Botschafter des Heils in Christo 1871
Die Reise durch die Wüste - Teil 2/2
Doch der Herr hat uns noch mehr zu sagen. Warum lässt Er uns in der Wüste? Warum nimmt Er uns nicht gleich nach unserer Bekehrung in den Himmel? – Aus demselben Grund, weshalb Er auch die Israeliten vierzig Jahre lang in der Wüste ließ. „Ihr sollt gedenken all des Weges, den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf dass Er dich demütigte und dich versuchte, dass kundwürde, was in deinem Herzen wäre, ob du seine Gebote halten würdest, oder nicht.“ – Siehe, das ist die Ursache, um derentwillen Er uns in der Wüste lässt. Freilich gibt es noch einen anderen Grund. Wir sind in der Wüste, um die Zeugen Jesu zu sein. Jesus sagt in Betreff der Jünger zu seinem Vater: „Gleichwie du mich in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie in die Welt gesandt“ (Joh 17). Doch davon ist hier nicht die Rede. Unser Bleiben in der Wüste hat hier den Zweck, dass Gott uns demütige und das Innere unserer Herzen prüfe. Diese beiden Dinge sind enge mit einander verbunden. Der Herr will uns demütigen und Zugleich ans Licht bringen, was in unseren Herzen ist. Das Erste geschieht durch das Letzte. Durch die Offenbarung dessen, was in unseren Herzen ist, werden wir gedemütigt. Welch eine hohe Meinung haben wir oft von uns! Wie fühlt sich namentlich der noch erst kürzlich Bekehrte oft so stark der Sünde und der Welt gegenüber! Doch bald kommen Schwierigkeiten und Versuchungen aller Art; und ach! wie viele Schwachheiten, die man für unmöglich hielt, offenbaren sich dann oft! Das ist demütigend. Wie oft entdeckt man bei anderen traurige Dinge, die zu tun man sich kaum für fähig hält! Und später entdecken wir dasselbe bei uns. Wirklich, das beugt uns nieder. Aber das ist es, was Gott will; Er will nicht, dass wir sündigen, denn Er hat uns freigemacht von der Macht der Sünde; aber Er will uns demütigen, und klein machen in unseren Augen und das Gefühl in uns wecken, dass wir nichts sind und nichts vermögen. Ist dieses, Gefühl vorhanden, dann vertrauen wir nicht mehr auf unsere eigene Kraft, sondern nehmen zu Ihm, ohne den wir nichts können, unsere Zuflucht. Dann geben mir bei all unserem Tun Ihm die Ehre. Dann sagen wir mit Paulus: „Bin ich schwach, so bin ich stark!“ und: „Ich vermag alles durch den, der mich kräftigt.“ –
Die Umstände, durch welche Gott uns gehen lässt, machen stets offenbar, was in unseren Herzen ist. Als den Israeliten das Wasser mangelte, murrten sie; als ihnen Speise fehlte, erhoben sie sich wider Mose; als ihnen an der Grenze Kanaans die Kunde von den Riesen und starken Städten zu Ohren kam, wollten sie nicht eintreten; und so offenbarten sie bei jeder Schwierigkeit auf ihrem Weg, was in ihren Herzen war. Ebenso ist es bei uns. Die Umstände offenbaren, wie unser Herz zu Gott steht, ob wir Ihm vertrauen oder nicht. Und nicht allein die bösen, sondern auch die guten Tage stellen den Zustand des Herzens ans Licht. Als das Brot mangelte, murrten die Kinder Israel; und als der Herr eine große Menge Wachteln sandte, zeigten sie eine Gier, die den Tod zur Folge hatte. Darum sagt Paulus, nicht nur: „Ich habe gelernt, Hunger zu leiden“, sondern auch: „Ich habe gelernt, Überfluss zu haben.“ – Wir müssen in allem unterwiesen werden; wir können aus uns selbst weder das eine noch das andere. In den Tagen des Mangels können wir murren und uns gegen Gott empören, und in den Tagen des Überflusses können wir verschwenderisch leben und Gottvergessen. Darum will der Herr uns unterweisen; und Er benutzt daher alle Umstände, um uns den Zustand unserer Herzen aufzudecken. Möchten wir doch aufmerksame Schüler sein! Im Gefühl unserer Abhängigkeit werden wir in seiner Kraft wandeln und in allen Lagen auf Ihn unser Vertrauen setzen.
