Botschafter des Heils in Christo 1869
Glückselig ist, wer irgend nicht an mir Anstoß nimmt.
In Matthäus 11 finden wir einen merkwürdigen Vorfall aus dem Leben Johannes des Täufers, einen Vorfall, der sehr zu unserer Belehrung und Ermahnung dienen kann. Wir lesen dort nämlich: „Als aber Johannes in dem Gefängnis die Werke des Christus hörte, sandte er zwei seiner Jünger und sprach zu Ihm: ‚Bist du der Kommende, oder sollen wir einen anderen erwarten?‘“ Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: „Geht hin und berichtet dem Johannes die Dinge, die ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme wandeln. Aussätzige werden gereinigt und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium verkündigt. Und glückselig ist jeder, der sich nicht an mir ärgern wird“ (V 2–6). Johannes der Täufer ärgerte sich also an Jesu. „Wie ist das möglich?“ möchte vielleicht mancher unter uns fragen. „Johannes der Täufer, der Wegbereiter des Messias, der Mann, dessen Finger auf Jesus das Lamm Gottes hinwies – wie konnte er sich an Ihm ärgern?“ – Und dennoch war es also. Die Worte des Herrn: „Glückselig ist jeder, der sich nicht an mir ärgern wird“, setzen diese Tatsache außer allen Zweifel. Aber warum ärgerte er sich? – Werfen wir einen Blick auf die Umstände, in denen sich Johannes befand, und dann wird es uns leicht sein, die rechte Antwort auf die Frage zu finden.
Johannes war in der Tat der Wegbereiter des Herrn gewesen. Er hatte gepredigt: „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“ Er hatte den König Israels angeschaut und in Ihm das Lamm Gottes gesehen, „welches die Sünde der Welt hinwegnimmt“; und er hatte seine Jünger von sich ab und zu Jesu hingewiesen. Aber gerade sowie die Jünger Jesu, selbst nach seiner Auferstehung, siehe (Apg 1,6) so hatte auch er erwartet, dass die Ankunft des Messias in Glanz und Herrlichkeit stattfinden sollte, dass Israel von der Zwingherrschaft der Römer erlöst werden und die von den Propheten des Alten Testaments angekündigte herrliche Regierung des Königs Israels sofort beginnen würde. Nichts jedoch war von diesem allen geschehen. Im Gegenteil; anstatt in Glanz und Herrlichkeit war Christus in Niedrigkeit und Elend erschienen. Jesus musste von sich selbst bezeugen: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel Nester; aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo Er sein Haupt hinlegt.“ – Er, der der König der Juden war, ging verachtet und verspottet seinen Weg. Und Johannes der Täufer, der Vorgänger und Herold Jesu, hatte, anstatt einen ausgezeichneten Platz im Reich zu bekommen, einen Platz im Gefängnis gefunden, um sogar, bevor noch das Reich aufgerichtet war, von dem Schauplatz dieser Erde zu verschwinden. Dieses alles vermochte sich Johannes nicht zu erklären. Darüber war er unzufrieden; daran ärgerte er sich. Und darum sandte er aus dem Gefängnis Boten zu Jesu mit der Frage: „Bist du der Kommende, oder sollen wir einen anderen erwarten?“ Diese Frage birgt keineswegs einen Zweifel bezüglich der göttlichen Sendung des Herrn in sich. O nein; davon war er überzeugt; denn sonst würde er nicht zu Ihm gesandt haben. Allein er glaubte dadurch den Herrn an den Zweck erinnern zu müssen, um dessentwillen Er in die Welt gekommen war. Es ist, als ob er hätte sagen wollen: „Ist das nun die Offenbarung des Königs der Ehren?“ – Aber welche Antwort gibt ihm der Herr auf seine Frage? Er weist Johannes auf seine Werke und fügt dann hinzu: „Glückselig ist jeder, der sich nicht an mir ärgern wird.“ Johannes hatte nicht begriffen, dass vor der Herrlichkeit die Leiden kommen sollten, und dass die Reinigung und Heilung Israels der Herrlichkeit der Regierung Christi vorangehen musste. Er hatte sich erfreut über die Erfüllung der alttestamentlichen Prophezeiungen in Betreff der Herrlichkeit des Königreiches; aber er hatte ebenso wenig, wie die Jünger Jesu, die Prophezeiungen beachtet, welche über die Leiden des Messias sprachen.
