Botschafter des Heils in Christo 1870
Abraham und Lot
Die Zerstörung Sodoms und Gomorras ist ein Bild dessen, was, wenn der Herr kommt, geschehen wird. Die Menschen handelten in einer Weise, als ob die Welt für immer bestehen sollte; und dieses ist auch jetzt noch die größte Sünde der Welt und der unwiderlegbare Beweis ihres Unglaubens (2. Pet 3). Die Menschen treffen die verschiedenartigsten Vorkehrungen im Blick auf die Zukunft, da doch die Welt seit dem Tod Jesu nicht auf einen einzigen Tag zählen kann. Gott wartet, bis die Gottlosigkeit auf der Erde ihren Höhepunkt erreicht hat, bis sie bloßgestellt und ganz offenbar gemacht ist, bevor Er das Gericht vollzieht. Die Welt aber benutzt diese Langmut Gottes als eine Stütze ihres Unglaubens. „Weil der Befehl nicht geschieht, so eilt die böse Tat; darum ist das Herz der Menschenkinder davon voll. Böses zu tun“ (Pred 8,11). Nach diesem Grundsatz und in dieser Weise handelt der Unglaube immer. Es war dieses die Geschichte des Menschen vor der Sintflut und diejenige der verfluchten Städte der Ebene (Lk 17,26.30).
Die Kirche hat eigentlich nur einen Gegenstand, nämlich den verherrlichten Christus im Himmel; darum ist der Christ berufen, mit dem Herzen von allen Dingen der Erde getrennt zu sein. Abraham als Pilger oder Fremdling auf Erden ist ein treues Vorbild der Gläubigen (Heb 11). Er sah die Verheißungen von ferne; er war davon überzeugt; er ergriff sie und bekannte, dass er ein Fremdling hienieden sei; und in Bezug auf solche Menschen schämt Gott sich nicht, „ihr Gott zu heißen“. Er würde sich schämen, diejenigen als sein Volk anzuerkennen, welche die Welt zu ihrer Heimat erwählen. Abraham suchte ein Vaterland. „Und freilich, wenn sie sich jenes erinnert hätten, von welchem sie ausgegangen waren, so hatten sie wohl Zeit zurückzukehren. Jetzt aber begehren sie ein besseres, das ist ein himmlisches. Deshalb schämt sich Gott nicht, ihr Gott zu heißen; denn Er hat, ihnen eine Stadt bereitet“ (Heb 11,15–16). Abraham besaß im Land Kanaan nur ein Grab. Da er, im Ganzen genommen, Gott treu nachfolgte, hatte Gott ein besonderes Interesse an ihn. Abraham wird „Freund Gottes“ geheißen (Jak 3). Seine Schritte verraten keinerlei Ungewissheit; er geht von Ur in Chaldäa aus; und später verließen er und die Seinen Haran. „Sie zogen weg und kamen in das Land Kanaan“ (1. Mo 12). Wie aber machte es hernach das Weib Lots? Sie verlässt zwar Sodom dem Leib nach, aber nicht mit dem Herzen, und der Herr Jesus ruft seinen Jüngern das Gericht dieses Weibes ins Gedächtnis, indem Er sagt: „Erinnert euch an Lots Weib“ (Lk 17,32). Und wem ist die Christenheit zu vergleichen, dem Abraham oder dem Weib Lots? Das Volk Gottes ist nicht in einer Stellung, wo Gott es anerkennen kann, wenn es nicht die nämliche Sprache führt, wie Abraham, und zwar in der Tat und Wahrheit.
Gott teilt Abraham seine Gedanken in Bezug auf Sodom mit; und Abraham beantwortet eine solche Gnade Gottes nach der ihm verliehenen Gabe. Er bittet hier um nichts für sich selbst, wie im Kapitel 15, sondern er tut Fürbitte für andere. Es gibt kein lieblicheres Bild als das, womit das 18. Kapitel beginnt, wiewohl der Unglaube dieses Gemälde durch seinen elenden Materialismus entweiht und dadurch an den Tag legt, wie er moralisch gänzlich unfähig ist, diese gnadenreiche Herablassung Gottes zu „Seinem Freund“ zu würdigen. „Dieses hat Abraham nicht getan“ (Joh 18). Obwohl indessen an die Wege und Worte Gottes gewöhnt, und im völligen Bewusstsein der göttlichen Gegenwart, wartet er dennoch mit aller Wohlanständigkeit, bis es dem Herrn gefällt. Sich zu erkennen zu geben. Und dieser wahrhaft rührenden, geziemenden Ehrfurcht von Seiten Abrahams folgt von Seiten Gottes eine Vertraulichkeit, die nicht nur dem Kindeszustand des Menschen, mit Bezug, auf die von Gott offenbarte Segnung völlig angepasst war, sondern auch den Abraham für herrliche, ihm aufbewahrte Vorrechte zubereitete und ihn vor allem für jene köstliche Gemeinschaft bildete, wo man sich des Glücks anderer erfreut und an den Leiden anderer den innigsten Anteil nimmt. Durch diese Vertraulichkeit versicherte Gott ihn in der deutlichsten Weise seines Interesses an ihm und des Zutrauens, das Er in ihn gesetzt hatte.
