Botschafter des Heils in Christo 1868
Die Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus als Mensch - Teil 1/3
1. Die moralische Herrlichkeit oder, mit anderen Worten, der Charakter des Herrn Jesus als Mensch bildet den Gegenstand dieser Betrachtung. Alles in Ihm stieg als ein Opfer empor, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch. Jeder Ausdruck dessen, was in Ihm war, wie unscheinbar derselbe auch sein und an welchen Umstand er sich auch anknüpfen mochte, erwies sich als ein Räucherwerk. In Ihm, aber auch nur in Ihm war der Mensch mit Gott versöhnt. In Ihm fand Gott wieder sein Wohlgefallen an dem Menschen, und zwar mit einem unaussprechlichen Gewinn; denn in Jesu ist der Mensch Gott weit angenehmer, als er es in einer Ewigkeit adamitischer Unschuld gewesen sein würde.
Obwohl völlig überzeugt, dass ich in vorliegender Betrachtung nur einen höchst schwachen Teil dieses bewundernswürdigen Gegenstandes ans Licht zu stellen im Stande sein werde, so hoffe ich dennoch dadurch in anderen Seelen nützliche Gedanken wach zu rufen: und das wird immerhin von großem Segen sein.
Mit der Person des Herrn – als Gott und Mensch in einem Christus – wünsche ich mich nicht zu beschäftigen. Auch nicht mit seinem Werk, dem Dienst des Leidens und der am Kreuz geschehenen Blutvergießung, sondern, wie schon gesagt, die Herrlichkeit Jesu, als Mensch, soll der Gegenstand meiner Betrachtung sein.
Die Herrlichkeit des Herrn Jesus kann, von drei Gesichtspunkten aus betrachtet werden; entweder betrifft sie seine Person, oder seine amtliche Würde, oder seinen Charakter. Die Herrlichkeit seiner Person verhüllte Jesus, außer wenn der Glaube sie zu entdecken wusste oder das Bedürfnis des Augenblicks ihre Offenbarung nötig machte. Die Herrlichkeit seiner amtlichen Würde verhüllte Er ebenfalls; denn Er schritt von Ort zu Ort weder als der aus dem Schoß des Vaters kommende Sohn Gottes, noch als der mit königlicher Autorität bekleidete Sohn Davids. Diese beiden Arten seiner Herrlichkeit blieben meistens verdeckt bei seinen Wanderungen durch die verschiedenen Umstände des tagtäglichen Lebens. Aber seine moralische Herrlichkeit konnte nimmer verborgen bleiben. Er vermochte in keiner Sache seine Vollkommenheit zu verleugnen; – dieser Charakter war Ihm eigentümlich und zeigte, was Er war. Die Vortrefflichkeit dieser Herrlichkeit zeigte sich sogar zu blendend für das menschliche Auge; und der Mensch fühlte sich beständig durch sie verurteilt. Aber sie warf, mochte der Mensch sie ertragen oder nicht, ihre Strahlen nach allen Richtungen aus; und jetzt erleuchtet sie jedes Blatt der vier Evangelien, wie sie ehemals die Pfade erhellte, in denen der Herr hienieden wandelte.
Es hat jemand von dem Herrn Jesus gesagt, dass seine Menschheit in ihrer Entwicklung ganz natürlich gewesen sei. Diese Bemerkung ist sehr schön und wahr. Das zweite Kapitel Lukas würde dieses außer allen Zweifel setzen. Es gab in Jesus keine Art von Wachstum, die nicht naturgemäß war; Er nahm in allem zu in regelrechter Weise. Seine Weisheit hielt gleichen Schritt mit seiner Statur und seinem Alter; zuerst war Er ein Kind, dann ein Mann. Als Mann (als der Mann Gottes in dieser Welt) zeugt Er von der Welt, dass ihre Werke böse sind, und wird von ihr gehasst; 1.der als Kind (ein Kind nach dem Herzen Gottes) ist Er seinen Eltern untertan und befindet sich unter dem Gesetz, und zwar als jemand, der vollkommen ist; und unter solchen Umständen sollte Er zunehmen an Gnade bei Gott und den Menschen.
Allein obschon, wie wir gesehen haben, ein Fortschreiten in Ihm stattfand, so zeigte sich doch nirgends etwas von Dunkelheit, nirgends eine böse Neigung, nirgends ein Fehler; und das ist es, was Ihn von jedem anderen Menschen unterscheidet. Von Maria, seiner Mutter, wird gesagt, dass sie alles, was über Jesus verkündigt worden war, „bewahrt und in ihrem Herzen erwägt“ habe; nichtsdestoweniger lagerten sich Nebel, Unruhe und selbst Finsternis auf ihre Seele, so dass der Herr zu ihr sagen mühte: „Was ist es, dass ihr mich gesucht habt?“ (Lk 2,49) Bei Jesus hingegen zeigte sich das zunehmen stets in einer und derselben Form von moralischer Schönheit; sein Wachsen war immer regelrecht und das, was es sein sollte; und ich kann hinzufügen, dass, sowie „Seine Menschheit in ihrer Entwicklung ganz natürlich“ war, auch sein Charakter in all seinen Ausdrücken sich als gänzlich menschlich erwies. Alles, was diesen Charakter offenbarte, war, um mich so auszudrücken, dem Menschen eigentümlich.
Er war der „Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit“ (Ps 1,3). alle Dinge sind nur schön zu ihrer Zeit. Die moralische Herrlichkeit des „Kindes Jesu“ prangte zu ihrer Zeit und unter seinem Geschlecht; und als das Kind zum Mann geworden, zeigte sich dieselbe Herrlichkeit unter anderen Formen. Jesus wusste, wann Er, als die Mutter ihre Rechte geltend machte, denselben genügen musste; Er wusste sowohl, wann Er, trotzdem sie ihre mütterlichen Ansprüche erhob, denselben entgegentreten, als auch wann Er sich ihnen, selbst ohne bestimmte Geltendmachung, unterwerfen musste (Lk 3,51; 8,21; Joh 19,27). Und überall, wo wir seinen Schritten folgen, werden wir dasselbe finden. Er kannte Gethsemane zu seiner Zeit und nach dem wahren Charakter desselben, wie Er auch den heiligen Berg zu seiner Zeit kannte; – es waren die Zeiten des Winters und des Sommers für seine Seele. Er kannte den Brunnen zu Sichar und den Weg, der Ihn zum letzten Male nach Jerusalem führte. Er verfolgte jeden Pfad und fand sich in jedem der Örter, die sein Fuß durchschritt, in dem Gedanken, der mit dem Charakter, den dieselben in den Augen Gottes hatten, in Übereinstimmung war. Und dieses war selbst bei solchen Gelegenheiten der Fall, in denen noch mehr moralische Kraft gefordert ward. Wenn es sich handelte um die Entweihung des Hauses seines Vaters, dann verwirklichte sich in Ihm das Wort des Psalmisten: „Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt;“ – und wenn es sich handelte um eine Ihm von Seiten samaritanischer Dorfbewohner angetane Schmach, dann ertrug Er alles und setzte seinen Weg fort.
