Botschafter des Heils in Christo 1870
Die beiden Throne
Wir wünschen, die Aufmerksamkeit unserer Leser auf zwei Throne zu richten, welche uns in der heiligen Schrift vorgestellt werden. Den einen dieser Throne finden wir in dem sechsten Kapitel des Jesajas, und den anderen in dem Zwanzigsten Kapitel der Offenbarung. Der Herr– möge die Lehre, die wir daraus ziehen, unserem Herzen und Gewissen zueignen und uns die Wahrheit verstehen lassen, damit dieselbe uns freimache.
1.: „In dem Jahr, da der König Usia starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über Ihm; ein jeglicher hatte sechs Flügel; mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum anderen und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen; alle Land sind seiner Ehre voll! dass der Schwellen Gründe bebten von der Stimme ihres Rufens; und das Haus ward voll Rauchs. Da sprach ich: Wehe mir, ich vergehe! denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn der Heerscharen, gesehen mit meinen Augen.“
Welch eine ernste und gewichtige Szene! Der Thron des heiligen Gottes steht hier vor uns, und wir sehen, welch eine Wirkung das Anschauen dieses Thrones auf das Herz eines Menschen ausübt, der sich in dessen Nähe sieht. Es ist eine ernste Sache, in der Gegenwart Gottes zu sein, uns selbst in dem Licht seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit zu betrachten und eine Stimme zu hören, die der Schwellen Gründe beben macht. Wo dieses der Fall ist, da ist sicher ein Werk des Heiligen Geistes vorhanden. Der Mensch sieht sich dann in seinem wahren Zustand. Die geheimen Triebfedern seines Herzens werden bloßgelegt. Er sieht nicht allein seine Handlungen, sondern auch seine Natur; nicht allein das, was er getan hat, sondern auch das, was er ist. Er bleibt nicht mehr stehen bei dem, was er nicht ist, sondern er erblickt sich in seiner wahren Gestalt. Der verlorene, gänzlich verdorbene Zustand des Menschen wird dann von ihm gesehen und erkannt. Er fühlt, dass er durch und durch schlecht ist und in der Gegenwart Gottes nicht bestehen kann.
So war es mit Jesajas, als er sich selbst betrachtete in dem Licht der Heiligkeit Gottes. Er sah, wie er war. Und was war die Folge? Er rief aus: „Wehe mir; ich vergehe? denn ich bin unreiner Lippen.“ Auch fügt er merkwürdiger Weise hinzu: „Denn meine Augen haben den König, den Herrn der Heerscharen gesehen.“ Dieses war die Ursache, dass er ausrief: „Wehe mir; denn ich vergehe!“ Der Anblick der Heiligkeit Gottes deckt uns unseren eignen Zustand auf. In der Gegenwart seiner Herrlichkeit kann keine Eigengerechtigkeit bestehen. Das Licht Gottes bestrahlt die düsteren Schlupfwinkel des menschlichen Herzens. Selbst was verborgen, oder gar längst vergessen war, wird dort offenbar. Das Gewissen ist erwacht, das Herz aufgedeckt; der Heilige Geist lüftet den Schleier, und man schreckt vor sich selber zurück. Kein Wunder, wenn man ausruft: „Wehe mir, denn ich vergehe!“ Man kann nicht anders. Das Anschauen des heiligen Gottes zwingt uns dazu. Als Petrus den Herrn Jesus in seiner Macht anschaute, rief er aus: „Gehe von mir hinaus; denn ich bin ein sündiger Mensch!“ Als Johannes auf Patmos den Herrn in seiner Herrlichkeit als den Richter der ganzen Erde sah, fiel er wie tot zu seinen Füßen.
