Botschafter des Heils in Christo 1869
Mephiboseth und die Barmherzigkeit Gottes
Vor vielen Jahren las ich eines Morgens im neunten Kapitel des zweiten Buches Samuels die Geschichte Mefi-Boschets, des lahmen Sohnes Jonathans. Zu Anfang fand ich eben nichts Besonderes, wodurch meine Aufmerksamkeit hätte gefesselt werden können; jedoch bei nochmaligem Lesen ruhte mein Auge auf den Worten Davids: „Ich will Barmherzigkeit an dir tun, um Jonathans, deines Vaters, willen“ (V 7). Plötzlich tauchte der Gedanke in meinem Herzen auf: „Ach! das ist ein schönes Bild von der Güte Gottes durch Jesus Christus.“ Es war mir, als eröffne sich meinen Blicken eine liebliche Landschaft beim Anbruch eines schönen Morgens. Viele Jahre sind seitdem verflossen; aber was ich damals fühlte und genoss, das hat sich tief in meinem Gemüt eingeprägt. Oft bin ich dahin geführt worden, diese liebliche Geschichte zum Gegenstand meiner Predigt zu machen; und viele Seelen sind dadurch zu Christus geführt worden. Und gerade dieses ermutigt mich, auch dem Leser dieser Schrift eine kurze Abhandlung über den oben erwähnten lehrreichen Teil des Wortes Gottes vorzulegen und zwar in dem Vertrauen, dass der Herr dieselbe zum Nutzen vieler Seelen segnen werde.
In diesem Gemälde der Barmherzigkeit Gottes entdecken wir zwei Charaktere. Wir sehen hier den Mephiboseth, das Kind der Gnade; und den Ziba, den Selbstgerechten Mann. Das Verhalten Mefi-Boschets stellt uns den Zustand eines zu Gott gebrachten Sünders in der deutlichsten Weise vor Augen. In 2. Samuel 4,4 lesen wir: „Auch hatte Jonathan, der Sohn Sauls, einen Sohn, der war lahm an den Füßen, und war fünf Jahre alt, da das Geschrei von Sau! und Jonathan aus Israel kam, und seine Amme ihn aufhob und floh; und indem sie eilte und floh, fiel er und ward hinkend; und er hieß Mefi-Boschet.“ Von dieser Zeit an wohnte der lahme Knabe in Lodabar, welches hebräische Wort einen Platz ohne Pflege bedeutet. Da er aus dem Haus Sauls, des Feindes Davids, war, so erblickte er jedenfalls auch in David seinen Feind und mied deshalb dessen Nähe.
Wie deutlich stellt uns dieses den Zustand des gefallenen Menschen vor Augen! Sobald die Sünde das Herz Adams verunreinigt hatte, „versteckte er sich mit seinem Weib, vor dem Angesicht Gottes, des Herrn, unter die Bäume im Garten“ (1. Mo 3,8). Und ist dieses nicht auch der Zustand des Sünders in unseren Tagen? Warum haschen heutzutage so viele Menschen nach den Vergnügungen und Zerstreuungen dieses Lebens? Sie kennen Gott nicht. Weil sie Feinde Gottes sind, erblicken sie auch in Ihm ihren Feind und meiden daher geflissentlich seine Gegenwart. Der Gedanke, eine Stunde in der Gegenwart Gottes wandeln zu müssen, würde ihnen schrecklich sein. Beunruhigt auch dich ein solcher Gedanke, mein Leser? Ach! dann kennst auch du Gott nicht. Vielleicht wirst du sagen: „Ich habe gesündigt; und darum fürchte ich mich vor Gott.“ Es ist wahr, du hast gesündigt, und ich habe gesündigt, und alle haben gesündigt. Aber wenn du wüsstest, dass Gott seines eigenen Sohnes nicht geschont hat, um Sünder zu retten, dann würdest du auch erkennen, dass Gott der Einzige ist, an welchen du, als Sünder, Dich wenden kannst und zwar in der völligen Gewissheit, dass „das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt von aller Sünde.“
Doch wenden wir unsere Blicke wieder auf das uns vorliegende Kapitel. „Der König sprach: Ist noch jemand vom Haus Sauls, dass ich Gottes Barmherzigkeit an ihm tue?“ (V 3) – Ist das nicht in der Gegenwart die Sprache und das Werk des Geistes Gottes? Ist nicht irgendjemand von den gefallenen Söhnen und Töchtern Adams in unserer Nähe, welchen wir hinführen könnten zu der Barmherzigkeit Gottes? Es ist nicht die Frage, ob und wie tief du gefallen, ob du durchaus lahm, lahm an beiden Füßen bist und dich in einem Haus ohne Pflege befindest. Du bist ein armer, verlorener Sünder; und ob du dich auch vor Gott zu verbergen suchst, so wirft du doch in dieser Welt der Sünde und des Elends nichts finden, was dich glücklich machen kann. Bist du gefolgt den Einflüsterungen Satans, oder hast du dein Vertrauen gesetzt auf die Reize und Schätze dieser Welt, bis dein armes Herz unter den bittersten Täuschungen zusammengebrochen und nur eine traurige Leere zurückgeblieben ist? Nun dann lausche; und ich werde dir von jemandem erzählen, der alle deine Bedürfnisse befriedigen kann und will.