Alles war vollkommen, sowohl wenn seine Tugenden sich vereinigten, als auch wenn sie in bestimmten Augenblicken in die Erscheinung traten. Er weinte am Grab des Lazarus, obwohl Er das Leben für den Gestorbenen in sich trug. Er, welcher sagen konnte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“, vergoss Tränen. Die göttliche Macht ließ den menschlichen Sympathien, ihren freien, ungehinderten Lauf. Und gerade diese Verschmelzung oder Vereinigung der Tugenden stellt die moralische Herrlichkeit ins Licht. Jesus wusste, um den Ausdruck des Apostels zu gebrauchen, „niedrig zu sein und Überfluss zu haben“; Er wusste, wenn man sich also ausdrucken darf, die Augenblicke des Wohlstandes und die Zeiten des Drucks zu verwerten; denn während sein Fuß dieses Leben durchschritt, wurde Er mit beiden Zuständen bekannt gemacht.
So war Er auf dem Berg der Verklärung für einen Augenblick in seine Herrlichkeit eingeführt; und das war eine glanzreiche Stunde. Er erschien dort in jener Majestät und in den Würden, die Ihm gebührten. Wie die Sonne, die Quelle alles Lichts, so strahlte sein Angesicht; und ausgezeichnete Personen, wie Moses und Elias, eingehüllt und mit Ihm glänzend in seiner Herrlichkeit, standen Ihm zur Seite. Aber, als Er von: Berge herabstieg, befahl Er denen, die „Zeugen seiner Majestät“ gewesen waren, „Niemandem zu erzählen, was sie gesehen hatten.“ Und als, am Fuß des Berges angekommen, die erstaunte Volksmenge zu seiner Begrüßung zusammenlief (Mk 9,15) und ohne Zweifel sein Antlitz noch einen, wenn auch schwachen Nachglanz seiner Herrlichkeit, in der Er soeben gestrahlt hatte, zur Schau trug, so verweilte Er hier keineswegs, um die Huldigungen der Menge entgegen zu nehmen, sondern Er setzte vielmehr seinen gewöhnlichen Dienst sogleich wieder fort; denn Er verstand „Überfluss zu haben.“ Die Wohlhabenheit machte Ihn nicht hochmütig. Er suchte nicht eitlen Platz unter den Menschen, sondern verleugnete sich, machte sich selbst zu nichts und verhüllte seine Herrlichkeit, um nur ein Diener zu sein.
Ebenso war es, wie uns das 20. Kapitel Johannes belehrt, als Er aus den Toten auferstanden war. Wir sehen Ihn dort inmitten seiner Jünger und zwar bekleidet mit einer Herrlichkeit, deren Gleichen nimmer ein Mensch besessen noch angeschaut hatte. Er steht dort als der Überwinder des Todes, als der Zerstörer des Grabes; und dennoch, obwohl im Besitz dieser ausgezeichneten Herrlichkeiten, ist Er nicht gekommen, um die Huldigungen seines Volkes zu empfangen, wie es selbstredend jeder andere getan haben würde, welcher nach ausgestandenen Mühsalen und Gefahren und endlichem Sieg in den Schoß seiner Freunde und seiner Familie zurückgekehrt wäre. Nicht etwa, als ob der Herr Jesus gegen Mitgefühl gleichgültig gewesen sei, nein, vielmehr suchte Er dasselbe zu passender Stunde und fühlte dessen Mangel, wenn Er es nicht fand. Aber jetzt, auferstanden aus den Toten, erscheint Er vor ihnen vielmehr wie einer, der sie eines Tages besucht, als wie ein Überwinder; und Er unterhält sich mit ihnen vielmehr über ihre eigenen Angelegenheiten, als über die Ihn betreffenden großen Dinge, die soeben erfüllt worden waren. – Das hieß in der Tat von den: Siege einen Gebrauch machen, wie Abraham es nach seinem Sieg über die gegen ihn verbündeten Könige tat; und dergleichen tun zu können, ist, wie jemand mit Recht bemerkt hat, weit schwieriger, als selbst einen Sieg davon zu tragen. Da ist nötig zu wissen, „Überfluss zu haben“ und zu wissen, „gesättigt zu sein.“ –
Aber Jesus wusste auch „niedrig zu sein.“ Wir sehen dieses bei den Bewohnern Samarias in Lukas 9,51 usw. Schon im Anfang der hier mitgeteilten Szene ergreift Er, im Bewusstsein seiner persönlichen Herrlichkeit, schon zum Voraus den Moment seiner Auferstehung; und wie jemand, welcher als eine Person von Ansehen seinen Anzug ankündigt, sendet Er Boten vor seinem Angesicht her. Allein der Unglaube der Samariter verändert den Stand der Dinge. Sie verweigern Ihm die Aufnahme. Sie wollen Ihm, dem Herrn der Herrlichkeit, den Durchzug durch ihr Land nicht gestatten und zwingen Ihn, sich selbst den besseren Weg zu suchen, den Er, als der Verworfene, ausfindig machen konnte. Und diese Stellung, den Platz eines Verworfenen, nimmt Er ein, ohne sich zu widersetzen und ohne dass sein Herz darüber murrt. Sich verworfen sehend als den Bethlehemiten wird Er wieder der Nazarener; (siehe Mt 2) und sich entfernend aus dem samaritanischen Dorfes, trägt Er diesen neuen Charakter ebenso vollkommen, wie Er sich vor seiner Ankunft in seinem früheren Charakter gezeigt hatte.
Also wusste Jesus „niedrig zu sein.“ In ähnlichen Umständen finden wir Ihn im Kapitel 21 desselben Evangeliums. Er betritt Jerusalem als „der Sohn Davids“; – alles, welches Ihn in dieser glorreichen Würde ins Licht zu stellen vermochte, umringt und begleitet Ihn. Wie Er auf dem heiligen Berge seine himmlische Herrlichkeit zur Schau getragen hatte, so erscheint Er hier in seiner irdischen Herrlichkeit. Diese Herrlichkeit gehört Ihm von Rechtswegen; und wenn die Stunde gekommen ist, wird Er sie in würdiger Weise tragen. Aber der Unglaube von Jerusalem verwandelt, wie vorher derjenige von Samaria, auch hier die Szene; und Er, welcher als König seinen Einzug in die Stadt gehalten hat, ist gezwungen, auszugehen, um sich für die Nacht ein Lager zu suchen, und befindet sich, wissend „niedrig zu sein“, wie einst außerhalb Samarias so jetzt außerhalb Jerusalems.