Teure Leser! Früher oder später müsst ihr alle zu dieser Entdeckung kommen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Es mögen Tags, Monden und Jahre dahingehen, – der Augenblick kommt einmal sicher, wo ihr die Wahrheit eures wahren Zustands erkennen werdet und euch zu dem Ausruf gezwungen fühlt: „Wehe mir; denn ich vergehe!“ Wie entsetzlich jedoch, wenn ihr diese Entdeckung zu spät macht! Wie schrecklich, zu entdecken, dass ihr nicht allein vergeht, sondern auch für ewig verloren seid! Und dennoch wird dieses mit allen der Fall sein, die sich hier nicht der Gerechtigkeit Gottes unterwerfen wollen. Alle Menschen müssen sich einmal betrachten in dem Licht der Heiligkeit Gottes, es sei hier oder vor dem Richterstuhl Christi. Welch ein schrecklicher Gedanke, einmal als ein armer, verlorener Sünder vor dem Richterstuhl des heiligen und gerechten Gottes stehen zu müssen, und zwar ohne einen Erlöser, ohne jemanden, der die Strafe an unserer Stelle getragen hat!
Doch dieses ist nicht nötig. Nein, Gott sei Dank! Es ist ein Erlöser, ein Stellvertreter da. Der durch Jesajas geschaute Thron hat einen besonderen Charakter. Es stand ein Altar vor diesem Thron. Hören wir die folgenden Worte: „Da flog der Serafim einer zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm; und damit rührte er meinen Mund und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen gerührt, dass deine Missetat von dir genommen werde, und deine Sünde versöhnt sei“ (Jes 6,6–7). Sobald sich Jesajas der Gerechtigkeit Gottes mit dem Ruf: „Wehe mir, denn ich vergehe!“ unterworfen hatte, wende er in Verbindung mit dem Altar gebracht, und seine Missetat ward von ihm genommen und seine Sünde versöhnt. Wie unaussprechlich herrlich! Ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung, sagt die Schrift. Aber Gott hat in seiner Gnade einen Altar gegeben und ein Opfer bereitet. Richte deinen Blick auf Golgatha, mein teurer Leser! Siehe dort den Altar und das Opfer. Jesus ist das von Gott auserwählte Opferlamm. Er ward auf dem Kreuz zur Sünde gemacht. Er trug unsere Sünden an seinem Leib an dem Holz; und darum traf Ihn die Gerechtigkeit Gottes. Er wurde von Gott verlassen; Er starb. Das Werk der Versöhnung und Erlösung ist vollbracht, und sein Blut reinigt von allen Sünden. Ein jeder der sich bußfertig und mit dem Ruf: „Wehe mir, denn ich vergehe!“ der Gerechtigkeit Gottes unterwirft; ein jeder, der sich als ein Mensch unreiner Lippen in der Gegenwart des Herrn der Heerscharen erkennt, wird in Verbindung mit Jesu gebracht und empfängt Teil an dem durch Ihn vollbrachten Versöhnungswerk. Die Missetat ist dann hinweggenommen und die Sünde versöhnt. Die durch das Licht des Thrones offenbarte Schuld wird durch die Gnade des Altars beseitigt. In dem Licht der Heiligkeit Gottes erkannte Jesajas, wie er war; und der Seraph sagte in diesem Zustand zu ihm: „Deine Missetat ist von dir genommen und deine Sünde versöhnt.“ Und es ist beachtenswert, dass gerade einer der Serafim, welche gerufen hatten: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen!“ zu Jesaja gesandt wurde, um ihm die Botschaft der Gnade zu bringen. „Die Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn!“ (Röm 5,21) Durch die Verbindung mit dem Altar können wir vor dem Thron des heiligen Gottes stehen. Wo die Missetat hinweggenommen und die Sünde versöhnt ist, da können wir das Licht der Heiligkeit Gottes ertragen. Welch eine herrliche Gnade! O möchten unsere Herzen diese Wahrheit vollkommen verstehen, möchten wir darin ruhen, auf dass wir ohne Furcht nicht nur an unsere Sünden, sondern selbst an das Offenbarwerden vor dem Richterstuhl Christi denken können!