Ziba, der selbstgerechte Mann, belehrte den König, dass Jonathan nur noch einen Sohn habe, welcher lahm sei und in Lodabar im Haus Machiers, des Sohnes Ammiels, wohne. „Da sandte der König David hin und ließ ihn holen“ (V 5). Welch eine herrliche Sache ist dieses Holenlassen! Ebenso handelt Gott in völliger Gnade. Die Menschen erzeigen nur denen Güte und Barmherzigkeit, welche es nach ihrer Meinung verdienen. Oder sie erwarten, dass ihre Güte in irgendeiner Weise erwidert werde. So handelt Gott nicht. Mefi–Boschet hatte nichts getan, wodurch er die Barmherzigkeit des Königs verdient hätte. Er hatte auch nicht einmal den ersten Schritt zu tun. Nein; die Gnade ließ ihn von Lodabar, dem Ort, wo er sich befand, abholen. Und ist nicht auch der Herr Jesus zu den armen Sündern, d. h. dahin gekommen, wo sie sich befanden? Er kam um sie abzuholen und Er fand sie tot in den Vergehungen und in den Sünden. Er nahm ihren Platz ein, und starb auf dem Kreuz für sie, der Gerechte für die Ungerechten, auf dass Er sie zu Gott führe. Nur in der Gesinnung eines Pharisäers kann jemand sagen: „Der Mensch muss den ersten Schritt tun.“
Mefi–Boschet war zu lahm, als dass er den ersten Schritt hätte tun können. Er muss notwendig geholt werden. Und Er, welcher die gänzliche Ohnmacht und die frei suchende Gnade kannte, hat gesagt: „Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, dass der Vater ihn ziehe, der mich gesandt hat; und ich werde ihn auferwecken am letzten Tage“ (Joh 6,44). Und wiederum: „Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen; und wer zu mir kommt, werde ich nicht hinauswerfen“ (Joh 6,37). Ach! wären wir der frei wirkenden Gnade nicht begegnet, so würden wir in unserem armseligen Streben, uns vor Gott zu verbergen, alle umgekommen sein. „Da nun Mefi–Boschet zu David kam, fiel er auf sein Angesicht“ (V 6). Welch ein Bild des Schreckens und der Furcht! Was hatte er, der Sohn Sauls, des Mannes, welcher stets nach dem Leben Davids getrachtet hatte, zu erwarten? Konnte nicht im nächsten Augenblicke die Stimme der unerbittlichen Gerechtigkeit sein Leben fordern? Dort am Boden liegt er und liefert uns in dieser Stellung das treue Bild eines mit Sünde und Schuld beladenen und in die Gegenwart Gottes gebrachten Sünders, welcher Gott nicht kennt und darum nicht weiß, was seiner harrt.
Bevor wir jedoch die Worte Davids in unser Ohr dringen lassen, wollen wir uns des Bundes erinnern, den die Liebe zwischen David und Jonathan errichtet hatte. In 1. Samuel 20,14–17 lesen wir, nachdem Jonathan sich bereit erklärt hatte, die Absichten seines Vaters Saul gegen David auszukundschaften, die Worte: „Tue ich es nicht, so tue keine Barmherzigkeit des Herrn an mir, während ich lebe, auch nicht, so ich sterbe. Und wenn der Herr die Feinde Davids ausrotten wird, einen jeglichen aus dem Land, so reiße du deine Barmherzigkeit nicht von meinem Haus ewiglich. Also machte Jonathan einen Bund mit dem Haus David ... und Jonathan fuhr fort und schwur David, so liebhatte er ihn; denn er liebte ihn so sehr, wie seine eigene Seele.“
Bist du in deinem Leben nicht einmal dem Kind eines dir teuren aber verstorbenen Freundes begegnet? Nun, dann wirst du dir vielleicht eine schwache Vorstellung von dem machen können, was in dem Herzen Davids vorging, als er Mefi–Boschet, den Sohn Jonathans, zu seinen Füßen liegen sah. Gewiss drang es wie ein lieblicher Klang aus seinem Herzen, als er rief: „Mefi–Boschet!“ worauf die zitternde Antwort folgte: „Hier bin ich, dein Knecht!“ (V 6) Wie wenig wird der arme Lahme an die unbedingte Gnade, womit er überschüttet werden sollte, gedacht haben! „Hier bin ich, dein Knecht!“ Das ist der höchste Gedanke eines gefallenen Menschen. Er wagt es, sich als Knecht anzubieten und hofft auf diesem Weg Rettung zu finden. Das ist die Religion jedes menschlichen Herzens.