In der Tat befindet sich Abraham, wie wir dieses in 1. Mose 18,17–19 sehen, in dem Genuss des innigsten Verhältnisses mit Jehova, welcher ihm seine Ratschlüsse offenbarte und mit ihm nicht nur aufs Neue und in größerer Klarheit von dem verheißenen Samen redet, sondern ihm auch das über Sodom verhängte Gericht ankündet. Jetzt hat Gott andere reichere und geistlichere Mittel offenbart, um unsere Herzen seiner Liebe zu versichern, während damals nichts geeigneter war, als seine Wege mit Abraham, Gott erscheint ihm in der Ebene von Mann; Er kommt bis zur Tür seines Zeltes; Er unterhält sich mit ihm in einer bewundernswürdigen Herablassung. Gott wollte in praktischer Weise das Herz Abrahams befestigen; und wir haben nicht nötig zu sagen, dass es Ihm gelang; die Fürbitte Abrahams beweist es. Für uns hat der Herr in seiner unendlichen Gnade noch etwas Besseres ersehen; Er ist gekommen und hat sich in Jesu offenbart; und wir haben die Gewissheit, dass wir in Christus Jesus jemanden besitzen, der fortwährend für uns bittet. Ja, wir sehen uns selbst in Christus Jesus in der Gegenwart Gottes und sind durch den Heiligen Geist mit Gott in ein so inniges Verhältnis eingetreten, dass selbst Abraham sich eines solchen nicht rühmen konnte, weil die Grundlage, auf welcher allein ein solches Verhältnis ruhen kann, noch nicht gelegt war. – Es ist vielleicht möglich, dass wir, was die Verwirklichung dieses Verhältnisses, in welches wir durch die Gnade gebracht worden sind, betrifft, eben nicht viele Fortschritte gemacht haben mögen; aber nichtsdestoweniger ist dieses Vorrecht, wenn auch kein handgreifliches und sichtbares, so doch ein ewig fortdauerndes, und um keinen Grad geringer, als es sein wird, wenn wir es nicht mehr im Glauben, sondern im Schauen genießen werden. Die Ratschlüsse Gottes sind uns in seinem Wort offenbart; und der Heilige Geist ist uns gegeben, damit wir sie erkennen und genießen sollen. Was uns oft mangelt ist der einfältige und feste Glaube Abrahams. Er fürchtete die Gegenwart Gottes nicht; eine solche Furcht ist die Wirkung der Sünde.
Wenn wir die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu geschaut haben, so ist die Gegenwart Gottes für uns süß und köstlich; und wir finden in ihr die nötige Kraft und Zuversicht. Ihn zu kennen, ist wirklich das ewige Leben; seine Gegenwart wirkt in uns die größte Freude. Wenn sich eine Seele in diesem Zustand des Vertrauens befindet, so teilt ihr Gott seine Gedanken mit, sowie Er hier Abraham als seinen Freund behandelte, und ihm selbst über das Aufschlüsse gab, was die Welt betrifft. Mit einem Freund sprechen wir nicht nur von Geschäften, sondern von dem, was wir auf dem Herzen haben. Die Fürbitte ist die Frucht der Offenbarung Gottes und der Gemeinschaft mit Ihm. Abraham, von der Welt getrennt, ist auf dem Berg mit dem Herrn; das Gericht, welches über die zu seinen Füßen liegende Welt, hereinbrechen wird, bietet den Gegenstand der Unterhaltung. In einer noch weit bestimmteren und völligeren Weise ist die Kirche von der Welt für Gott getrennt und von Ihm geliebt. „Gott teilt ihr seine Gedanken mit und zwar nicht nur bezüglich dessen, was Er für sie zu tun gedenkt, sondern auch bezüglich dessen, was die Welt zu erwarten hat. Der Sohn des Menschen wird sowohl die Lebendigen, als auch die Toten richten. Gott hat es uns gesagt.“