Welch eine Vollkommenheit! Wenn die Finsternis das Licht der Herrlichkeit der Person und des Amtes Christi nicht erfasst, so zeigt seine moralische Herrlichkeit einen umso klareren Glanz. Als moralischer Grundsatz oder als menschlicher Charakter gibt es nichts Vortrefflicheres, als eine solche freiwillige Erniedrigung unter die Menschen, vereint mit dem Bewusstsein der wesentlichen Herrlichkeit vor Gott. Wir finden in dieser Beziehung bemerkenswerte Beispiele in dem Leben etlicher Heiligen. Abraham war während seines ganzen Lebens freiwillig ein Fremdling unter den Kanaanitern, indem er weder einen Fuß breit Landes besaß, noch zu besitzen trachtete; aber er wusste sich bei Gelegenheit über Könige zu setzen, und zwar in dem Bewusstsein seiner Würde vor Gott und nach dem Ratschluss Gottes. – Jakob spricht von seiner Fremdlingschaft, von den Tagen, die „kurz und böse“ gewesen, indem er sich nach dem Urteil der Welt erniedrigt; aber zu gleicher Zeit segnet er den Mann, welcher damals der Höchste des Landes war, wohl wissend, dass er selbst in den Augen Gottes der „Vorzüglichere“ war. – David bittet um Brot und tut es ohne Scham; jedoch zu gleicher Zeit nimmt er die als König ihm gebührende Huldigung entgegen und empfängt aus den Händen Abigails den Tribut seiner Untertanen. – Paulus ist mit Ketten gebunden; er ist Gefangener im Haus des Statthalters und spricht von seinen Banden; aber in demselben Augenblicke bekennt er vor dem ganzen Hofe und vor allen ihn umringenden Großen der römischen Welt, dass er sich unter, ihnen allen als den gesegneten, den allein glücklichen Menschen erkennt.
Diese Verschmelzung einer freiwilligen Erniedrigung vor Menschen mit dem Bewusstsein der Herrlichkeit vor Gott findet bei unserem Herrn die erhabenste, glänzendste, ja durchaus vollkommene Offenbarung. Und diese Fähigkeit, zu wissen „Überfluss zu haben“ und „niedrig zu sein“, „gesättigt zu sein“ und „Mangel zu haben“, zeigt überdies noch eine andere Schönheit; denn sie sagt uns, dass das Herz dessen, der in diesen Dingen unterwiesen ist, sich vielmehr mit dem Zweck der Reise, als mit der Reise selbst beschäftigt. Wenn unser Herz sich mit der Reise selbst befasst, so werden uns ihre Mühseligkeiten und Schwierigkeiten, ihre höckerigen Straßen und jähen Abhänge sicher hinderlich sein; aber wenn wir das Ziel anschauen, werden wir über alle jene Dinge leicht hinwegzusehen vermögen. Liegt für uns alle hierin nicht eine lehrreiche Unterweisung? 2. Indes gibt es in dem Charakter des Herrn noch andere Glanzpunkte, welche unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken werden. Sicher war keiner unter den Menschensöhnen, wie jemand von Ihm gesagt hat, so gnädig, so herablassend, so zugänglich. Man bemerkt in seinem ganzen Wesen eine Lieblichkeit und eine Schönheit, die man vergeblich bei anderen Menschen suchen würde; und dennoch fühlt man immer, dass Er ein „Fremdling“ auf der Erde war. Ja, ein Fremdling hienieden – ein Fremdling, insoweit der widerstrebende Mensch den Schauplatz dieser Welt ausfüllte; aber sobald das Elend oder das Bedürfnis nach Ihm verlangte, näherte Er sich augenblicklich. Die Entfernung, worin Er sich hielt, und die Vertraulichkeit, mit welcher Er nahte, – Beides war vollkommen. Er betrachtete nicht nur das Ihn umringende Elend, sondern nahm auch Anteil daran mit einem Mitgefühl, das nur in Ihm seine Quelle hatte; und Er beseitigte nicht nur das Ihn umringende Verderben, sondern erhielt auch die Absonderung der Heiligkeit von aller Berührung mit dem Bösen und jeglicher Befleckung aufrecht.
Betrachten wir Ihn in dieser Entfernung und in dieser Nähe sowie uns im 6. Kapitel Markus Ihn darstellt. Es ist eine rührende Szene; die Jünger kehren nach vollendetem Dienst zu Jesu zurück. Er interessiert sich für sie, nimmt Anteil an ihrer Müdigkeit und begegnet ihnen mit den Worten: „Kommt ihr selbst her an einen wüsten Ort besonders und ruht ein wenig aus.“ Allein die Volksmenge ist Ihm bereits vorausgeeilt; und Er steht auch dieser gegenüber mit derselben Liebe, nimmt Kenntnis von ihrer Lage, und dann, sie beschauend als Schafe, die keinen Hirten haben, setzt Er sich, um sie zu unterweisen. In diesem allen sehen wir, wie der Herr Jesus verschiedenen Bedürfnissen, die Er vor sich blickt, zuvorkommt. Mag es sich um die Müdigkeit der Jünger, oder um die Unwissenheit und den Hunger der Menge handeln, – Er trägt Sorge für das eine, wie für das andere. Allein, die Jünger, unzufrieden über die Sorgfalt, die Er der Menge widmet, fordern Ihn auf, sie zu entlassen. Das Herz des Herrn aber ist mit anderen Gedanken erfüllt; und von diesem Augenblick an bildet sich zwischen Ihm und seinen Jüngern eine Entfernung, die sich kurz nachher dann fühlbar macht, dass er sie in ein Schiff zu steigen nötigt, um, während Er die Volksmenge entlassen will, vor Ihm an das jenseitige Ufer zu fahren. Diese Trennung hat für die Jünger eine neue Not im Gefolge. Der Wind und die Wellen sind ihnen entgegen auf dem See, aber in ihrer Angst ist Jesus wieder in ihrer Nähe, um ihnen zu helfen und Mut einzuflößen.
Welche Harmonie in der Verschmelzung der Heiligkeit und der Gnade! Jesus ist uns nahe, wenn wir müde sind, wenn wir Hunger leiden, wenn wir uns in Gefahr befinden; Er ist aber fern von unseren natürlichen Begierden, fern von unserer Selbstsucht. Seine Heiligkeit macht aus Ihm einen Fremdling in einer beschmutzten Welt; seine Gnade hält Ihn immer tätig in einer leidenden, elenden Welt. Und gerade dieses stellt die moralische Herrlichkeit in dem Leben unseres Heilands ganz besonders ins Licht, weil, obwohl durch den Charakter der Sphäre, in der Er sich bewegt, oft zum Zurückziehen in die Einsamkeit genötigt. Er dennoch durch das Ihn umringende Elend und Leiden gezwungen wird, ununterbrochen zu handeln. Und diese Tätigkeit zeigte sich allen Arten von Menschen gegenüber und musste daher sich auch in die verschiedensten Formen kleiden. Christus hatte mit Widersachern, mit einer Volksmenge, mit seinen zwölf Jüngern und mit einzelnen Personen zu schaffen; und diese hielten Ihn nicht nur ununterbrochen, sondern auf die mannigfaltigste Art in Tätigkeit; und Er musste wissen, und wusste es sicher in der vollkommensten Weise, welche Antwort Er einem jeglichen zu geben hatte.
An dieses reiht sich, dass wir Ihn bei gewissen Gelegenheiten an der Tafel anderer sitzen sehen und sicher nur deshalb, um neue Züge seiner Vollkommenheit vor unseren Blicken zu enthüllen. An der Tafel der Pharisäer, wo wir Ihm zuweilen begegnen, richtet Er sich weder nach den Gebräuchen des Hauses, noch erkennt Er sie an; aber eingeladen in dem Charakter, den Er sich bereits in der Öffentlichkeit erworben und dort gehandhabt hat, handelt Er auch diesem Charakter gemäß. Er ist nicht nur ein Gast, der sich der Artigkeiten des gastfreundlichen Hausherrn erfreut, sondern Er ist in seinem eigenen Charakter gekommen; und folglich kann Er lehren und zurechtweisen. Er ist immer das Licht und handelt nach dem Licht; und wie Er es draußen getan, so macht Er auch im Innern des Hauses die Finsternis; offenbar (Siehe Lk 7,9).
