blick unverrückt auf dein erhabenes Muster! Wenn ein auferstandener Christus die Quelle deines Lebens ist, so ist auch der hienieden lebende Christus dein Vorbild. Die Züge deines Lebens seien dieselben Züge, welche in Ihm, als einem hienieden wandelnden Menschen, ins Licht traten. Durch den Tod hat Er es bewirkt, dass sein Leben dein Leben geworden ist. Er hat dich mit sich selbst durch ein Band vereinigt, welches nimmer aufgelöst werden kann; und jetzt bist du berechtigt, zurück zu kehren und die Geschichten des Evangeliums zu studieren, um zu sehen, wie Er gewandelt hat, damit durch die Gnade des Heiligen Geistes dein Wandel dem seinen gleich sei.

Es ist eine sehr gesegnete, wenn auch höchst ernste Wahrheit, dass nichts in den Augen Gottes irgendwelchen Wert hat, als nur der Ausfluss des Lebens Christi von seinen Gliedern hienieden. Alles, was nicht eine unmittelbare Frucht dieses Lebens ist, ist nach der Schätzung Gottes äußerst wertlos. Die Tätigkeiten der alten Natur sind indessen nicht nur ohne Wert, sondern auch sündig. Es gibt gewisse natürliche Verhältnisse, in welchen wir uns befinden, Verhältnisse, welche durch Gott geheiligt sind, und in– welchen Christus unser Muster ist. z. B. „Ihr Männer, liebt eure Weiber, wie Christus die Versammlung liebt.“ Wir sind anerkannt als Eltern und Kinder, als Herren und Diener, und sind bezüglich unseres Verhaltens in diesen Verhältnissen unterwiesen; aber alles dieses ist auf dem Grund des auferstandenen Lebens in Christus (Siehe Kol 3; Eph 5,22). Der alte Mensch wird durchaus nicht anerkannt. Er wird als gekreuzigt, gestorben und begraben betrachtet; und wir sind aufgefordert, ihn für tot zu halten, unsere Glieder, die auf der Erde sind, zu töten, und zu wandeln wie Christus gewandelt hat. Das ist Praktisches Christentum. O möchten wir in diese Gedanken tiefer eindringen! Möchten wir uns stets erinnern, dass in den Augen Gottes alles ohne Wert ist, was nicht das Leben Christi zur Quelle hat, und als solches durch die Kraft des Heiligen Geistes in den Gläubigen an den Tag tritt. Der schwächste Ausdruck dieses Lebens ist ein süßer Wohlgeruch vor Gott, während das kräftigste Erzeugnis des bloß religiösen Fleisches – die kostbarsten Opfer – die hervorragendsten Gebräuche und Zeremonien – nichts als „tote Werke“ sind in den Augen Gottes. Sicher, das wahre Christentum ist ein ganz anderes Ding, als Religiosität.

Und jetzt noch ein Wort über den Ausgang dieses Lebens, welches wir als Christen besitzen. Wir dürfen in Wahrheit sagen: ein Wort; denn dieses eine Wort heißt „Herrlichkeit“. Das ist der einzige Ausgang des christlichen Lebens. „Wenn der Christus, unser Leben, offenbart sein wird, dann werdet auch ihr mit Ihm offenbart werden in Herrlichkeit.“ Jesus wartet für den Augenblick auf die Offenbarung seiner Herrlichkeit, und wir warten in und mit Ihm. Er hat sich gesetzt und harrt, und wir haben uns gesetzt und harren gleicherweise. „Wie Er ist, sind auch wir in dieser Welt“ (1. Joh 4,17). Tod und Gericht sind hinter uns, nichts als die Herrlichkeit steht vor uns. Unser „Gestern“ ist, wenn wir uns also ausdrücken dürfen – das Kreuz, unser „Heute“ ein auferstandener Christus, und unser „Morgen“ die Herrlichkeit. Also verhält es sich mit den wahren Gläubigen. Es verhält sich mit ihnen, wie mit ihrem lebenden und erhöhten Haupt. Wie das Haupt ist, so sind die Glieder. Sie können in keiner Weise auch nur einen Augenblick von Ihm getrennt sein. Sie sind unauflöslich mit einander vereinigt in der Kraft einer Einheit, die durch keinen Einfluss der Erde oder der Hölle geschädigt werden kann. Das Haupt und die Glieder sind auf ewig eins. Das Haupt hat den Tod und das Gericht durchschritten, und ebenso die Glieder. Das Haupt hat sich gesetzt in die Gegenwart Gottes, und ebenso die Glieder – mit lebendig gemacht, mit erhöht und mit gesetzt mit dem Haupt in Herrlichkeit.