Gott erweist der Welt gegenüber die äußerste Langmut. Er wartet mit Geduld. „Er verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern Er ist langmütig gegen uns, weil Er nicht will, dass jemand verloren gehe, sondern dass alle zur Buße kommen“ (2. Pet 3,9). Wenn seine Liebe in uns in geistlicher Weise entwickelt wird und dasjenige übersteigt, was die Väter kosteten, so begreifen wir auch seine Langmut der schuldigen Welt gegenüber. Wäre ein Mensch berufen, die Welt zu regieren, so würde er nicht eine Stunde lang im Stande sein, ihre Undankbarkeit und Verkehrtheit zu ertragen. Gott brachte seinen Freund Abraham dahin, bis auf einen gewissen Grad in seine eigenen Gedanken einzugehen, und Er wirkt sogar, wenn ich mich also ausdrücken darf, einen Abdruck derselben in Ihm. Die Engel in menschlicher Gestalt schauen und gehen nach Sodom. Abraham aber steht noch vor Jehova. Auch das Teil der Kirche ist es, vor dem Herrn zu stehen und von Ihm seine Gedanken und Ratschlüsse zu erfahren, die Kirche ist von seiner Liebe zu ihr überzeugt, und mit dem Bewusstsein dieser Liebe betraut. Sie bittet für die Welt, in der Hoffnung, dass ihr noch Erbarmen widerfahren möge; das Herz lebt über den Verhältnissen, in deren Mitte es sich tatsächlich befindet, und rechnet auf die Liebe, die in Gott ist. Wenn wir für jemanden nicht Fürbitte tun können, so ist die Sünde stärker in uns als der Glaube. Wenn wir in praktischer Weise nahe bei Gott sind, so bittet der Geist, der die Sünde sieht, für den Sünder. Abraham schwieg; (V 32,33) und „Jehova ging weg, als Er aufgehört hatte, mit Abraham zu reden.“ Aber Er tat mehr, als Abraham gebeten hatte; Er zog Lot aus Sodom und rettete ihn. Nichts konnte –geschehen, bevor Lot in Sicherheit war (1. Mo 19,16–22). das Auge Gottes war auf ihm. Welch ein Segen für den Gerechten, auf die Liebe Gottes rechnen zu können!
Abraham beharrte in seiner Fürbitte, obschon er die Fülle der Barmherzigkeit Gottes nicht unterscheiden konnte. Wir wissen nicht, wie Gott es weis, was Er alles tun will; und dennoch vermögen wir im Glauben Fürbitte zu tun. Abraham erkühnt sich immer mehr zu bitten; sein zutrauen wächst; und am Ende kennt er Gott besser, als zuvor. Die Liebe Gottes bewahrte sein Herz. Die Frucht von all diesem wird uns in Kapitel 19,27–28 gezeigt, wo wir Abraham am frühen Morgen an den Ort gehen sehen, wo er vor Jehova gestanden hatte, und von wo aus er jetzt in die Ebene schaute, die wie ein Ofen rauchte. Von fern und von oben betrachtet er die Wirkung der Zerstörung. Und das ist auch unsere Stellung. Von fern und von oben werden wir das Gericht der Gottlosen schauen, jetzt durch den Glauben und dereinst in Wirklichkeit.
Lot und seine beiden Töchter wurden verschont und gerettet, wie durchs Feuer. Die treue und unergründliche Barmherzigkeit Gottes hatte über sie gewacht. Aber wie sehr unterschieden sich seine Umstände von denen des Abraham! Seine Untreue hatte ihn nach Sodom geführt; seine Begierde nach den angenehmen Dingen dieser Welt hatte ihn getäuscht. Er hatte seine Augen aufgehoben und hingeschaut auf die ganze Ebene am Jordan, welche, ehe der Herr Sodom und Gomorra verdorbene, ein sehr wasserreiches Land war, „wie der Garten Jehovas; und Lot wählte für sich die ganze Ebene des Jordans“ (1. Mo 13). Hier richtete er seine Zelte auf „bis gen Sodom“; später „wohnte er in Sodom“; (1. Mo 14) und am Abend vor der Zerstörung der Stadt „saß er im Tor Sodoms“, (1. Mo 19) also an einem Ehrenplatz! Ach! welch ein warnendes Beispiel für den Gläubigen, der, weil sein Herz an den Dingen dieser Erde hängt, sich auf dem Weg des Rückschritts befindet! Solche Christen verunehren den Herrn und durchbohren sich selbst mit vielen Schmerzen.