Botschafter des Heils in Christo 1870
Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei?
Eine merkwürdige Frage des Herrn – eine Frage von der allergrößten Tragweite! Der Herr hatte vorher gefragt: „Wer sagen die Menschen, dass ich, der Sohn des Menschen, sei?“ – und die Antwort der Jünger war gewesen, dass etliche Ihn für den Johannes den Täufer, andere für den Elias, noch andere für den Jeremias oder für einen anderen der Propheten hielten. Alle diese wiesen Jesu einen hohen Platz an, aber nicht denjenigen, der Ihm gebührte. Sie kannten Ihn nicht.
Johannes war unter ihnen gewesen; aber welchen Nutzen hätten sie von ihm gehabt, wenn er nicht der war, der auf Jesus hinwies. Sie kannten aus der Schrift den Elias und hatten jedenfalls die Bücher Jeremia und der anderen Propheten gelesen; aber was nützte ihnen alles, wenn sie sich dadurch nicht zu dem wahren Könige Israels, dem Sohn Gottes führen ließen. Alle diese heiligen Männer konnten den gefallenen Menschen nicht aufrichten und glücklich machen. Nur einer konnte es, und das war der in diese Welt gekommene Sohn Gottes, seine Erscheinung war etwas ganz anders, als die Erscheinung des Johannes, des, Elias und der Propheten. Hätten wir Jesus nicht, was sollten Johannes und Elias, was könnten alle Propheten für uns tun? Seit seiner Erscheinung gilt für jeden Menschen, der von Christus hört, die große Frage: „Was denkst du von Christus?“ Von der Beantwortung dieser Frage hängt alles ab. Jeder gibt Jesu einen Platz. Dem einen ist Er ein weiser Lehrer, dem anderen der Stifter der christlichen Religion: der Dritte legt Ihm diesen, der Vierte legt Ihm jenen Charakter bei; aber Christus ist nicht mehr für sie, als was auch irgendeine andere Person möglicherweise für sie sein könnte; und es gibt verhältnismäßig nur eine ganz geringe Zahl, welche in Ihm den Sohn Gottes erkennen. Und warum? Weil zu dieser Kenntnis nur die Offenbarung des Vaters führen kann.
Als Petrus dem Herrn die Antwort gab: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“ gab ihm der Herr die beachtenswerte Erwiderung zurück: „Glückselig bist du, Simon, Bar Jona! denn Fleisch und Blut haben es dir nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist.“ – Ja, es ist eine Glückseligkeit, Jesus, als den vom Himmel gekommenen Sohn Gottes, zu erkennen. Nur die Offenbarung des Vaters ist einzige Quelle dieser Erkenntnis. „Niemand kennt den Sohn; als nur der Vater.“ „Dieses aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.“
Mit Gott hatten wir es zu tun. Wir waren Sünder und sein Zorn ruhte auf uns. Er war unser Richter, ein gerechter Richter; aber Christus kam, um dieses schreckliche Gericht auf sich zu nehmen. Seine Sendung war der große Beweis der Liebe Gottes gegen den armen, verlorenen Sünder, aber auch ein redendes Zeugnis der Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes. Niemand vermochte Gott zu befriedigen, als nur sein geliebter Sohn, der um unserer Sünden willen sein Leben hingab. Die Liebe Gottes fand den einzigen Weg unserer Rettung in der Sendung und in der Dahingabe seines Sohnes, so dass seine Gerechtigkeit für Ihn kein Hindernis mehr war, sich des Sünders in Gnaden anzunehmen.
Gott trat in der Person seines eingeborenen Sohnes in die unmittelbarste Nähe des Menschen. Er erschien in Christus als der versöhnende Gott in Gnade und Wahrheit. Wer Christus sah, der sah den Vater; wer Christus kennt, der kennt auch den Vater; und, was so köstlich ist, Gott selbst offenbart uns seinen Sohn; Er selbst ist bemüht, dem armen, gefallenen Geschöpfe einen Gegenstand zu zeigen, in welchem die Vergebung, das Leben, die Gerechtigkeit und eine Fülle von Segnungen ist, sowie das Herz des Menschen fähig zu machen, diese Fülle zu erkennen und zu genießen. Ja, glückselig der Mensch, welcher Jesus kennt, in Ihm das erblickt, was Er ist und mit voller Gewissheit sein Vertrauen auf Ihn setzt.
Freilich ist unsere Erkenntnis von Ihm jetzt nur Stückwerk, und darum der damit verbundene Genuss unvollkommen. Dazu haben wir von Natur ein Herz, welches sich immer wieder zu anderen Dingen hinneigt und uns nötigt, stets auf unserer Hut zu sein. Und ob wir auch wissen, dass wir unserem Herzen nimmer vertrauen dürfen und uns schon so oft getäuscht und betrogen haben, so sind wir nichtsdestoweniger nicht selten töricht genug, demselben immer aufs Neue wieder zu vertrauen, oder doch wenigstens nicht seine eitlen Wünsche und Neigungen mit Ernst und Aufrichtigkeit nieder zu halten.