Wenn Er indes zum Öfteren in das Haus des Pharisäers als Lehrer eintrat und, als solcher handelnd, die dort vorfindenden ungöttlichen Dinge verurteilte, so erblicken wir in Ihm den Heiland, wenn Er die Wohnung des Zöllners besuchte. Levi bereitete Ihm ein Mahl in seinem Haus; und viele Zöllner und Sünder kamen und legten sich mit Jesu zu Tische. Da nun, wie es ganz natürlich war, die Schriftgelehrten darüber ihre Anmerkungen machten, so gab dieses dein Herrn Gelegenheit, sich als Heiland zu offenbaren, indem Er zu ihnen sagte: „Die Gesunden bedürfen nicht eines Arztes, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das sei: Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer! Denn ich bin nicht gekommen. Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße“ (Mt 9,12–13). Sehr einfache, aber treffende, scharfzeichnende Worte! – Simon, der Pharisäer, missbilligte es, dass eine Sünderin in sein Haus trat und sich zu Jesu nahte, während Levi, der Zöllner, im Gegenteil die Sünder einlud, um Gäste Jesu zu sein; und folglich erscheint der Herr im Haus des einen als Zensor oder Beurteiler, während Er sich in dem Haus des anderen in den Gnadenreichtümern eines Erlösers zeigt.
Aber auch noch bei anderen finden wir den Herrn Jesus als Gast. Folgen wir Ihm nach Jericho und nach Emmaus (Lk 19 und 24). Es waren Bedürfnisse des Herzens, die, wenn auch unter verschiedenen Einflüssen hervorgerufen. Ihn bei jeder dieser Gelegenheiten aufnahmen. Zachäus war bis zu dieser Stunde nur ein Sünder, ein Mensch in seinem natürlichen Zustand gewesen, und zwar verunreinigt in seinen Handlungen und deren Triebfedern. Aber gerade in diesem Augenblick hatte der Vater Ihn gezogen und Jesus wurde der Gegenstand seiner Seele. Er begehrte Ihn zu sehen; und mit brennendem Verlangen hatte er sich einen Weg durch die Menge gebahnt und war auf einen Maulbeerbaum gestiegen, um wo möglich Jesus zu sehen, wenn Er vorüberging. Der Herr sah ihn und lud sich augenblicklich bei ihm ein. Das ist sehr beachtenswert Jesus ist in dem Haus des Zöllners zu Jericho ein ungenötigter, ein sich selbst eingeladener Gast.
Die ersten Regungen des geistlichen Lehens in dem Herzen eines armen Sünders, die durch den Zug des Vaters geweckten Bedürfnisse, waren in diesem Haus zur Bewillkommnung Jesu vorhanden; aber der Herr kommt in einer höchst wohlwollenden und bedeutungsvollen Weise der Einladung zuvor und tritt als Gast ein. Er tritt ein in dem Charakter, welcher den Bedürfnissen des Augenblicks entspricht und sie beantwortet, um das neuempfangene Leben aufzumuntern und zu befestigen, bis es sich in irgendeiner der Formen seiner Kraft offenbart und etliche seiner guten Früchte hervorbringt. „Siehe Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen; und wenn ich jemanden fälschlich angeklagt habe, so erstatte ich es vierfältig“ (Lk 19,8).
In Emmaus begegnen wir einer anderen Szene. Hier finden wir nicht das Verlangen einer neuergriffenen Seele, sondern das Begehren wiederhergestellter Heiligen. Die beiden Jünger hatten dem Unglauben Raum gegeben. Sie kehren heimwärts unter dem traurigen Eindrucke, dass Jesus sie in ihren Erwartungen getäuscht habe. Der Herr Jesus tadelt sie, kurz nachdem Er auf ihrem Weg sich zu ihnen gesellt hatte; jedoch ist die Art seiner Unterhaltung so anziehend, dass ihre Herzen in ihnen brennend wurden (Lk 24,32) und sie Ihn als sie die Pforte ihrer Wohnung erreicht hatten und Er Miene zum Weitergehen machte, dringend nötigten, bei ihnen einzukehren. Hier lädt Er sich nicht selbst ein, wie Er es in Jericho getan hatte; diese Jünger waren nicht in dem moralischen Zustand, in welchem sich Zachäus befand. Dennoch, sobald sie Ihn einladen, kehrt Er ein; und zwar um das Verlangen, welches sie zu seiner Einladung getrieben hatte, weiter zu fördern, ja völlig zu befriedigen. Und gedrängt durch die Freude ihrer Herzen kehren sie, wie weit auch die Nacht schon vorgerückt sein mochte, noch zur selbigen Stunde nach Jerusalem zurück, um ihren Brüdern von diesen Dingen Kunde zu geben.
