Botschafter des Heils in Christo 1868
Das Kreuz
Das Kreuz vernichtet das eigene Ich. Wie wenig verwirklichen wir dieses in unserem tagtäglichen Leben! Im Hinblick auf den Wandel Jesu lernen wir, in welch geringem Maß die Kraft des Kreuzes zur Verleugnung unserer selbst noch erkannt wird.
In Jesus sehen wir einen Menschen, der eine vollkommene Gerechtigkeit besaß, einen Menschen, in welchem die „ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnte“. Und dennoch, welch einen Weg ging Jesus! Seine unendliche Liebe zeigte sich nicht allein darin, das Er „nicht seine eigene Ehre suchte“, und dass „Er es nicht für einen Raub hielt, Gott gleich zu sein und sich selbst zu Nichts machte“, (Phil 2) um den Platz einnehmen zu können, in den unser Ungehorsam uns gebracht hatte, sondern auch darin, dass Er in diesem Platz ein völliges Verkennen und Verwerfen dieser Liebe ertrug, um sie umso glänzender hervorstrahlen zu lassen.
Wie ganz anders ist dagegen unsere Natur! Wenn wir jemandem liebe erweisen, dann erwarten wir eine Wertschätzung derselben; finden wir aber selbst nicht ein Wort der Anerkennung, dann erkalten unsere Herzen und wir erschlaffen in der Ausübung dieser Liebe. Haben wir uns mit Teilnahme mit anderen beschäftigt, dann werden wir auch die Wahrheit der Worte des Paulus erfahren haben: „Wenn ich auch, je reichlicher ich euch liebe, umso weniger geliebt werde“ (2. Kor 12,15). Gewiss werden wir schon erfahren haben, dass unsere Erniedrigung im Dienst anderer oft nichts anders zur Folge hat, als dass man uns noch weniger achtet. – So geschah es mit Jesu. Er, der voll Langmut und Liebe war, wurde der Macht und der List des Satans überliefert. Und was fand Er in uns, während Er beschäftigt war. Sein Liebeswerk auszuführen? Ach! der Mensch bediente sich gerade dieser Erniedrigung, um Ihn mit der größten Geringschätzung zu behandeln. Er war der „Hohn der Menschen, der Verachtete des Volkes“. Man umzingelte Ihn von allen Seiten. „Hunde haben mich umgeben; die Versammlung derer, die Böses tun, hat mich umzingelt, durchbohrend meine Hände und Füße. – Viele Stiere haben mich umgeben, gewaltige Basans mich umringt; sie haben wider mich aufgesperrt ihr Maul, gleich einem reißenden, brüllenden Löwen“ (Ps 22). „Ich habe auf Mitleiden gewartet, aber da war keins; und auf Tröster, aber ich habe sie nicht gefunden“ (Ps 69). „Ja, der Mann meines Friedens, auf den ich traute, der mein Brot aß, hat die Ferse wider mich erhoben“ (Ps 41). selbst der Jünger, der sich am Meisten in den Vordergrund drängte, um seine Anhänglichkeit an Jesu zu bezeugen, indem er sagte: „Und wenn sich alle an dir ärgern, so werde ich mich niemals ärgern“, verleugnete Ihn mit Flüchen und Schwüren.
Jesus fand am Kreuz kein einziges Herz, dem Er seine Traurigkeit mitteilen konnte; Er fand nicht den mindesten Trost bei den Menschen. Das macht uns die Worte verständlich: „Du aber, o Jehova, sei nicht ferne!“ (Ps 22,19) Gott verbarg sein Angesicht vor Ihm. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – In dieser Stunde war alles finster für Jesus; in dieser Stunde fühlte Er den Zorn Gottes in seiner ganzen Tragweite und Schrecklichkeit. Um Ihn her wütete der Hass der Menschen; über Ihm herrschte dichte Finsternis; Mitleiden fand Er nirgends; alles verließ Ihn – nur nicht die Kraft der Liebe. „Ich versinke in tiefem Schlamm und kein Grund ist da; in die Wasserfluchen bin ich gekommen und die Flut überströmt mich“ (Ps 69). Die Wogen überströmten Ihn; alles war von den Gewässern überdeckt, alles – ausgenommen die Liebe. Die Liebe gab Ihm Kraft. Die Liebe war stärker als alles. Und wir, geliebte Brüder, sind die Gegenstände dieser Liebe.
Ein Blick auf das, was Jesus in seiner Erniedrigung war, lässt uns die Tiefe seiner Liebe fühlen; und wohl uns! – es wird dieses unser ewiges Teil sein. Als Er auf Erden war, so konnte Er, wie verachtet Er auch war, dennoch seine Macht nicht verleugnen. Er heilte Krankheiten, weckte Tote auf und stillte den Sturm und die Wellen. Aber am Kreuz finden wir nicht eine einzige Offenbarung dieser Macht; dort geschah kein Wunder; dort zeigte sich nur Niedrigkeit und Schwachheit. „Er ist in Schwachheit gekreuzigt“ (2. Kor 13,4). Unterdrückt durch die Menschen, verfolgt vom Satan und verlassen von Gott offenbarte Gott nichts als Liebe. Das Kreuz verkündigt uns die Fülle, den Reichtum, die Tiefe dieser Liebe, die unser ewiges Teil ist.
Die menschliche Natur weicht vor der Kraft des Kreuzes zurück. Wir sehen auf das, was vor Augen ist; wir suchen hienieden ein wenig Ehre; wir weichen der Schmach des Kreuzes aus und verstehen so wenig die Worte des Apostels: „Mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, wodurch mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt.“
Mögen unsere Herzen in dem lebendigen Glauben ruhen, dass Jesus unser ewiges Teil ist und dass wir, weil in Ihm, in Gott bleiben. Ach! viele Christen trachten nach Dingen, die uns unfähig machen, den Umfang und die Kraft dieser Liebe kennen zu lernen. Unmöglich können wir Zugleich diese Liebe und den Ruhm der Menschen genießen. Alles, was das eigene Ich erhebt – Ehre, Ansehen, Talente, Wissenschaften, Reichtum, Hochmut des Lebens, – alles, was dem natürlichen Menschen behagt, gibt nur unserem Hochmut Nahrung, aber macht Christus weniger köstlich für unser Herz und lässt uns seine Liebe weniger hochschätzen. Gebe der Herr uns daher zu verstehen und zu verwirklichen, was es heißt, der „Welt gekreuzigt zu sein“, und danken wir Ihm für alles, was unser eigenes Ich erniedrigt!