Und das ist nicht alles. Das menschliche Herz ist ein so betrügerisches Ding, dass wir nicht allein die offenbar bösen Neigungen desselben zu unterdrücken gezwungen sind, sondern sogar in vielen Fällen solche, die an und für sich gut zu sein scheinen. Was das menschliche Herz ist, davon liefert uns der Apostel Petrus ein lebendiges Beispiel. In der uns vorliegenden Stelle gibt, wie bereits erwähnt, der Herr Jesus dem Petrus das Zeugnis, dass der Vater ihm die Erkenntnis des Sohnes Gottes offenbart habe; und wenn wir etwas weiterlesen, so finden wir in demselben Kapitel, dass der Herr zur ernsten Zurechtweisung desselben Apostels gezwungen ist und ihm das strafende Wort zurufen muss: „Gehe hinter mich, Satan! Du bist mir ein Ärgernis; denn du sinnst nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist!“ – Welch niederschmetternde Worte! Der Herr hatte von seinen Leiden gesprochen; und Petrus wollte nicht, dass Ihm dieselben widerfahren sollten. Das eine Mal antwortet Petrus unter der Leitung des Vaters, das andere Mal unter der Leitung seines Herzens, das, anscheinend voll Mitgefühl für den Herrn, unter dem Einfluss des Fürsten dieses Zeitlaufes steht. Was von uns kommt, und wäre es auch das innigste Mitgefühl und Wohlwollen, ist wertlos, wenn es nicht Gott selbst zur Quelle hat. Die Wahrheit kommt von oben, vom Vater; nur was der Vater uns offenbart, hat unendlichen Wert und macht das Herz glücklich.
Zu wachsen in der Erkenntnis, die von oben kommt, ist unsere Aufgabe und erhöht den Genuss der Glückseligkeit. Kennen wir Jesus als unseren Erretter, so können wir Ihn alle Tage mehr kennen lernen, als unseren Freund und als den guten Hirten. Aber wie sehr ist unser Wachstum bedingt und abhängig von einem steten Wandel in der Gegenwart Gottes! Die Geschichte des Petrus zeigt uns, wie nahe oft die verschiedenartigsten Erfahrungen zusammenliegen, indem wir uns in der einen Stunde durch das, was von Oben kommt, und in der anderen durch unser eigenes Herz leiten lassen können. Nie nötig ist es daher, nüchtern zu sein und in der Abhängigkeit vom Herrn zu bleiben, wie nötig, uns immer zu fürchten, dass wir unseren eigenen Eindrücken folgen möchten, wobei wir – und das ist beachtenswert – selbst geleitet durch eine anscheinend gute Meinung, den Platz Satans einnehmen konnten! Wir denken oft nicht an die Tragweite einzelner Worte; und auch der arme Petrus hatte sicher keine Ahnung davon, dass, wenn sein Wunsch ausgedrückt in den Worten: „Ei, behüte, Herr! dieses wird dir Zucht widerfahren!“ zur Ausführung gekommen, Satan triumphiert haben würde und nimmer an eine Erlösung zu denken gewesen wäre, dass nimmer die Gnade durch die Gerechtigkeit hätte herrschen und nimmer ein elender Sünder Friede mit Gott hatte finden können. Unser Tun, unser Reden, unser Denken wird stets der Ausfluss dessen sein, was uns leitet. Das Herz steht stets unter irgendeinem Einfluss und das ist sehr beachtenswert. Entweder sind es die Offenbarungen des Vaters, die uns leiten, oder es sind die Einflüsterungen Satans, der Welt und unserer eigenen Natur, die unsere Schritte regeln. Wie verschieden sind die Worte des Herrn: „Glückselig bist du, Simon!“ und: „Gehe hinter mich, Satan!“ und doch waren sie an eine und dieselbe Person gerichtet, über deren Lippen die Worte kamen: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“ und „Ei behüte Herr!“ – „Aus demselben Mund kommt hervor Segen und Fluch. Dieses, meine Brüder, sollte nicht also sein“ (Jak 3,10).
Erinnern wir uns stets daran, geliebte Brüder, dass der Weg eines Jüngers Jesu schmal ist, und dass es der steten, nüchternen Abhängigkeit vom Vater, des steten Umgangs mit Jesu und der steten Leitung des Heiligen Geistes bedarf, um sichere Tritte zu tun. Aber Gott sei– gepriesen! der schmale Weg ist breit genug für ein demütiges Herz, welches wünscht von Oben geleitet zu sein; und die Gnade hat Mittel und Wege genug, um ein solches Herz zu bewahren, damit der Fuß nicht abgleite und der Mund keine Torheiten rede.