Welche Verschiedenheit herrscht in den Schönheiten all dieser Szene! Der Gast des Pharisäers, der Gast des Zöllners, der Gast der Jünger, der geladene und ungeladene Gast sitzt in der Person Jesu stets auf seinem Platz in aller Vollkommenheit und Schönheit. Ich würde noch in anderen Fällen den Herrn Jesus als Tischgenossen vorführen können; aber ich beschränke mich darauf, nur noch einen einzigen Fall anzuführen. – In Bethanien sehen wir den Herrn Jesus einer Familienszene beiwohnen. Würde Er die Idee einer christlichen Familie missbilligt haben, so würden mir Ihn, wie die Schrift es uns darstellt, in Bethanien nicht zu suchen haben. Aber wir sehen Ihn hier vor uns, und zwar, um einen neuen Zug seiner moralischen Herrlichkeit in Ihm zu entdecken. Er ist in Bethanien als ein Freund der Familie, indem Er in dem Ihn umgebenden Zirkel das findet, was wir noch heute unter uns finden: eine Heimat. Die Worte: „Jesus aber liebte die Marta und ihre Schwester und Lazarus“, – bestätigen dieses zur Genüge. Die Liebe des Herrn für diese Familie war nicht die eines Erlösers, oder eines Hirten, wiewohl wir wissen, dass Er ihr Erlöser und ihr Hirte war; – es war die Liebe eines Familienfreundes. Aber obwohl ein Freund, und zwar ein Vertrauter Freund, welcher, so oft es Ihm beliebte, unter diesem gastfreundlichen Dache stets die herzlichste Aufnahme finden konnte, so mischte Er sich doch nimmer in die Anordnungen des Hauses. Marta war die Haushälterin, die am meisten beschäftigte Person der Familie und gewiss nützlich und wichtig an ihrem Platz; und Jesus lässt sie da, wo Er sie findet. Es war nicht seine Sache, diese Dinge zu verändern oder zu ordnen. Lazarus konnte Platz nehmen zur Seite seiner Gäste an der Familientafel; Maria konnte sich zurückziehen und gleichsam in ihr eigenes Reich, oder in das Reich Gottes in ihr vertieft sein; und Marta konnte beschäftigt sein und ihren häuslichen Pflichten obliegen. Alles war an seinem Platz; und Jesus lässt alles, wie Er es findet. Er, der nicht ungeladen in das Haus eines anderen eintreten wollte, will, wenn Er bei diesen beiden Schwestern und ihrem Bruder eingekehrt ist, sich nicht in die Ordnung und in die häuslichen Einrichtungen mischen. Welch eine vollkommene Wohlanständigkeit! Aber wenn eines der Glieder der Familie, anstatt seinen Platz in diesem Zirkel zu bewahren, sich in der Gegenwart Jesu Anmerkungen zu machen erlaubt, dann muss und wird Er seine Oberrechte in Anspruch nehmen, um göttlich die Dinge zu ordnen, die Er häuslich nicht berühren und in die Er sich nicht einmischen mochte (Lk 10). 3. Wer könnte all diesen schönen Zügen in Jesu folgen? Der Geier wird bekennen, dass sie außer dem Bereich seines Scharfblicks liegen; und wenn kein menschliches Auge das Ganze dieses einen Gegenstandes zu unterscheiden im Stande ist, wo ist dann der menschliche Charakter zu finden, der nicht durch seine eigenen Schatten und Unvollkommenheiten den Glanz dieses Gegenstandes umso klarer hervorstrahlen ließe. Keiner von uns stellt sich den Johannes, oder den Petrus, oder einen der anderen Apostel als hartherzig und lieblos vor; im Gegenteil fühlen wir, dass wir sie hätten zu Vertrauten unserer Mühen und Sorgen machen können. Dennoch aber zeigt uns die bereits erwähnte kurze Erzählung in Markus 6, dass sie sich alle auf einem Fehler ertappen ließen, dass sie alle zurücktraten, als die hungrige Menge sich an sie wandte und ihre Ruhe zu stören drohte, während für Jesus gerade dieses der Augenblick und die Gelegenheit war, um sich zu nähern. Dies alles, meine geliebten Freunde, sagt uns, ums Jesus ist. „Ich kenne niemanden“, hat einmal jemand gesagt, „der so gut und so freundlich ist, wie Er, – niemanden, der wie Er zu armen Sündern herabgestiegen ist. Ich setze größeres Vertrauen in seine Liebe, als in die Liebe Marias, oder irgendeines anderen Heiligen; nicht nur seine Macht als Gott, sondern die Zärtlichkeit seines Herzens als Mensch zieht mich an. Niemand zeigte oder besaß je eine solche Zärtlichkeit; niemand hat mir je ein solches zutrauen eingeflößt. Mögen sich andere an die Heiligen oder an die Engel wenden, wenn sie wollen, ich setze mein ganzes Vertrauen in die Güte Jesu.“ – Gewiss, ich wiederhole es, das 6. Kapitel des Markus, indem es uns die Engherzigkeit der Besten unter uns, wie bei Petrus und Johannes offenbart, zeigt uns Zugleich die völlige, unermüdliche und dienende Gnade und stellt diese Wahrheit ins hellste Licht. –
Und welche beachtenswerte Verschmelzung sowohl von Charakteren, als auch von Tugenden oder Würden finden wir in Jesu! Das deuten uns seine Beziehungen zur Welt an, als Er hienieden wandelte. Er war Zugleich ein Sieger, ein Mann der Schmerzen und ein Wohltäter. Welch eine moralische Herrlichkeit strahlt uns aus dieser Zusammenfügung entgegen! Er überwand die Welt, indem Er alle ihre Reize und Ehrerbietungen ausschlug; Er litt von Seiten der Welt, weil Er für Gott gegen den Lauf und den Geist der Welt Zeugnis ablegte, und Er schüttete ununterbrochen seine Segnungen über die Welt aus, indem Er beständig seine Liebe und seine Macht walten lieh und Böses mit Gutem vergalt. Die Versuchungen der Welt dienten nur dazu, um aus Ihm einen Sieger – das Verderben und der Hass der Welt, um ans Ihm einen Mann der Schmerzen und das Elend der Welt, um aus Ihm einen Wohltäter zu machen. Welch moralische Herrlichkeiten finden sich hier vereinigt!
Der Herr Jesus gab in seiner Person eine verständliche Erläuterung der Worte: „In der Welt, aber nicht von der Welt“ – ein Ausdruck, der ohne Zweifel in Verbindung steht mit den Worten: „Ich bitte nicht, dass du sie von der Welt wegnimmst, sondern dass du sie bewahrst vor dem Bösen“ (Joh 17,15). Er war die lebendige Offenbarung dieses Zustandes während seines ganzen Lebens hienieden; denn Er war stets in der Welt und wirkte inmitten ihrer Unwissenheit und ihres Elends. Niemals aber war Er von der Welt; niemals nahm Er Teil an ihren Erwartungen und Plänen, und niemals wandelte Er in ihrem Geist. Jedoch zeigt Er sich in Johannes 7, wie ich glaube, in ganz besonderer Weise in diesem Charakter. Es war die Zeit des Laubhüttenfestes, die Krone der Freudentage in Israel, der Vorgeschmack des kommenden Reiches, die Zeit der Einsammlung der Ernte, wo sich das Volk nur dessen zu erinnern hatte, was es ehemals, umherirrend in der Wüste und wohnend in Zelten gewesen war. Die Brüder des Herrn drängen Ihn, eine Gelegenheit zu benutzen, wo, wie wir sagen würden, die ganze Welt in Jerusalem versammelt war. Sie wünschten, dass Er sich hervortun und sich, wie wir uns ausdrücken, als „ein Mann der Welt“ zeigen möchte. „Wenn du“ – sagen sie – „diese Dinge tust, so zeige dich der Welt.“ Doch Jesus verweigert es. Für Ihn war die Zeit, das Laubhüttenfest zu feiern, noch nicht gekommen. Einmal, wenn sein Tag angebrochen ist, wird Er sein Reich einnehmen; dann wird Er groß sein und seine Herrschaft wird sich ausbreiten bis zu den Enden der Erde; allein jetzt führte sein Weg zum Altar und nicht zum Thron. Er will nicht auf das Fest gehen, um von dem Fest zu sein, obwohl Er sich in Jerusalem einfindet. Und dort angekommen, tritt Er als Diener und nicht in seinen Würden auf; und Er verrichtet keine Wunder, wie es seine Brüder, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu lenken, von Ihm gewünscht hatten, sondern Er belehrt andere und verbirgt sich selbst hinter den Worten: „Meine Lehre ist nicht mein, sondern dessen, der mich gesandt hat.“
Wie sehr charakterisiert uns dieses alles die moralische Herrlichkeit Jesu, des vollkommenen Menschen, in seinem Verhältnis zur Welt. Er war ein Sieger, ein Mann der Schmerzen und ein Wohltäter in der Welt; aber Er war nicht von der Welt. Indes sehen wir Ihn zu Zeiten, und zwar mit derselben Vollkommenheit, eben sowohl Dinge beurteilen und unterscheiden, als auch diese schöne Verbindung zur Schau stellen. Wenn Er sich z. B. mit den Leiden derer befasst, welche draußen sind, so sehen wir eine Zärtlichkeit, die von der Macht zu heilen begleitet ist, während wir, wenn es sich um die Trübsale der Jünger handelt. Seine Treue mit seiner Liebe vereinigt finden. Der Aussätzige in Matthäus 8 war ein Fremdling. Er kommt mit seinen Leiden zu Jesu und findet sofort die Genesung. Dasselbe Kapitel zeigt uns, wie sich die Jünger in ihrer Not während eines Sturmes an Ihn wenden; aber sie empfangen mit der Hilfe auch einen Verweis. Er sagt zu ihnen: „Warum seid ihr furchtsam, Kleingläubige?“ – obwohl der Aussätzige einen ebenso kleinen Glauben hatte, wie die Jünger. Denn während diese schreien: „Herr, rette uns; wir gehen unter!“ – sagt jener: „Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen!“ Und dennoch wurden die Jünger, nicht aber der Aussätzige getadelt, und zwar aus dem Grund, weil in den Gedanken des Herrn der Fall ganz verschieden und darum seine Handlungsweise gerecht war. In dem einen Fall handelte es sich nur um das Leiden; in dem anderen aber nicht nur um das Leiden, sondern auch um die Seele. Folglich antwortete der Herr dem Aussätzigen nur durch seine Liebe, während Er bezüglich der Jünger seine Zärtlichkeit mit seiner Treue verband. Die Verschiedenheit der Beziehungen zu Ihm erklärt die Verschiedenheit in der Handlungsweise des Herrn und zeigt uns, mit welcher Vollkommenheit Er jene Dinge unterschied, welche zwar eine große Ähnlichkeit zu einander hatten, aber dennoch keineswegs dieselben waren.