Aber jetzt wollen wir auf die Worte Davids horchen. Wie der Vater in dem Gleichnis des verlorenen Sohnes, so unterbricht auch hier David den Unglücklichen mit den Worten: „Fürchte dich nicht, denn ich will Barmherzigkeit an dir tun um Jonathans, deines Vaters, willen, und will dir alle Äcker deines Vaters Saul wiedergeben; du aber sollst täglich an meinem Tisch das Brot essen“ (V 7). David handelt hier, wie Gott gegen einen Sünder handelt. Keine Bedingungen werden gestellt. Es heißt nicht: „Wenn du dieses tust“, oder: „Wenn du dieses nicht tust.“ O nein; es ist alles freie, unbeschränkte Gnade; es ist die Barmherzigkeit Gottes. „Ich will Barmherzigkeit an dir tun“, – und zwar ganz und gar um eines anderen willen. „Und du sollst täglich an meinem Tisch das Brot essen.“ Finden wir nicht dasselbe in dem oben erwähnten Gleichnis, wo der Herr Jesus die unbekannte, unbegrenzte Liebe und Gnade des Vaterherzens zu offenbaren suchte? Gab es dort irgendeinen Tadel? Gab es dort irgendeine Bedingung? Nein; „er fiel ihm um seinen Hals und küsste ihn viel“ (Lk 15). Ist das nicht die Barmherzigkeit Gottes? Hat nicht der Herr Jesus in dieser Weise den wahren Charakter Gottes gezeichnet? Empfängt Er nicht also den armen, verlorenen Sünder? Sind es nicht seine Worte, die Er dem armseligen, zitternden, verdammungswürdigen Sünder zuruft? Gott sei gepriesen, dass wir alle diese Fragen mit einem kräftigen „Ja“ beantworten können. Ja, Gott kann auf das Kreuz Christi hinweisen und sagen: „Fürchte dich nicht; denn ich will Barmherzigkeit an dir tun, um Jesu willen.“ Und dieses alles ohne irgendeine Bedingung. Alles aus Gnaden, hervorströmend aus der unendlichen Liebe Gottes.
Geliebter Leser! Hast du Gott also kennen gelernt? „Gott aber, weil Er reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot waren, hat uns mit dem Christus lebendig gemacht, (durch die Gnade seid ihr errettet) und hat uns mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus, damit Er erwiese in den kommenden Zeitaltern den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade in Güte gegen uns in Christus Jesus“ (Eph 2,4–7). Kannst du sagen, dass dieses dein Teil ist? – Der Mensch würde sicher dem lahmen Jüngling allerlei Verhaltensmaßregeln und Ratschläge erteilt haben, wie er seine Füße zu heilen und wer weiß was alles zu seinem Glück zu tun habe. Allein hier finden wir nichts dieser Art. Nein, er kommt, wie er ist; und weiter wird nichts verlangt. Von welcher Seite sollten auch Anforderungen an ihn gestellt werden, da das Herz des Königs bereits mit Liebe gegen ihn erfüllt war? Es ist das stete Werk Satans, dass er die Barmherzigkeit Gottes vor dem Auge des Sünders zu verbergen sucht. Man mache den Sünder mit Gott bekannt, und er erkennt sogleich, dass er keines Priesters auf Erden und keines Heiligen im Himmel bedarf, um das Herz Gottes zu seinen Gunsten zu erweichen. – In der Tat, dieses Herz ist mit einer unaussprechlichen Liebe erfüllt. Hast du, geliebter Leser, die Sündenbürde gefühlt? Haben dich die Menschen mit ihren Ratschlägen versehen, wie du Buße tun und das Herz Gottes erweichen musst, um Ihn für deine Rettung bereit zu machen? Vielleicht hat dir der eine, im Gegensatz zu den Worten, welche wir in Kolosser 2,20 lesen, mit großem Ernst den Rat erteilt, Dich der Sakramente und anderer kirchlichen Vorschriften zu bedienen und dann zu hoffen, gerettet zu sein, während ein anderer dir vorschreibt, dass du über deine Sünden eine tiefe Trauer fühlen, und dass du alles aufgeben und Gott von ganzem Herzen lieben musst, um auf diesen: Wege zu Christus zu kommen. Ach, wie töricht! Der Grund ist, dass man dich gern überreden möchte, Dich nicht als einen gänzlich gefallenen Menschen zu betrachten; und dass du bloß an einem Fuß lahm seist und nur nötig hast, aus Christus eine Krücke zu machen, um in den Himmel zu kommen. Bei all diesem tritt die menschliche Eigengerechtigkeit in den Vordergrund.
