Botschafter des Heils in Christo 1869
Kurze Gedanken
„Wenn ihr mich liebt, so haltet meine Gebote“ (Joh 14,15).
Die Anforderung des Herrn ist, dass wir aus Liebe zu Ihm in seinen Geboten wandeln sollen; und sicher ist dieses auch der einzige köstliche Beweggrund eines guten Wandels, weil dabei das Herz in Tätigkeit für den Herrn ist.
Leider gibt es, weil unsere Liebe zum Herrn so schwach ist, bei uns oft viele andere Beweggründe unseres Tuns; aber ob es auch an und für sich anzuerkennen ist, wenn das Böse gemieden und das Gute getan wird, so werden doch solche Werke nur dann als völlig vor unserem Gott erfunden werden, wenn sie aus der einzigen, gottwohlgefälligen Quelle hervorgehen.
Wie vieles tun und wie manches unterlassen wir, weil wir gesetzlich sind und der Unruhe des Gewissens ausweichen möchten, oder weil wir die Ermahnungen der Brüder fürchten, oder gar das Urteil der Welt scheuen! Aber alles dieses hat nicht die Liebe zu Jesu zur Quelle. „Lasst uns Ihn lieben; denn Er hat uns zuerst geliebt.“ Wenn wir uns von dieser Liebe leiten lassen, so werden unsere Werke den wahren Klang vor Ihm haben. Alles andere ist wertlos und bringt keine Frucht. „Gebt nicht das Heilige den Hunden, werft auch nicht eure Perlen vor die Schweine, damit sie dieselben nicht mit ihren Füßen zertreten und sich wendend euch zerreißen“ (Mt 7,6).
Diese Worte, sowie die ganze so genannte Bergpredigt sind zwar zunächst Grundsätze des Himmelreichs, welches auf dieser Erde aufzurichten der Herr gekommen war. Allein die Kirche oder die Versammlung hat schon jetzt, obschon das Reich noch nicht offenbart ist, den Beruf, ihren himmlischen Charakter zur Schau zu tragen; und darum ist gerade die obige Stelle in einem weit höheren Sinne auf die Kirche anwendbar, weil dieselbe „Heiliges“ und „Perlen“ besitzt, welche sich im Reich nimmer finden lassen.
Man hat nun oft dieser Stelle die Meinung untergeschoben, als sollte man, weil Widerspruch und sogar Spott und Verachtung vorauszusetzen sei, nicht mit den Kindern dieser Welt über die Notwendigkeit ihrer Bekehrung reden, oder als beträfen diese Worte überhaupt die Verkündigung des Evangeliums. Doch sicher ist dieses nicht ihre wahre Deutung. Das Evangelium sollte man allen nahebringen, obwohl es sich bei dem einen als ein Geruch des Lebens zum Leben und bei dem anderen als ein Geruch des Todes zum Tod erweisen wird.
Unmöglich ist daher unter dem „Heiligen“ und den „Perlen“ das Evangelium verstanden; sondern vielmehr sind diese Ausdrücke Bilder für die Köstlichkeit der Beziehungen, in denen die Kinder Gottes zu ihrem Vater und ihrem Heiland stehen. Wer möchte mit der Welt reden über diese herrlichen Beziehungen, über die köstliche Hoffnung der Kinder Gottes, über ihre Gemeinschaft mit Gott, über ihre Freude im Herrn, über den jede Vernunft übersteigenden Frieden Gottes – kurz über Dinge, welche die Welt nicht kennt und nimmer fassen kann? Sicherlich, eine Unterhaltung dieser Art mit den Kindern dieser Welt hieße „das Heilige den Hunden geben“ und „die Perlen vor die Schweine werfen“ und würde keineswegs eine gute Wirkung haben, während das Evangelium sie zu erretten vermag. „Da stand Er auf, bedrohte die Winde und den See; und es ward eine große Stille“ (Mt 8,26).
Der Herr hat kurz zuvor mehrere Wunder verrichtet; Er hatte einen Aussätzigen geheilt, den Knecht des Hauptmanns gesundgemacht und die Schwiegermutter des Petrus vom Fieber befreit. Bis dahin hatte sich der Herr mit dem Menschen und dessen Elend beschäftigt. In der oben angeführten Stelle beschäftigt Er sich mit den Elementen. Die Winde verstehen Ihn und sind Ihm untertan. Er kann sie hervorrufen, wie bei Jona; und Er kann sie zum Schweigen bringen. Welch ein Herr, dem die Krankheiten, die Teufel und die Winde gehorchen! Wie ruhig können wir sein, wenn wir verstehen und durch den Glauben festhalten, dass Er für uns ist!
Die Jünger weckten Ihn in ihrem Kleinglauben; aber der Herr richtet die Frage an sie: „Was seid ihr furchtsam. Kleingläubige?“ Trotz seines Schlafens hätten sie ihr Vertrauen nicht aufgeben sollen. Hätten sie verstanden, dass der Herr selbst mit ihnen untergehen würde, wenn das Schiff sank, und hätten sie die ewigen Ratschlüsse Gottes gekannt, die sich an diese heilige Person Jesu knüpften, so würden sie Ihn sicher ungestört habe schlafen lassen. Ein Windstoß kann nicht die ewigen Ratschlüsse Gottes vereiteln. Wie klein und machtlos wird alles, was uns zuwider ist, wenn wir Jesus kennen und seine Macht und Treue verstehen; aber wie unüberwindlich groß erscheint uns der geringste Widerstand, wenn wir den Herrn nicht mit in Rechnung ziehen! „Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie ergrimme und sie verzehre, so will ich dich zum großen Volk machen“ (2. Mo 32,10).
