Botschafter des Heils in Christo 1869
Die Stellung des Gläubigen in Christus
Wie können wir das kennen, was uns von Gott gegeben ist? – Er hat es uns offenbart in seinem Wort; nur hier können wir es kennen lernen. Daher ist es von höchster Wichtigkeit, das Wort wirklich zu erforschen, damit wir nichts von dem Segen einbüßen, mit welchem uns Gott in Christus gesegnet hat. Wenn du Grund hättest zu glauben, dass dir eine Erbschaft hinterlassen worden sei, so würdest du sicher alle Erkundigungen einziehen, um die Wirklichkeit derselben feststellen zu können. Der Gläubige ist ein Erbe Gottes, ein Miterbe Christi (Röm 8,17; Gal 4,7). Was soll er erben? Ist es der Erforschung nicht würdig? Und woher hat er den Rechtstitel? – Christus ist sein Rechtstitel. Die Sache ist sehr einfach. Als Geborene von Adam waren wir von Natur Sünder, unfähig in Gottes Gegenwart zu stehen; ja, wir waren Kinder des Zorns. Es hat Gott gefallen, unter dem Bild des Aussätzigen diesen Zustand vor unsere Augen zu stellen. Verderbt, unrein, unfähig Gott als Anbeter nahen zu können, durfte derselbe erst dann nahen, wenn er vom Priester als rein erklärt, worden war. Obwohl nur Gott dem Menschen in diesem Zustand seine Barmherzigkeit und Liebe erweisen konnte, und auch, indem Er ein Heilmittel erfand, erwiesen hat, so konnte Er doch nimmer die Sünde übergehen als fordere sie nicht Gerechtigkeit von seiner Seite. Er musste seinen eigenen Charakter als den aufrechterhalten, der mit der Sünde nichts zu schaffen haben konnte. Es gab nur einen Weg; das Gericht musste die Sünde treffen. Wenn den Sünder das Gericht traf, so war er für immer verloren. Doch die Liebe Gottes erfand einen Ausweg. Er gab seinen Sohn, damit dieser die Strafe trage. Die Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“? – bezeichnen die Stellung, welche Christus als Sündenträger einnahm. Er ward „zur Sünde gemacht“, von Gott als solcher behandelt, trug den Fluch der Sünde ganz vollkommen und leerte so völlig die Hefen des Kelchs, dass Er nicht einen Tropfen für die übrigließ, an deren Stelle Er litt. „Er hat den Tod zunichte gemacht und Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht durch das Evangelium“ (2. Tim 1,2). „Wenn einer für alle gestorben ist, so denn alle gestorben sind“ (2. Kor 5,14). Durch dieses eine Opfer hat Er die Sünde hinweggetan. Die Gerechtigkeit Gottes erforderte jetzt nichts mehr, sondern die Liebe Gottes konnte ungehindert durch den von Ihm selbst geöffneten Kanal fließen.
Zwar war die Liebe Gottes von jeher da; aber die Sünde im Menschen war das Hindernis, welches den freien Ausfluss derselben bezüglich des Menschen hemmte. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingeborenen Sohn gegeben“, um dieses Hindernis hinweg zu räumen; und am Kreuz ertrug Jesus, als Sündenträger, in seiner eigenen Person das, was uns hätte treffen müssen, nämlich das Gericht Gottes. „Nach dem Fleisch getötet“, legte Er sein Leben nieder, und verließ das Grab als befreit, losgesprochen von der Sünde. „Denen, die Ihn erwarten, wird Er zum zweiten Male ohne Sünde zur Seligkeit erscheinen“ (Röm 6,10; Heb 9,28). Die Gerechtigkeit Gottes wurde vollkommen befriedigt. Nichts hindert nun, dass die Gnade durch Gerechtigkeit herrsche. Gott konnte jetzt „gerecht sein und den rechtfertigen, der des Glaubens an Jesus Christus ist“ (Röm 3,26; 4,5). Er konnte jetzt den Gottlosen rechtfertigen. Hätte Er es früher getan, so war Er nicht gerecht; aber nun ist eine größere Versöhnung erwirkt, als je durch einen Menschen hätte geschehen können; und Gott ist vollkommen verherrlicht worden.