Bist du, mein geliebter Leser, durch solche Einflüsterungen der Menschen in Verwirrung und Verlegenheit gebracht, so verschließe dein Ohr vor ihnen. Wende dich zu Gott, wie Er sich in Christus Jesus offenbart hat. Vielleicht sagst du in der Unruhe deines Herzens, dass du Furcht hast, auf diese Weise deine Buße zu vernachlässigen. O nein; wende dich zu Gott; in seinem Licht wirst du deinen trostlosen Zustand, sowie die Notwendigkeit einer freien und unumschränkten Gnade erkennen. Kaum hatte der Strom der bedingungslosen Gnade das Zitternde Herz Mefi–Boschets erreicht, so öffnen sich seine Lippen zu den Worten: „Wer bin ich, dein Knecht, dass du dich wendest zu einem toten Hund, wie ich bin?“ (V 8) Ja wahrlich, die Güte Gottes leitet zur Buße. Der Sünder ist gebracht in die Gegenwart der unendlichen Gnade; aber auch in die Gegenwart der unendlichen Heiligkeit. Der wahre Charakter Gottes ist ihm in Christus Jesus offenbart worden. Er vernimmt die süßen Worte der göttlichen Liebe: „Fürchte dich nicht; denn ich will Barmherzigkeit an dir tun;“ und die Wirkung ist, dass er sich in dem Gefühl dieser überwältigenden Gnade in den Staub beugt. Das ist jene Herzensänderung, welche man Buße nennt. Darf ich dir, geliebter Leser, nun sagen, dass du Buße tun müssest, bevor du zu Jesu kommst? O nein; denn es würde dasselbe sein, als ob ich dir, wenn du in Gefahr wärst zu erfrieren, sagen wollte. Du müssest dich erwärmen, bevor du dich dem Feuer genaht hast.
Im Grunde ist das, was man im Allgemeinen als Buße bezeichnet, nichts als eine Selbstbesserung, wodurch man Gott, als ob Er ein erzürntes Wesen sei, zu erweichen gedenkt, als ob es von unserer Seite guter Werke bedürfe, um den Gedanken Gottes in Bezug auf uns eine andere Richtung zu geben. Waren solche Mittel nötig, um das Herz Davids zu verändern? Nein, seilt Herz war mit Liebe erfüllt. Wie könnte nun irgendetwas nötig sein, um das Herz Gottes zu verändern? Was ist das Kreuz anders, als der höchste Ausdruck der Liebe Gottes für verlorene Sünder? Wenn du nun, geliebter Leser, die Barmherzigkeit Gottes gegen dich erkanntest, wenn du wüsstest, dass dich nichts zu scheiden vermöchte von der Liebe, die in Christus Jesus ist, – würde das nicht augenblicklich eine gänzliche Veränderung in deinem Herzen hervorrufen? Gewiss; und je mehr du eingingst in die Fülle dieser unendlichen Liebe, desto mehr würdest du dich in den Staub beugen. Das, was du, als der Rettung vorhergehend, vergeblich in dir hervorzurufen versucht hast, wird gewirkt sein in demselben Augenblicke, wo du an die wunderbare Lieds Gottes glaubst.
Und jetzt lasst uns einen Blick richten auf den Gegensatz zwischen Ziba, dem Knecht, und Mefi–Boschet, dem Sohn. David ruft Ziba zu sich und erteilt ihm seine Befehle, die zu beobachten er für angemessen findet. Ziba sagt: „Alles, wie mein Herr, der König, seinem Knecht geboten hat, soll dein Knecht tun“ (V 11). Es ist dieselbe Sprache, die Israel am Fuß des Berges Sinai törichter Weise führte; und ach! Tausende in unseren Tagen fassen solch gute Vorsätze, weil sie sich selbst nicht kennen; und ich fürchte, dass selbst der eine oder der andere Leser dieser Zeilen die Religion des Knechtes, statt der Religion des Sohnes zu der seinigen gemacht haben könnte.
Wie verschieden sind die an den Sohn gerichteten Worte Davids! Sie sind der Ausdruck einer vollkommen freien Gnade. „Ich habe gegeben“ ... „Mephiboseth soll täglich essen das Brot an meinem Tisch“ ... „Mefi–Boschet esse an meinem Tisch, wie des Königs Kinder eins“ (V 9–11). „Und Mefi–Boschet wohnte zu Jerusalem; denn er aß täglich an des Königs Tische und hinkte mit seinen beiden Füßen“ (V 13). Nicht ein Wort von Gnade wird an den Knecht gerichtet, und nicht ein einziger Befehl trifft das Ohr des Sohnes. Das eine ist der Dienst der gesetzlichen Knechtschaft, das andere der Dienst der tiefsten Zuneigung des Herzens.