Betrachten wir diese Vollkommenheit des Herrn noch etwas näher. Obwohl Er selbst Verweise gibt, so erlaubt Er doch nicht, dass andere dieses in leichtfertiger Weise tun, sowie Gott vor Zeiten seinen Knecht Mose demütigte, aber nicht gestattete, dass Miriam und Aaron dieselben Vorwürfe machen durften (4. Mo 11 und 12). Israel wird öfters in der Wüste durch die Hand Gottes gezüchtigt; aber in Gegenwart Bileams und anderer Widersacher, wird Gott es sein, der die Gottlosigkeit in Israel nicht sieht, und der es nicht erlaubt, dass irgendeine Zauberei über das Volk einen Sieg davonträgt. – Ebenso treffend und bewundernswürdig ist die Dazwischenkunft Jesu bei der Gelegenheit, wo sich die zwei Jünger den Tadel ihrer zehn Gefährten zugezogen haben (Mt 20). Und obwohl Er, wie im Geheimen, zuvor ein Wort der Warnung und Zurechtweisung an Johannes den Täufer gerichtet hatte (ein Wort, welches nur von dem Gewissen desselben verstanden werden konnte), so wendet Er sich dennoch Zugleich an die Menge mit Ausdrücken der Billigung und der Zufriedenheit über Johannes.
So finden wir noch andere Beispiele von dieser Gnade, welche Dinge, die verschieden sind, beurteilt und unterscheidet. Selbst in seiner Handlungsweise gegen seine Jünger rückte ein Augenblick heran, wo die Treue nicht länger am Platz war, sondern wo nur die Liebe ausströmte. Ich denke nämlich an die Scheidestunde (Joh 24 und 25). Dort war es zu spät, „treu zu sein“; der Augenblick erlaubte es nicht. Das Herz machte auf diese ihm allein gehörende Stunde einen vollen Anspruch; und die Erziehung der Seele musste dieses Mal ganz außer Acht bleiben. Freilich offenbart der Herr seinen Jüngern neue Geheimnisse, in Betreff der innigsten und engsten Gemeinschaft zwischen ihnen und dem Vater; aber in seinen Gesprächen findet sich nichts, was einem Verweis gleicht. Jetzt sagt Er nicht: „Ihr Kleingläubigen!“ – oder: „Wie ist es, dass ihr nicht versteht?“– Ein einziges Wort, welches vielleicht einige Ähnlichkeit mit einem solch verweisenden Ausdruck haben könnte, lässt sie nur eine Wunde erkennen, welche das Herz erlitten hatte, damit sie seine Liebe gegen sie erkennen mochten. Das war also in dem vollkommenen Gedanken und für das Herz Jesu die Heiligkeit des Schmerzes der Scheidestunde; und auch wir fühlen nach unserem Maß genug davon, um wenigstens fähig zu sein, dessen vollen Ausdruck in Jesu würdigen und bewundern zu konnten.
Jesus ließ sich indes nicht zur Milde fortreißen bei Gelegenheiten, die Treue erforderten, obwohl Er an so vielen Umständen vorüber schritt, welche die menschliche Empfindlichkeit geahndet haben winde und welche nach dem moralischen Gefühl des Menschen geahndet zu werden verdienten. Er wollte seine Jünger nicht gewinnen durch das armselige Mittel einer liebenswürdigen Natur. In den durch Feuer angezündeten Opfern war sowohl „Honig“ als auch „Sauerteig“ ausgeschlossen. Die Speisopfer hatten nichts davon; (3. Mo 2,11) und dasselbe war der Fall bei Jesu, dem wahren Speisopfer. Es waren nicht nur liebliche und süß klingende Worte, welche die Jünger aus dem Mund ihres Lehrers vernahmen. Bei Ihm war jene Höflichkeit nicht, die stets den Geschmack anderer zu erraten und denselben zu befriedigen trachtet. Er suchte nicht angenehm zu sein; und doch zog er die Herzen in der engsten Weise an sich; und das ist Macht. Es ist immer ein Beweis von moralischer Macht, wenn jemand das Vertrauen eines anderen ungesucht erlangt; denn dann hat das Herz die Wirklichkeit der Liebe verstanden. „Wir alle wissen“ – hat einmal jemand gesagt – „eine wahre Zuneigung von dem, was nur eine bloße Freundlichkeit ist, wohl zu unterscheiden; letztere kann in großem Maß vorhanden sein, ohne dass auch nur eine Spur der ersteren zu finden ist. Manche mögen glauben, dass man durch angenehme Manieren das Vertrauen anderer wecken könne; aber wir wissen sehr wohl, dass nur die Liebe dazu im Stande ist.“ – das ist nur zu wahr. Äußere Freundlichkeit, an und für sich betrachtet, ist Honig; und wie viel von diesem armseligen Material mag wohl unter uns zu finden sein? Wir sind geneigt zu denken, dass alles in Ordnung sei, wenn wir nach nichts Höherem streben, als dass wir den Sauerteig ausfegen und die Masse mit Honig füllen. Wenn wir liebenswürdig sind und, indem wir anderen zu gefallen trachten, und alles nur Mögliche tun, um mit jedem auf einem guten Fuße zu leben, unsere Rolle auf dem wohlgeordneten und glatten Schauplatz der menschlichen Gesellschaft geziemend ausführen, so sind sowohl wir als auch die anderen mit uns zufrieden. Aber heißt das Gott dienen? Ist das ein Speisopfer? Bilden wir uns ein, dass dieses einen Teil der moralischen Herrlichkeit des vollkommenen Menschen ausmache? Gewiss nicht. Wir mögen vielleicht glauben, dass nichts besser und kräftiger zu wirken vermöge, um jenes hohe Ziel zu erreichen; aber nichtsdestoweniger ist es eines der Geheimnisse des Heiligtums, dass kein Honig verbraucht wurde, um Feueropfer dem Herrn anzuzünden. 4. Wir haben also gesehen, wie die moralische Herrlichkeit des Sohnes des Menschen, in ihrer Entwicklung, in ihrer Verschmelzung und in ihrer Unterscheidung, stets in der vollkommensten Schönheit ans Licht tritt. Das Leben Jesu war das glänzende Licht einer Lampe. Es war die Lampe des Hauses Gottes, eine Lampe, die nicht der „Lichtschnäuzen und der Löschnäpfe von seinem Gold“ bedurfte (2. Mo 25), und welches stets vor dem Angesicht des Herrn zugerichtet und mit dem „allerfeinsten, lauteren Olivenöl“ gefüllt war (2. Mo 27,20). Sie erleuchtete alles, was sie umringte, verurteilte und bestrafte alles, was verurteilt und bestraft werden musste, und vorrichtete stets tadellos ihren Dienst.