Das Volk Israel hatte gesündigt; und bevor Moses dieses wusste und bevor er noch ein Wort gesprochen hatte, sagte Gott zu ihm: „Und nun lass mich.“ Welch ein Zeugnis für die Treue Mose! Gott kannte diesen Mann, der treu war in seinem ganzen Haus; und obschon Gott hinzufügte: „So will ich dich zu einem großen Volk machen“, so macht dieses auf Moses durchaus keinen Eindruck. Der treue Knecht begehrte nichts für sich; aber sein ganzes Herz hing an diesem Volk; und er hat daher nichts Eiligeres zu tun, als Gott zu sagen, dass dieses Volk sein eigenes Volk sei. Er erinnert an die Macht, deren es bedurft hatte, um das Volk aus Ägypten zu führen; er erinnert Ihn daran, dass die Ägypter sagen würden, Gott habe dieses Volk nicht bis ins Land Kanaan bringen können; und schließlich beruft er sich auf die Verheißungen, die Er, Abraham, Isaak und Jakob gegeben habe. Es ist umsonst, dass Gott gesagt hat: „Und mm lass mich.“ Moses hat kein Ohr für solche Worte, aber ein Herz, ein ganzes Herz für das Volk Gottes.
Nicht als ob Moses die Sünde gering betrachtete. O nein. Wir sehen dieses aus der Geschichte, wie er einst gegen die Sünde handelte. Er verstand es, bei dem Sünder für die Heiligkeit Gottes tätig zu sein, und bei Gott die Erbarmung gegen den Sünder zu erwirken. Möchten wir ihm ähnlich sein! Möchten wir es lernen, uns eins zu machen mit dem Volk Gottes und die Fürbitte zu üben, wie Moses sie übte. „Da sprach Gott zu Noah: Alles Fleisches Ende ist vor mich gekommen; denn die Erde ist voll Frevels, und siehe, ich will sie verderben mit der Erde. Mache dir einen Kasten von Tannenholz“ (1. Mo 6,13–14).
Noah glaubte den Aussprüchen Gottes und machte sich daran, sein Rettungsschiff zu bauen. Das musste eine wunderbare Sache für die Menschen sein, von Noah zu hören, dass die Welt bald untergehen werde, und zu sehen, dass er sich ein großes Schiff zu seiner Rettung baute. Wie mögen die gottlosen Menschen gespottet haben, und wie töricht mag ihnen Noah in seiner Zimmerarbeit erschienen sein! Aber Noah baute und die Menschen blieben gottlos, bis die Sintflut kam. Dann ruhte Noah in Sicherheit in seinem Kasten; aber sein Ohr hört die Spottreden nicht mehr. Das Gericht verschloss den Mund und vernichtete die Werke der Sünder für ewig.
Und wie es mit dem Kasten ging, so geht es heute noch. Die einen suchen den Platz, wo man sicher ist vor den kommenden Gerichten, und sie ruhen nicht eher, als bis sie in Christus die Ruhe des Gewissens und den Frieden des Herzens gefunden haben; und die anderen lachen und spotten, wenn man sie erinnert an den kommenden Zorn Gottes. – Und wie es Noah ging, so geht es heute noch. Ist Christus die Arche des Heils für uns geworden, dann gibt es keine Gefahr. Je näher die Wasser der Sintflut stiegen, desto näher kam Noah zu dem, der über den Wassern wohnte. – Und wie es den Gottlosen erging, so wird es auch wiederum den Gottlosen ergehen. Sie werden essen und trinken usw. usw., bis der Richter sich erhebt, und alle seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt werden. O möchten sich noch etliche warnen lassen? „Das Gesetz war durch Moses gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,17).
Das Gesetz sagte dem Menschen, was er tun sollte, aber nicht, was er war. Es knüpfte das Leben an seinen Gehorsam und den Fluch an seinen Ungehorsam; aber es sagte ihm nicht, dass Gott die Liebe sei. „Tue das, so wirft du leben“; und: „Verflucht ist, wer nicht hält alle Worte dieses Gesetzes.“ Alles dieses war vollkommen an seinem Platz; aber man lernte daraus weder was der Mensch, noch was Gott war. Die Wahrheit zeigt uns hingegen nicht, wie der Mensch sein sollte, sondern wie er ist, und wie Gott ist. Dieses aber konnte nicht offenbart werden ohne Gnade. Wie konnte der schreckliche Zustand des Menschen vor den Blicken desselben enthüllt werden, ohne dass Zugleich in Jesu das Heilmittel gezeigt wurde! Wie konnte dem Sünder die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes enthüllt werden, ohne Zugleich in Jesu den zu offenbaren, der in Gnaden gekommen war, um die Sünder anzunehmen und die Gerechtigkeit Gottes zu befriedigen! Die Wahrheit zeigt den Zustand des Menschen, und die Gnade heilt diesen Zustand. Die Wahrheit offenbart Gott in seiner ganzen Fülle, und die Gnade führt zu dieser Fülle Gottes. Wahrheit und Gnade sind zwei Begriffe, die nimmer getrennt werden dürfen.