Wie herrlich ist dein Teil, du Kind der Gnade! Gott hat dir das ewige Leben gegeben. Du bist nicht ein Knecht, sondern ein königlicher Sohn an der Tafel deines Herrn. Du bedarfst nicht irgendeines Sakraments, um gerettet zu werden, sondern du sitzest stets an dem Tisch des Herrn und isst jenes Brot und trinkst jenes Blut, welches dich erinnert an den gebrochenen Leib und an das vergossene Blut Christi, welchem du deine Rettung verdankst. Ja, Gott hat dir das Brot des Lebens gegeben, von welchem du dich stets ernähren sollst. Und warum findest du die beständige Nahrung in Jesu? Weil Gott es also gewollt hat. Er hat es gesagt; und Er wird es tun. Neun du ein Gläubiger bist, so kann deine Stellung unmöglich die eines Knechtes sein. „So viele Ihn annahmen. Denen gab Er das Recht, Kinder Gottes zu werden. Denen, die an seinen Namen glauben“ (Joh 1,12). „Wenn aber Kinder, so auch Erben – Erben Gottes und Miterben Christi“ (Röm 8,17).
Wie unendlich wichtig ist es, diese Verwandtschaft zu verstehen. Es ist nötig, den Unterschied zwischen dem Verhältnis eines Knechtes und dem eines Sohnes zu erkennen. Der Sohn gehört immer ins Haus; nicht so der Knecht. So führte die Gnade den armen Mefi–Boschet aus dem Verbergungsort der Furcht und der Feindschaft und gab ihm alle die Vorrechte der Sohnschaft, und zwar ohne irgendeine Bedingung. Wir haben die Wirkung davon gesehen; es war ein völliges Niederbeugen in den Staub und ein gänzlicher Wechsel des Herzens; ja, wir werden finden, dass dieses Herz für immer für David gewonnen ist.
„Aber“ – könnte vielleicht jemand einwenden – „wenn es auch wahr ist, dass Mefi–Boschet ein armer, lahmer Krüppel war, bevor er zu David gebracht und zu einem Königssohn gemacht wurde, so konnte er sich doch unmöglich des Vorrechts, ein Gast an königlicher Tafel zu sein, erstellen, solange er noch ein Krüppel war.“ – Und in der Tat gibt es nicht wenige, welche zwar einräumen, dass nur die Gnade einen armen, verlorenen Sünder zu Christus zu führen vermag, welche sich aber nichtsdestoweniger einbilden, dass das Ausharren desselben auf diesem Weg, sowie die endliche Erlösung abhängig sei von seinem eigenen Wandel und Gehorsam. Aber welch ein Irrtum! Wenn dieses wahr wäre, ach! wer würde dann das Ziel erreichen? Jeder Gläubige, der sein eigenes Herz kennt, wird sagen müssen: „Ich werde es nicht erreichen.“ Denn wenn meine schließliche Erlösung oder mein Eingang in den Himmel auch nur eine Stunde von mir abhängen würde, dann darf ich mir keine Hoffnung machen. Oder willst du es wagen, mein geliebter Leser? Was aber entdecken wir hier in dem von Gott gemalten Bilde der Barmherzigkeit Gottes? Wir lesen: „Er aß täglich an des Königs Tisch und hinkte mit seinen beiden Füßen.“ Kostbare Gnade! Wie kommt's, dass ich hier sicher walle? – Weil deine Gnad', o Gott, mich schützt. Wie kommt's, dass ich im Kampf nicht falle? –
Weil deine Lieb mich schirmt und stützt. Der Gläubige ist oft nicht wenig verlegen, wenn er sieht, dass in Stunden der Versuchung, wenn es sich um seine eigene Kraft handelt, er jetzt ebenso schwach ist, wie vorher. Und sollte er für einen Augenblick seine Stellung in Gnade als Sohn aus dem Auge verlieren und als Knecht zu wandeln versuchen, so wird er sich bald durch seinen lahmen Fuß gehindert sehen, so dass ihm, als dem Knecht unter Gesetz, der Gott nicht gefallen kann, nichts als Trauer und Verzweiflung übrigbleibt. Hast du diese Erfahrung schon auf deinem Weg gemacht, mein lieber Leser? Und Haft du nicht schon, hinschauend auf deinen gelähmten Gang, sagen müssen: „Ach! sollte ich auch wohl ein Kind Gottes sein?“ Aber sicher wirst du nimmer beim Anschauen deines lahmen Fußes Frieden finden. Nein, stecke deine Füße unter den Tisch und blicke auf das, was Gott in seiner unendlichen Gnade auf diesem Tisch für dich ausgebreitet hat. Er stellt Christus vor uns, damit wir uns mit Ihm beschäftigen sollen. Alles, was wir in unserem armseligen, kläglichen, lahmen und armen Ich besitzen, hat am Kreuz sein Gericht und seinen Tod gefunden. Selbst Gott betrachtet unser Ich als gestorben und begraben; Er sieht uns als auferstanden mit Christus und als in Ihm in die himmlischen Örter versetzt.