Wie oft der Herr, was fast beständig geschah, durch seine Jünger oder durch seine Widersacher auch beschuldigt werden mochte, so suchte Er sich doch nimmer zu entschuldigen. Bei einer gewissen Gelegenheit beklagen sich seine Jünger über Ihn, indem sie sagen: „Lehrer, liegt dir nichts daran, dass wir umkommen?“ (Mk 4,38) Aber Er denkt nicht daran, den Schlaf zu rechtfertigen, den sie in dieser Weise stören. Zu einer anderen Zeit machen sie die Bemerkung: „Meister, die Menge drängt und drückt dich, und du sagst: Wer ist es, der mich angerührt hat?“ (Lk 8,45) Aber es bedurfte einer solchen Bemerkung nicht; das zeigte die sofortige Heilung des Weibes. – Wieder zu einer anderen Zeit sagt Marta zu Ihm: „Herr, wärst du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben“ (Joh 11,21). Aber Er entschuldigt sich nicht wegen seines langen Ausbleibens, sondern belehrt Marta über den wunderbaren Charakter, den sein Zögern dieser Stunde verliehen hat. Wie herrlich rechtfertigte dieses seine Zögerung! Und ebenso war es bei jeder ähnlichen Gelegenheit. Mochte Er beschuldigt oder getadelt werden, so widerrief Er doch niemals ein Wort und trat niemals auch nur einen einzigen Schritt zurück. Er bestrafte jede Stimme, die sich richtend wider Ihn erhob. Seine Mutter macht Ihm in Lukas 2 Verweise; aber anstatt ihre Beschuldigung aufrechterhalten zu können, muss sie voll der Finsternis und dein Irrtum ihrer Gedanken überzeugt werden. Petrus nimmt sich heraus, Ihn mit den Worten zu ermahnen: „Ei behüte, Herr! dieses wird dir nicht widerfahren“ (Mt 16,22). Aber Petrus muss bei dieser Gelegenheit lernen, dass es Satan selbst ist, der ihm diesen Rat einhaucht. Der Diener in dem Palast des Hohenpriesters geht noch weiter, indem er Ihm mit einem scharfen Tadel einen Backenstreich gibt; (Joh 18) aber er wird überführt, Angesichts und an der Statte des Gerichtshofes, die Gesetze desselben geschändet zu haben.
Alles dieses zeugt uns von dem Weg des vollkommenen Lehrers. Der Schein mochte zuweilen wider Ihn sein. Warum schlief Er im Schiff, während Wind und Wellen tobten? Warum ließ Er sich auf dem Weg aufhalten, während die Tochter des Jairus im Sterben lag? Warum blieb Er an dem Ort, wo Er war, als sein Freund Lazarus in dem abgelegenen Bethanien krank lag? ... In der Tat war der Schein gegen Ihn; aber es war auch nur der Schein, und zwar für einen kurzen Augenblick. Wir kennen diese Wege Jesu, seinen Schlaf, sein Zögern auf dem Weg, sein Bleiben an einem Ort; aber wir wissen auch, zu welchem Zweck dieses alles geschah und dass in allem seine Vollkommenheit hervortrat. Auch in den Tagen der Patriarchen war der Schein wider den Gott Hiobs. Eine traurige Botschaft folgte auf die andere; – war das nicht hart und grausam? Aber der Gott Hiobs hatte sich ebenso wenig zu entschuldigen, wie der Jesus der Evangelisten.
Wenn wir daher auf den Herrn Jesus, als auf die Lampe des Heiligtums, auf das Licht des Hauses Gottes, unsere Blicke richten, so finden wir, dass die „Lichtschnäuzen und Löschnäpfchen“ in Betreff seiner ganz und gar nutzlos sind und in Ihm kein Gegenbild finden. Aus diesem Grund mussten auch alle, die sich, während Er noch auf Erden wandelte, anmaßten. Ihn zu tadeln und zu beschuldigen, selbst bestraft und beschämt werden. Sie gebrauchten die Löschnäpfchen und Lichtschnäuzen für eine Lampe, die derselben nicht bedurfte, und verrieten dadurch nur ihre eigene Torheit; und das Licht dieser Lampe strahlte umso heller, nicht weil die Lichtschnäuzen gebraucht worden waren, sondern weil es dadurch in den Stand gesetzt wurde, ein neues Zeugnis – und dieses geschah bei jeder Gelegenheit – abzulegen, dass es jener Geräte nicht bedurfte.
Alle diese Beispiele geben uns die nützliche Unterweisung, dass es für uns am besten ist, wenn wir uns als ruhige Zuschauer verhalten und den Herrn in seiner Tätigkeit nicht stören. Wir dürfen anschauen und anbeten, aber nicht uns einmengen und Ihn unterbrechen gleich den Feinden, den Verwandten und selbst den Jüngern der damaligen Zeit. Sie konnten dieses Licht, welches leuchtete, nicht glänzender machen; sie hatten sich nur desselben zu erfreuen und in dessen Strahlen zu wandeln, ohne es putzen und zurichten zu wollen. Möge unser Auge nur einfältig sein; dann wird sicher die auf den Leuchter gestellte Lampe des Herrn unseren ganzen Leib mit Licht erfüllen?
Doch gehen wir weiter! Sowie Jesus sich niemals während seines Dienstes hienieden vor dem Urteil des Menschen zu rechtfertigen suchte, so machte Er auch keinen Anspruch auf menschliches Mitleid in der Leidensstunde, als alle Mächte der Finsternis wider Ihn losgekettet waren. Als Er ein Gefangener der Juden und Heiden geworden, bat und flehte Er sie in keiner Weise; Er appellierte weder an das Mitgefühl seiner Umgebung, noch verteidigte Er sein Leben. Wohl war im Garten Gethsemane sein Gebet zum Vater emporgestiegen; aber weder den jüdischen Hohepriester, noch den römischen Landpfleger suchte Er durch irgendein Wort zu bewegen. Alles, was Er in dieser Stunde zu dem Menschen sagte, geschah nur, um die Sünde ans Licht zu stellen, die der Mensch – sowohl der Jude, als der Heide – in diesem Augenblick zu begehen im Begriff war.