Johannes ärgerte sich also an dem Weg, den der Herr Jesus eingeschlagen hatte. Er begriff nicht, warum der Herr so viele Erniedrigung und Schande ertrug und wicht seine Herrlichkeit offenbarte. Verurteilen mir ihn nicht! Sicher, es war hart für Johannes, sein Leben im Gefängnis zubringen und endigen zu müssen, nachdem er einen Platz in dem herrlichen Königreiche Christi erwartet hatte. Und ach! wie oft befinden wir uns in einer ähnlichen Lage! Wie manchmal ärgern wir uns an dem Weg, den der Herr uns führt! Wie oft seufzen und klagen wir, wenn der Herr uns in schwierige Lagen kommen lässt, oder uns aufs Krankenlager legt, oder uns durch andere Leiden und Trübsale heimsucht! Der Herr führt uns oft ganz anders, als wir erwartet hatten. Anstatt uns Glück und Wohlsein finden zu lassen; bringt er uns manchmal in Kampf und Leiden. Anstatt unsere mühevolle Arbeit durch äußere günstige Erfolge gekrönt zu sehen, finden wir nicht selten Missgeschick und Unglück. Und anstatt uns dann dem Willen Gottes zu unterwerfen und in seiner liebreichen Fürsorge zu ruhen, zweifeln wir oft an seiner Liebe, wünschen es anders zu haben und ärgern uns an dem Weg, den der Herr uns führt. Und in einer solchen Gemütsstimmung sind dann auch wir geneigt, zu rufen: „Bist du der liebreiche und gnädige Heiland, der uns verheißen hat, für uns sorgen und unsere Gebete erhören zu wollen?“
Die Hand aufs Herz, geliebte Brüder! ist es nicht oft also bei uns? Und was tut dann der Herr? Er weist uns zunächst auf die Heilung unserer Herzen, bevor er uns aus unserer schwierigen Lage befreit. Der Herr wird sicher unsere Gebete erhören und unseren Trübsalen ein Ende machen; aber Er will uns zuvörderst durch die Trübsale reinigen und segnen und uns durch das nicht sofortige Erhören im Glauben üben. O möchten wir doch dieses verstehen lernen! Zu den Israeliten sagte Gott am Ende ihrer vierzigjährigen Wanderung durch die Wüste: „Alle diese Dinge sind geschehen, auf dass ich euch demütigte, auf dass ich euch zuletzt wohltat.“ – Und ebenso ist es mit uns. Die Wege, die der Herr uns führt, haben den Zweck, uns zu demütigen und zu offenbaren, was in unseren Herzen ist. Durch diese Wege werden die Grundsätze und Beweggründe unserer Herzen offenbar; und wir werden dahin geführt, dieselben vor Gott zu verurteilen. Dieses dient natürlich zu unserer Demütigung, zur Niedertretung unseres Hochmuts und unseres Eigenwillens; und das ist es eben, was Gott will. Er will uns immer mehr zur Selbsterkenntnis führen, damit wir nichts mehr von uns selber erwarten und uns allein seiner selbst und seiner Gnade rühmen. Die Endabsicht der Wege Gottes ist stets seine Verherrlichung und unser Glück. Darum: Glückselig ist jeder, der sich nicht an den Wegen Gottes ärgert, sondern sich kindlich dem Willen Gottes unterwirft.
Beachten wir es noch schließlich, mit welcher Schonung der Herr Jesus den Johannes behandelt. Weder die Volksmenge, noch die Boten Johannes vermochten den sanften Tadel zu begreifen, der in der Antwort des Herrn verborgen war; aber für Johannes waren diese Worte verständlich. Und kaum haben sich die Boten entfernt, so richtet der Herr die Frage an die Volksmenge: „Was seid ihr ausgegangen in die Wüste zu sehen? Ein Rohr vom Wind bewegt? Was aber seid ihr ausgegangen zu sehen? Einen Menschen mit weichen Kleidern bekleidet? Siehe! die da weiche Kleider tragen, sind in den Häusern der Könige. Was aber seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Propheten? Ja, ich sage euch, auch viel mehr als einen Propheten.“ – Und dann fügt der Herr hinzu, dass unter denen, die von Weibern geboren seien, kein Größerer aufgestanden sei, als Johannes der Täufer. Alles dieses tat der Herr, wiewohl dieser Johannes noch etliche Augenblicke vorher sich als ein vom Wind hin und her bewegtes Rohr erwiesen hatte. Welch eine Liebe! Welch eine Zartheit! Und behandelt uns der Herr nicht mit derselben Liebe; mit derselben Zärtlichkeit? O sicher. Wohl straft und tadelt Er; doch Er tut es stets mit derselben Sanftmut und Liebe; Er gibt nimmer harte Verweise. Er ist stets bemüht, unsere Herzen und Gewissen zu erreichen und uns durch die Macht seiner Liebe zu überwinden. Hochgepriesener Jesus! Lehre uns mehr und mehr dich und dein Herz erkennen, damit wir stets in dir ruhen und uns deiner Liebe erfreuen!