Ja in der Tat, der Gläubige ist in sich selbst nach seiner Bekehrung ebenso lahm, als vorher. Freilich besitzt er ein neues Leben, eine neue Natur, die er früher nicht besaß; auch wohnt der Heilige Geist in ihm. Aber seine alte Natur, Fleisch genannt, ist unverändert geblieben. Was ist also zu tun? Er soll in keinem Fall sein Vertrauen auf das Fleisch setzen; aber er soll sich festklammern an die Gnade, die ihn zu Christus geführt hat, und die ihn auf ewig bewahren wird. Setzen wir daher unsere Füße unter die reichbesetzte Tafel des Herrn, und laben wir uns an den Reichtümern der vor uns ausgebreiteten Gnade. Wenn wir nichts mehr von uns selbst abhängig machen, wenn wir, den gänzlichen Ruin des alten Menschen anerkennend, alle Gelübde und guten Vorsätze bei Seite setzen, dann folgt jene ruhige Abhängigkeit von Christus, in welcher wir die Kraft seiner Auferstehung in einem heiligen Leben zu verwirklichen beginnen. Doch das eigengerechte Fleisch wird sich zum Kampf rüsten, bevor es sich in den Tod begibt (Röm 7).
Im folgenden Kapitel (2. Sam 10) sehen wir ebenfalls die Barmherzigkeit Gottes angeboten, aber verworfen, sowie das Gericht derer, welche dieselbe verwarfen. Wie belehrend ist diese Tatsache! Die Barmherzigkeit Gottes ist einer schuldigen Welt angeboten worden. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingeborenen Sohn gegeben, auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren sei, sondern das ewige Leben habe“ (Joh 3). Welch eine Wunderbare Gnade! Aber man horche auf die ernsten, feierlichen Worte: „Jeder, der nicht glaubt, wird verdammt werden.“ Sollte einer meiner Leser zu denen gehören, welche die Barmherzigkeit Gottes in der Gabe seines Sohnes verwerfen; – o möge er an die ewige Verdammnis denken!
Ich möchte nun noch kurz die Geschichte jener beiden Männer verfolgen, die uns, sowohl in Betreff derer, welche Gnade und Errettung in Gott gefunden haben, als auch derer, die durch das Halten seiner Gebote gerettet zu werden suchen, gleichsam als Vorbilder gedient haben.
In 2. Samuel 15 wird uns die Empörung Absaloms mitgeteilt. David, der wahre König, ist verworfen; und es ist bemerkenswert, dass er, nachdem er Jerusalem verlassen hat, denselben Bach überschreitet, den auch der verworfene Jesus nachher überschritt. „Und das ganze Land weinte mit lauter Stimme; und alles Volk ging mit. Und der König ging über den Bach Kidron“ (V 23). Als der Herr Jesus diesen Bach in der Nacht seiner Verwerfung überschritt, waren nur jene wenigen Begleiter bei Ihm, die nicht einmal eine Stunde mit Ihm wachen konnten. „David aber ging den Ölberg hinan und weinte“ (V 30). zu diesem Berg leitete Jesus seine Jünger, als Er, durch diese Welt getötet und durch Gott von den Toten auferweckt, gen Himmel fuhr – verworfen von der Welt, aber aufgenommen in der Herrlichkeit.
Jetzt, nachdem David also verworfen und zum Ölberg hinaufgestiegen ist, tritt der Charakter Zibas, des Knechtes, wieder auf den Schauplatz (Man lese 2. Sam 16,1–4). das Erste, was hier unser Auge entdeckt, ist die Darstellung des dem König gewidmeten Dienstes; – ein Paar Esel sind mit Brot, Früchten und Wein beladen. „Was willst du damit machen?“ und: „Wo ist der Sohn deines Herrn?“ Das sind die an Ziba gerichteten Fragen Davids. Ziba teilt ihm mit, dass Mefi–Boschet zu Jerusalem geblieben sei in der Absicht, das Königreich an sich zu reißen. Wirklich, Ziba, der selbstgerechte Mann, scheint die beste Religion von der Welt zu haben. Aber der Schein trügt. Gott kennt die verborgenen Ratschläge aller Herzen. Dem äußeren Anschein nach zu urteilen, verriet Ziba großen Eifer und große Ergebenheit; und auch die Form seiner Anbetung war tadellos; aber dennoch war alles Heuchelei. Es kam der Tag der Rückkehr des verworfenen Königs, und Mefi–Boschet eilte ihm entgegen und die Untreue Zibas ward offenbar (Kap 19,24–30). Und ebenso wird der Tag der Rückkehr des verworfenen Jesus bald anbrechen; und jedes Kind der Gnade, mag es im Grab ruhen oder noch am Leben sein, wird bei seiner Ankunft Ihm entgegengehen in der Luft (1. Thes 4,15–18).