Siehst du, mein Leser? Das ist christliches Leben. Sinne darüber nach; erwäge es tief in deinem Herzen. Prüfe es in dem Licht des Neuen Testaments. Die Quelle dieses Lebens ist ein auferstandener Christus; seine Eigenschaften die Züge des auf der Erde geschauten Christus, sein Ausgang eine wolkenlose, ewige Herrlichkeit. Wie verschieden ist dieses Leben von demjenigen, welches wir als Söhne und Töchter Adams besitzen! Die Quelle dieses Lebens ist ein gefallener, ruinierter und ausgeworfener Mensch. Die Eigenschaften derselben sind die tausend Formen von Selbstsucht, mit welchem die Menschheit sich selbst geschmückt hat. Sein Ausgang ist der Feuersee. Das ist, wenn wir uns anders durch die Schrift leiten lassen, die einfache Wahrheit bezüglich des Lebens des ersten Adams und seiner Nachkommen, sowie bezüglich des Lebens des zweiten Adams und seiner Gläubigen.

Bemerken wir hier in Betreff des Lebens, welches die Christen besitzen, noch zum Schluss, dass von einem so genannten „höheren christlichen Leben“ nimmer im Wort Gottes die Rede ist. Wenn jemand sich dieser Ausdrucksweise bedient, so mag er wohl das in der Schrift bezeichnete Leben des Christen darunter verstehen; aber die Form ist unrichtig. Es gibt nur ein Leben, und dieses Leben ist Christus. Ohne Zweifel gibt es verschiedene Gerade in dem Genuss und in der Darstellung oder Verwirklichung dieses Lebens; aber wie verschieden das Maß auch sein mag, so gibt es doch nur ein Leben. Es mögen höhere und niedere Stufen sich in demselben kundgeben; aber nur ein Leben ist vorhanden. Der am meisten hervorragende Christ auf Erden und das schwächste Kind im Glauben – sie besitzen ein und dasselbe Leben; denn Christus ist das Leben des Einzelnen, das Leben Beider, das Leben aller.

Alles dieses ist höchst einfach; und wir wünschen, dass der Leser es sorgfältig erwägen möge. Wir sind völlig überzeugt, dass die klare Entfaltung und treue Verkündigung dieses Evangeliums der Auferstehung eine dringende Notwendigkeit ist. Viele machen Halt bei der Fleischwerdung; andere gehen bis zur Kreuzigung. Wir aber wünschen ein Evangelium, welches alles enthält, sowohl die Fleischwerdung und Kreuzigung, als auch die Auferstehung. Ein solches Evangelium besitzt die wahre moralische Kraft und ist der mächtige Hebel, um die Seele von jeder irdischen Vereinigung hinweg zu rücken und sie in Freiheit zu setzen, um in der Kraft des auferstandenen Lebens in Christus mit Gott wandeln zu können. Möge dieses Evangelium nach allen Seiten hin in der bekennenden Kirche mit lebendiger Kraft gepredigt werden; denn hier gibt es Hunderte und Tausende aus dem Volk Gottes, die es zu kennen nötig haben! Ach, wie viele Seelen werden durch Zweifel und Fragen gefoltert, die durch die einfache Annahme der gesegneten Wahrheit des Lebens in einem auferstandenen Christus beseitigt werden würden. Das wahre Christentum schließt alle Zweifel und Befürchtungen aus, obwohl leider sich viele Christen damit herumschleppen. O möchte doch das klare Licht des von Paulus gepredigten Evangeliums in die Seelen aller Heiligen Gottes strömen und die sie einhüllenden Nebel und Dünste zerstreuen, um in Wirklichkeit in jene Freiheit einzutreten, womit Christus sein Volk befreit hat!

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