Wie gesegnet kann also unser Leben in dieser Wüste sein! Der Herr will uns unterweisen, um uns seiner Heiligkeit teilhaftig zu machen. Er benutzt dazu die Verfolgungen der Menschen und die Versuchungen des Teufels. Nehmen wir alles aus seiner Hand 1 Kein Haar fällt von unserem Haupt ohne seinen Willen. Alle Dinge müssen bei denen, die Gott lieben, zum Guten mitwirken. Hiob sagte: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen; der Name des Herrn sei gelobt!“ – und doch war es der Mensch, der ihm alles nahm, und der Teufel, der ihn plagte. Welch eine Ruhe für unser Herz! Der Herr kennt und liebt uns. Er züchtigt uns zu unserem Nutzen. „Jede Züchtigung scheint für die Gegenwart nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; nachher aber gibt sie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt sind.“
„Er demütigte dich und ließ dich hungern, und speiste dich mit Man, das du nicht gekannt, und auch deine Väter nicht gekannt hatten, auf dass Er dir kundtäte, dass der Mensch nicht lebe vom Brot allein, sondern von allem, das aus dem Mund des Herrn geht.“ Wunderbare Worte! Jehova speiste das hungernde Volk mit Man, damit es verstehe, dass der Mensch nicht allein vom Brot, sondern von allem lebe, was aus dem Mund des Herrn geht. Konnte Er nicht Korn wachsen lassen, um das Volk zu sättigen? Sicher. Es wäre kein größeres Wunder gewesen, als dass Er Brot vom Himmel regnen ließ. Aber Er tat es nicht, damit Israel erfahre, dass der Mensch von allem lebt, was aus dem Mund des Herrn geht. Wenn Er hätte Korn in der Wüste wachsen lassen, so würden die Pilger dasselbe in ihren Zelten aufgespeichert haben und, solange der Vorrat aushielt, ruhig und zufrieden gewesen sein. Ihr Vertrauen wäre auf das Korn, und nicht auf den Herrn gerichtet gewesen, während sie in Betreff des Mannas stets ihre Abhängigkeit von der Güte Gottes fühlen mussten. Jeden Morgen musste der Herr aufs Neue seinen Mund öffnen, um Israel zu speisen; und Israel musste jeden Morgen seine Speise holen. Nach Sonnenaufgang begann das Manna zu schmelzen; und wollte man es bis zum folgenden Tage aufbewahren, so verdarb es. Auf Gott allein musste daher das Vertrauen gerichtet bleiben. Hörten seine Gaben auf, dann musste das Volk hungern. Man war abhängig von dem, was täglich aus dem Mund des Herrn ging.
Ebenso verhält es sich mit uns. Hier in der Wüste findet sich für uns nichts. Die Wüste ist dürre und leer und zeigt keine erfrischende Quelle. Unsere Seele kann hier keine Erquickung finden. Alles, was wir bedürfen, muss von oben kommen. Gott allein vermag die Bedürfnisse unserer Seele zu stillen. Und täglich zeigt Er in dieser Beziehung seine Treue und Sorgfalt; aber Er reicht uns nicht mehr dar, als wir für jeden Tag nötig haben. Nimmer eröffnet Er in uns einen Brunnen, aus dem wir schöpfen können. Er selbst ist der Born aller Genüsse und aller Kraft. Von Ihm sind wir ganz abhängig. Sein Wort muss unsere tägliche Speise sein. Nicht nur müssen wir dasselbe täglich lesen, sondern es muss auch durch den Heiligen Geist auf unser Herz und unser Leben angewandt werden, so dass es in der Tat eine Speise für uns ist, und wir in allem den wohlgefälligen Willen Gottes verstehen lernen. Der Herr Jesus ist auch hierin unser Vorbild. Wie wir wissen, hat Er die Worte Mose dem Teufel gegenüber angeführt. Als Ihn hungerte und der Teufel Ihn versuchte, aus Steinen Brot zu machen, war seine Antwort: „Es steht geschrieben: Der Mensch lebt nicht: von Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“ – Es wäre sicher leicht für den Herrn gewesen, aus Steinen Brot zu machen; allein Er hatte kein Gebot von Gott, um dieses zu tun; und darum wollte Er lieber von jedem aus dem Mund Gottes ausgehenden Worte leben, als seine leiblichen Bedürfnisse in eigenmächtiger Weise stillen. Welch eine ernste Lehre für uns! Wie gesegnet, wenn wir alles von Gott erwarten und keinen Schritt tun, ohne zu wissen, dass unser Tun mit seinem Willen im Einklangs steht! Alles muss für uns von oben kommen; die Wüste bietet uns nichts dar. Wir müssen jeden Tag leben von dem, was aus dem Mund Gottes geht. Lasst uns daher tagtäglich das himmlische Manna suchen! Es ist stets in reicher Fülle vorhanden. Wir können so viel bekommen, dass wir selbst noch für andere etwas übrighaben. Der Herr stillt reichlich alle unsere Bedürfnisse, wenn wir nur kommen, um zu nehmen.