2. Richten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf einen anderen Thron, von welchem wir in Offenbarung 20 lesen: „Und ich sah einen großen weißen Thron, und den, der darauf sah, vor dessen Angesicht die Erde entfloh und der Himmel; und keine Stätte ward für sie gefunden. Und ich sah die Toten, geringe und große, vor dem Thron stehen; und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches das des Lebens ist. Und die Toten wurden gerichtet aus dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die in ihm waren; und der Tod und der Hades gaben die Toten, die in ihnen waren; und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken. Und der Tod und der Hades wurden geworfen in den Feuersee. Dies ist der zweite Tod, der Feuersee. Und wenn jemand nicht geschrieben gefunden ward in dem Buch des Lebens, so ward er geworfen in den Feuersee.“
Dieses ist der Thron des Gerichts. Hier finden wir keine Gnade, kein Erbarmen. Vergeblich suchen wir nach einem Altar in der Nähe dieses Thrones. Nichts als das Gericht ist hier zu finden. „Die Bücher wurden geöffnet.“ Es sind jene ernsten Zeugen des Lebens und des Betragens jedes einzelnen Menschen. Nichts bleibt im Verborgenen. Alles kommt ans Licht – in das Licht des Thrones des lebendigen Gottes. Niemand wird entrinnen. Das Gericht wird persönlich sein; ein jeder empfängt „nach seinen Werken.“ Das ist der ernste Charakter dieses Gerichts. Es ist eine Torheit zu denken, als ob der Mensch nur wegen seiner Verwerfung des Evangeliums gerichtet werde. Sicher wird die Verwerfung des Evangeliums, wo dieses nur irgend gehört worden ist, das Urteil Gottes verschärfen und die Verantwortlichkeit des Menschen vermehren; aber ebenso sicher ist es, dass der Mensch gerichtet werden wird nach seinen Werken. Der Apostel belehrt uns ausdrücklich in Epheser 5,3–6 und in Kolosser 3,5–6, dass der Zorn Gottes kommt über die Kinder des Ungehorsams wegen gewisser Sünden, die er näher bezeichnet. Kurz, die Schrift sagt es deutlich, dass ein jeder „klein und groß“ nach seinen Werken gerichtet werden wird. Welch eine ernste Wahrheit! Ein jeder, welcher unbußfertig, unbekehrt und ungläubig in seinen Sünden stirbt, wird Rechenschaft von allen seinen Handlungen ablegen müssen. Alle seine Taten werden mit Flammenschrift auf den Tafeln seines Gewissens geschrieben stehen; alle werden geschaut werden in dem Licht des Thrones, vor dem nichts verborgen ist, und dem niemand entrinnen können wird.
Wie entsetzlich, vor dem Thron des Gerichts zu stehen. Wie viele werden dort ausrufen: „Wehe mir; denn ich vergehe!“ Aber dort wird kein Altar sein, kein fliegender Serafim, keine glühende Kohle, keine Vergebung, keine Gnade! Was aber wird dort sein? „der See des Feuers.“ Es kann unmöglich anders sein; denn das Gericht beschäftigt sich mit den „Werken eines jeden“. Das unauslöschliche Feuer und der Wurm, der nicht stirbt, muss notwendig das Gericht aller sein, die vor dem großen, weißen Thron stehen. Mag der Mensch diese Wahrheit leugnen, mag er jeden Gedanken daran von sich scheuchen, mag er darüber seine besonderen Ansichten verfechten; aber alle seine Meinungen und alle seine Klügeleien und Vernünfteleien vermögen nicht das ernste und unzweideutige Zeugnis der heiligen Schrift zu verwischen. Dieses Zeugnis beweist unbestreitbar erstens, dass jene, deren Namen im Buch des Lebens geschrieben stehen, durchaus nicht in das Gericht kommen werden, weil Christus an ihrer statt gerichtet worden ist, und zweitens, dass jene, deren Namen nicht in dem Buch des Lebens geschrieben stehen, nach ihren Werken gerichtet und in den „See des Feuers“ geworfen werden. O, mein teurer Leser! nimm – wenn du es noch nicht getan Haft – deine Zuflucht zum Thron der Gnade, um dem zukünftigen Zorn zu entfliehen.