So ist also der wahre Charakter beider Männer ins Licht getreten. Mefi–Boschet hatte „seine Füße und seinen Bart nicht gereinigt und seine Kleider nicht gewaschen von dem Tag an, da der König weggegangen war, bis an den Tag, da er im Frieden heimkehrte“ (Kap 19,24). Die Barmherzigkeit Davids hatte sein Herz gewonnen. Dieses Herz war mit Liebe und Zuneigung für den verworfenen König erfüllt; und seine Zuneigung war so tief und so stark, dass sie ihm nicht einen anderen Platz einzunehmen erlaubte, als den eines betrübten Leidtragenden, der der Rückkehr dessen entgegenharrte, dem er mit so großer Liebe anhing.
Und setzte nicht auch der Herr Jesus in der Nacht seiner Verwerfung eine solche Zuneigung bei seinen Jüngern voraus? „Noch um ein kleines, und ihr schaut mich nicht; und wieder um ein kleines, und ihr werdet mich sehen? Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, dass ihr weinen und wehklagen werdet, die Welt aber wird frohlocken; ihr werdet traurig sein, aber eure Traurigkeit wird zur Freude werden“ (Joh 16,20). Ach! wie wenig haben wir dem Herzen unseres verworfenen Herrn entsprochen! Ich kann es nur als eine Geringschätzung Christi betrachten, wenn wir einen anderen Platz einnehmen als den, welchen Mefi–Boschet einnahm – den Platz eines betrübten Leidtragenden, harrend auf die Wiederkehr dessen, den wir lieben.
Und wessen waren die Früchte, die Brote und der Wein? „Warum bist du nicht mit mir gezogen, Mefi–Boschet?“ fragt der zurückkehrende König; und die Antwort des lahmen Jünglings stellt die ganze Wahrheit ins Licht. Gerade er und nicht Ziba war es, der die Esel mit diesen Früchten beladen hatte, während Ziba dem armen Lahmen zuvorgekommen war, sich in den Sattel geworfen und, ihn fälschlich anklagend, seine Heuchelei ausgeübt hatte. Wie tief aber ist die Wirkung der Gnade? Mefi–Boschet sagt: „Tue, was dir wohl gefällt; denn alle meines Vaters Haus ist nichts gewesen, denn Leute des Todes vor meinem Herrn Könige, so hast du deinen Knecht gesetzt unter die, so an deinem Tisch essen“ (Kap 19,27–28). Wie lieblich ist das Vertrauen, welches die Gnade verleiht! Hast du, mein Leser, die völlige Gewissheit, dass Gott dir, aus reiner Gnade, einen Platz an seinem Tisch angewiesen hat? Und darfst du dann nicht mit einer ungetrübten Freude der Ankunft Jesu entgegensehen?
„Und der König sprach: Was redest du noch weiter von diesen Dingen? Ich habe es gesagt: du und Ziba teilt den Acker mit einander“ (V 29). Und wie rührend ist die Antwort Mefi–Boschets! „Er nehme es auch gar dahin, nachdem mein Herr König im Frieden heimgekommen ist“ (V 30). Es war nicht der Acker, nach dem er verlangte; nein, sein höchster Wunsch war erfüllt. Er befand sich in Gegenwart dessen, der ihm eine so große Barmherzigkeit erwiesen hatte. Und das war ihm genug.
Und ist es nicht ebenso, wenn Christus durch die Gnade wirklich ein Herz gewonnen hat? Ein solches Herz wird nicht durch die Dinge der Erde angezogen. „Ja, wahrlich“, sagt der Apostel, „ich halte auch alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn“ (Phil 3,8). O möchten wir doch mehr dem lahmen Mefi–Boschet, mehr den Thessalonichern gleichen, „erwartend den Sohn Gottes aus den Himmeln“ (1. Thes 1,10). Mefi–Boschet hatte die Barmherzigkeit Davids in dem vollsten Vertrauen angenommen. Trotz seiner eigenen Verkuppelung hatte er nimmer an der Liebe Davids gezweifelt, sondern hatte geduldig der Rückkehr des Königs entgegen geharrt und bis zu dieser Zeit jede Schmach ertragen. Auch die Thessalonicher hatten die frohe Botschaft der Gnade Gottes in Kraft und in dem Heiligen Geist und in großer Gewissheit empfangen; (1. Thes 1,5) und darum ertrugen sie in Geduld und in Freude die Misshandlungen ihrer Feinde. Und welches war die geheime Kraft dieses Verhaltens? Sie erwarteten Jesus aus den Himmeln. Die wirklichen Kinder Gottes sind stets gehasst und verunglimpft, ja oft gar an den Schandpfählen verbrannt worden, und zwar durch die, welche ihrer Errettung wegen das Gesetz zu halten sich rühmen.