Dieses hat Israel in der Wüste in der vollkommensten Weise erfahren. Was konnte Mose am Ende ihrer vierzigjährigen Reise zu ihnen sagen? „Eure Kleider sind nicht veraltet und eure Füße sind nicht geschwollen während dieser vierzig Jahre.“ – Vierzig Jahre lang waren sie der versengenden Hitze der Wüste Ausgestellt gewesen; und dennoch waren ihre Kleider nicht veraltet. Mit denselben Kleidern, mit denen sie Ägypten verlassen hatten, sollten sie in Kanaan einziehen. Vierzig Jahre hindurch hatten ihre Füße den heißen Sand der Wüste durchschritten, und dennoch waren dieselben nicht geschwollen. Welch eine Macht, und welch eine Fürsorge Gottes! Vielen Mühsalen waren sie auf ihrem Weg begegnet; feurige Schlangen und Skorpionen hatten die Pilger geplagt; allerlei Versuchungen und Prüfungen waren über sie gekommen; aber nimmer hatte Gott sie verlassen. Er hatte sie so herrlich geleitet, dass sie nach einer vierzigjährigen Reife durch die große und schreckliche Wüste unversehrt an den Grenzen des verheißenen Landes standen und bekennen mussten: „Uns hat nichts gemangelt!“ – Wie herrlich ist dieses, geliebte Brüder! Ja, der Herr führt uns in mancherlei Mühsale und Versuchungen, um uns zu demütigen und ans Licht zu stellen, was in uns ist; aber nimmer verlässt Er uns. Er züchtigt uns, damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden; Er lässt Leiden, Krankheiten und andere Prüfungen über uns kommen, damit wir seine Gnade besser kennen lernen; aber nimmer ermüdet Er in seiner Sorge für uns. Sein Auge ist nimmer von dem Gerechten abgewandt. Inmitten unserer Mühsale sorgt Er für uns und segnet uns. Welch ein Trost! Wir geben oft unter unseren Leiden dem Gedanken Raum, als habe der Herr uns vergessen; aber das ist in der Tat eine höchst verwerfliche Meinung. Machen wir doch einen Augenblick Halt und schauen wir auf den Weg zurück, auf welchem uns der Herr, unser Gott, durch die Wüste der Welt geleitet hat! Haben wir je Mangel gehabt? O nein. Im Gegenteil werden wir sagen müssen: Der Herr hat alles wohlgemacht. Und sicher, wenn wir noch länger hienieden verweilen müssen und nach einiger Zeit noch einmal den Blick auf den Pfad hinter uns zurückwerfen, so werden wir dasselbe bezeugen müssen. Der Herr bleibt stets und unverändert derselbe. Darum lasst uns mit dem Mut des Glaubens unseren Weg fortsetzen, indem wir unverrückt das Auge auf die kommende Ruhe in der ewigen Herrlichkeit gerichtet halten. Bald werden wir bei Jesu sein. Zu den Kindern Israel sagte Moses: „Denn der Herr, dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ein Land, da Wasserbäche und Brunnen und Seen sind, die in den Auen und Bergen stießen; – ein Land, darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume, und Granatäpfel sind; – ein Land, das Ölbäume und Honig trägt; – ein Land, da du nicht kümmerlich Brot zu essen hast, da dir auch nichts mangeln wird; – ein Land, dessen Steine Eisen sind, und da du Erz aus den Bergen haust.“ – Aber was ist dieses alles im Vergleich mit der Herrlichkeit, die unser Teil sein wird? Kein irdischer Genuss, kein irdischer Glanz, sondern ein himmlischer Genuss, eine himmlische Herrlichkeit harrt unser. Das Haus des Vaters wird unsere Wohnung sein; für immer werden wir bei Jesu sein. Seine Herrlichkeit wird die unsrige sein. In seiner Liebe werden wir uns vollkommen und für ewig ergötzen. Die Herrlichkeit Kanaans hatte ihre Grenzen; die unsrige wird unendlich, wird grenzenlos sein. Vorwärts, geliebte Brüder! Wie mühevoll der Weg auch sein mag, und wie viele Versuchungen und Gefahren uns auch umringen mögen, so stehen wir doch auf dem Punkt in das himmlische Kanaan einzutreten. Die Reise ist bald vollendet. Noch wenige Augenblicke, und wir stehen am Ziel und werden von allem Leid und Kampf für immer erlöst sein. Ermüdend ist die Wüste,
Doch land' ich bald an jener Himmelsküste,
Wo Jesus wohnt, wo meine Heimat ist: Ja, der Herr ist nahe. Auch uns ruft Er zu: „Siehe, ich komme bald!“ – O welch ein seliger Augenblick wird es sein, wenn wir Ihm gleich sein und Ihn sehen werden, wie Er ist. „Ja, Herr Jesus, unser Herz verlangt nach diesem Augenblick. Schon von fern schauen wir die Küste, wo unser Schifflein landen, wird. Amen. Ja, komm, Herr Jesu!“