Sollte nun aber der Mensch die frühere Stellung der Verantwortlichkeit, in der er sich als völlig verloren erwiesen hatte, wieder einnehmen? Wozu denn das Gericht? Wenn der Mensch nicht dem Tod verfallen war, warum musste dann einer für Ihn sterben? Nein, jene Stellung des Menschen war für immer gerichtet; derselbe Tod, der die Sünde hinweg tat, war das Gericht über den Menschen im Fleisch, den Menschen in der Natur Adams. Diese war vor Gott auf immer dahin. Gott hat mit derselben keine Beziehungen mehr, als dass Er dem Menschen in jenem Zustand Barmherzigkeit anbietet. Von dort her erwartete Gott nichts Gutes. Die Ursache, warum viele Seelen keinen Frieden haben, ist eben, weil sie noch etwas Gutes in dem suchen, was Gott als grundschlecht aufgegeben hat. – Nein, hier ist weder Liebe, Dankbarkeit noch etliches Verlangen nach Gott zu suchen. Warum wäre sonst Christus gestorben? Nicht in dir, sondern in Gott ist das Heilmittel. Christus ist uns gemacht worden zur Gerechtigkeit. Es ist die Gerechtigkeit Gottes und nicht des Menschen. Wir sind dazu gemacht, wenn wir glauben. Nachher werden natürlich die Früchte der Gerechtigkeit folgen, aber die Früchte derselben sind nicht die Gerechtigkeit selbst. Aber wie ein Kranker nicht die Beweise der Genesung erwartet, bevor er genesen ist, so werden auch erst dann die Früchte der Gerechtigkeit erscheinen, wenn die Krankheit der Sünde beseitigt ist. Aber wo ist der Beweis, dass die Sünde hinweggetan ist? Christus ist auferstanden; und Gott wird allen, die da glauben, Gerechtigkeit zurechnen. „Dem, der an den glaubt, der die Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet.“ „Christus ist uns Gerechtigkeit geworden“ (1. Kor 1,30).
Welch ein Ausgangspunkt! „Die Gerechtigkeit Gottes!“ Können wir höher steigen? Du sagst: „Es ist zu hoch!“ Gewiss, wenn du den Menschen hineinbringst. Aber nur in Christus, der von Gott für uns zur Sünde gemacht wurde, sind wir gerecht. Du kannst nur in Christus daran Teil haben, und zwar in der Voraussetzung, dass die Sünde am Kreuz hinweggetan ist. Er hat sie beseitigt; und nun hat der Gläubige Teil mit Ihm an seiner Auferstehung. Durch das Kreuz Christi und in Christus, dem Auferstandenen, hat der Gläubige Gerechtigkeit erlangt. „Wie Er ist, sind auch mir in dieser Welt“ (1. Joh 4,17).
Ja, noch mehr, der auferstandene Christus ist unser Leben. Mit dem alten Leben hat Gott nichts mehr zu schaffen. Wir haben kein Leben mehr unter dem Gericht oder der Erprobung. Die Probezeit ist vorbei, sowie auch das Gericht; Christus, siegreich aus dem Gericht hervorgegangen, ist unser Leben. Und dieser Christus – unser Leben – ist aufgefahren und sitzt in den himmlischen Örtern (Eph 1,20; 2,9). das Leben aus Adam und aus Christus darf nicht miteinander vermengt werden. Für das eine Leben ist das Kreuz, für das andere die Gerechtigkeit und die Herrlichkeit der Auferstehung. Beides kannst du nicht Zugleich haben. „Er hat uns mit auferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern.“
Aber das Erbe ist auch da. Wir sind Miterben Christ. Auch die Herrlichkeit ist unser. „Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, welche du mir gegeben hast.“ Wir haben unseren Anteil an allem, was Er als Sohn des Menschen empfangen hat. Wunderbar! Aber wir ehren Gott nicht, wenn wir die Größe seiner Gnade in Zweifel ziehen. Wenn du nur einmal deiner selbst losgeworden bist, indem du dich am Kreuz gerichtet siehst, dann wirst du einsehen, dass nichts mehr vorhanden ist, um Gott zu hindern, das Wohlgefallen seines Willens auszuführen, indem die Gnade durch Gerechtigkeit herrscht.