Aber welch ein Tag wird bald anbrechen? Wer kann bestimmen, wie bald Er erscheinen wird, den wir erwarten? Seine letzten Worte waren: „Siehe, ich komme bald, Amen.“ Möchte die Antwort unseres Herzens stets sein: „Ja, komm, Herr Jesu!“ David kehrte zurück; sollte Er nicht zurückkehren, den David seinen Herrn nennt? Ja, unsere Augen werden Ihn bald schauen. O herrliche, gesegnete Hoffnung! Wir erwarten nicht ein tausendjähriges Reich, nicht die Erfüllung der Prophezeiung, wie gesegnet diese Erscheinung an ihrem Platz auch sein mag. Es ist Jesus selbst, den die in seinem Blut gewaschenen Gläubigen zu sehen begehren.
Der Gegenstand unserer Betrachtung dehnt sich aus bis zum 21. Kapitel des 2. Buches Samuels, wo wir den Tag des Gerichts über das Haus Sauls hereinbrechen sehen. „Aber der König verschonte Mefi–Boschet, des Sohnes Jonathans, des Sohnes Sauls, um des Eides willen des Herrn, der zwischen ihnen war, nämlich zwischen David und Jonathan, dem Sohn Sauls“ (V 7). Hiermit endet die Geschichte dieses Gnadenkindes. Und sicher, wenn der Herr Jesus zurückgekehrt sein und sein Königreich aufgerichtet haben wird – wenn die Kirche sich längst der himmlischen Herrlichkeit Christi und Israel sich der Herrlichkeit des Königreichs auf Erden hat erfreuen dürfen, ja, selbst wenn der große weiße Thron wird aufgerichtet sein und alle gefallenen Söhne Adams vor demselben erscheinen werden, dann wird keiner von denen, welche in den Ratschlüssen der Ewigkeit zu der Familie der Gnade gezählt sind, verloren sein. Aber wo werden die sorglosen Sünder und jene sein, welche in guten Werken ihre Rettung suchten? Zeige mir einen Mann, welcher ein Beobachter des Gesetzes zu sein bekennt, der nicht Zugleich ein Übertreter des Gesetzes ist. Kannst du, mein Leser, und kann ich vor diesem Thron stehen auf Grund unserer Werke? Unmöglich. Sicher, der Mensch, welcher besser zu sein glaubt als sein Nachbar, muss ein Heuchler sein; denn Gott sagt, dass kein Unterschied da sei. Alle haben gesündigt. Nein, nein; nicht durch Werke kann ein Sünder errettet werden. Neun du jemanden findest, der nicht ein Sünder ist, der mag es versuchen. Aber ein Sünder bedarf der Vergebung. „Und ohne Blutvergießen ist keine Vergebung“ (Heb 9,22). Der Herr Jesus aber hat den Zorn, den Fluch, das Gericht erduldet und die Sündenschuld bezahlt; und eine ungehemmte Barmherzigkeit und ein ewiger Friede sind jetzt das Teil jeder Seele, welche in Ihm ruht. Blicke auf das Kreuz, mein Leser, und horche. Gott ruft dir zu: „Ich will Barmherzigkeit an dir erweisen.“
Aber werden denn keine Werke als Vergeltung erwartet? O sicher, wahre, aus dem Herzen hervorströmende Werke des Dienstes – die Früchte des rettenden Glaubens. Wie viele Werke, die vor den Menschen den Schein guter Werke an sich tragen, haben keinen Wert im Angesicht Gottes! Die Menschen beladen sich selbst mit schweren Bürden eigengerechter Werke; und dennoch sind dieselben nichts anders als eine entschiedene Verwerfung der unverdienten Barmherzigkeit Gottes?
Je tiefer die Gewissheit der unwandelbaren Barmherzigkeit ist, die Gott dir, dem wertlosen Sünder, erwiesen hat, desto tiefer wird auch dein Hass wider die Sünde, desto vollkommener dein dem Herrn gewidmeter Dienst und desto ernstlicher dein Warten auf die Wiederkunft Christi sein.