Welch ein Gemälde! Wer vermöchte einen solchen Gegenstand bis in seine Tiefen zu erfassen, der, wie andere bemerkt haben, zur Schau gestellt werden musste, bevor er beschrieben werden kannte! Ja, es war der vollkommene Mensch, der einmal hier auf Erden in der Fülle jener moralischen Herrlichkeit wandelte, deren Strahlen der Heilige Geist in den Blättern der Evangelien aufgezeichnet hat. Und nächst der einfachen, glückseligen und festen Versicherung seiner persönlichen Liebe zu uns, die der Herr auch in unseren Herzen vermehren möge, gibt es nichts, was unser Verlangen, bei Ihm zu sein, brennender macht, als die Entdeckung dessen, was Er selbst ist. Ich habe jemanden, der in den vier Evangelien den glanzreichen Weg des Herrn verfolgt hatte, mit einem Herzen voll Liebe und mit Tränen in den Augen ausrufen hören: „O dass ich bei Ihm wäre!“
Wenn es mir erlaubt ist, für andere das Wort zu nehmen dann, geliebte Freunde, muss ich sagen, dass dieses es ist, was uns mangelt und was wir begehren. Wir kennen unseren Mangel; aber wir können auch hinzufügen: Der Herr kennt unser Verlangen. 5. „Behalten hat seine Zeit und wegwerfen hat seine Zeit“, sagt der Prediger Salomo (Kap 3,6). Der Herr Jesus musste zur passenden Zeit zu behalten und wegzuwerfen.
Wie freigebig das Herz und die Hand im Dienst Gottes auch sein mögen, so wird dieser ihr Dienst doch nimmer eine Vergeudung oder Verschwendung sein. „Von dir ist alles hergekommen“, sagt David zum Herrn, „und von deiner Hand haben wir dir es gegeben“ (1. Chr 39,14).
Die Tiere, welche Taufende von Hügeln erklettern, sind sein; die Erde und ihre Fülle ist sein. Nichtsdestoweniger bezeichnete Pharao das Verlangen des Volkes Israels, ihrem Gott zu opfern, als Müßiggang; und die Jünger betrachteten die dreihundert Denare, die zur Salbung des Leibes Jesu verwandt waren, als einen Verlust (Mt 26,6–13; Joh 12,1–8). Aber dem Herrn das seinige zu geben – die Ehre oder das Opfer, die Liebe des Herzens, die Arbeit der Hände, oder die Güter des Hauses – das ist weder eine Verschwendung, noch ein Verlust. Die Rückgabe dieser Dinge an Gott ist unsere erste Pflicht. Und hierbei wünsche ich einen Augenblick zu verweilen.
Das Ausgehen von Ägypten ist kein Müßiggang; und das Ausschütten eines Fläschchens mit kostbarer Salbe auf das Haupt Jesu ist keine Verschwendung. Und dennoch wird von den Kindern dieser Welt und leider nur zu oft von den Heiligen Gottes über Dinge dieser Art ein solches Urteil gefällt. Wenn jemand gewisse irdische Vorteile ausschlägt und weltliche Aussichten verabsäumt, weil das Herz verstanden hat, gemeinschaftlich mit einem verworfenen Heiland seinen Weg fortzusetzen, dann ist die Zahl derer nicht gering, die dieses alles als „Müßiggang“ und „Verschwendung“ betrachten. Man hätte, meinen Sie, die Vorteile, welche man besaß, behalten, und die weltlichen Aussichten verfolgen und erreichen sollen, um dieselben dann für den Herrn zu verwerten. Doch alle, die eine solche Sprache führen, befinden sich in einem groben Irrtum. Nach ihrer Meinung muss die äußere Stellung, sowie der damit verbundene irdische und menschliche Einfluss als ein Vorrecht betrachtet und sogar als eine „Gabe zum Nutzen, zur Erbauung und zum Segen anderer“ angewandt werden (vgl. 1. Kor 12,7 ff; 14,1–3; 12 ff). Aber ein von den Menschen verworfener Christus, wird, wenn durch die Seele geistlich erkannt, uns eine ganz andere Belehrung geben. Der Rang in der Welt, die weltlichen Vorrechte und die so sehr empfohlenen Aussichten bilden jenes Ägypten, welches Moses verlieh. „Er verweigerte es, ein Sohn der Tochter Pharaos zu heißen.“ Die Schätze Ägyptens waren für ihn kein Reichtum; er konnte im Dienst des Herrn keinen Gebrauch davon machen. Er entfernte sich und der Herr begegnete ihm und bediente sich seiner erst hernach; und zwar nicht, um Ägypten mit seinen Schätzen in Kredit zu bringen, sondern um sein Volk aus dem Diensthaus Ägyptens zu befreien.
Diese Verzichtleistung auf alles, wovon uns Moses ein Beispiel liefert, muss indes in der Erkenntnis eines verworfenen Heilands und im Glauben an Ihn stattfinden; denn sonst würde dieselbe ihrer wahren Schönheit und Wirklichkeit beraubt sein. Wenn man kraft eines bloßen religiösen Grundsatzes handelt, um sich eine Gerechtigkeit oder ein Verdienst zu schaffen, so kann man mit Recht behaupten, dass dieses schlechter ist, als Müßiggang und Verschwendung. In diesem Fall hat Satan viel eher einen offenbaren Vorteil über uns erlangt, als dass wir einen Sieg über die Welt davongetragen hätten. Aber wenn das Opfer im Glauben und aus Liebe zu dem verworfenen Herrn, und zwar in dem Bewusstsein und der Erkenntnis des Verhältnisses dieses Herrn zu dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf dargebracht worden ist, dann ist es ein Opfer für Gott.
Den Menschen auf Kosten der Wahrheit und der Grundsätze Gottes zu dienen, ist kein Christentum, wenn auch diejenigen, welche also handeln „Wohltäter“ genannt werden. Das Christentum richtet den Blick sowohl auf die Ehre Gottes, als auch auf das Glück der Menschen; und in dem Maß wir diesen Gesichtspunkt aus dem Auge verlieren, werden wir versucht sein, viele Dinge, welche wirklich der Ausdruck eines heiligen, geweihten und verständigen Dienstes für Christus sind, als Zeit– und Güterverlust zu betrachten. Der Herr belehrt uns über diesen Punkt durch seine Rechtfertigung des Weibes, die ihre kostbare Salbe auf sein Haupt schüttete (Mt 26). Wir haben in all unserem Tun auf die Ehre Gottes Rücksicht zu nehmen, ob auch die Menschen ihre Anerkennung allem versagen, was nicht geradezu der guten Ordnung in der Welt angemessen und dem Wohl des Nächsten förderlich ist. Jesus entsprach in jeder Beziehung den Rechten Gottes in dieser selbstsüchtigen Welt, wiewohl Er, wie wir dieses wähl wissen, die Ansprüche des Nächsten an Ihn völlig anerkannte. Er wusste zur passenden Zeit „wegzuwerfen“ und zur paffenden Zeit zu „behalten“. – „Was macht ihr dem Weib Mühe? denn sie hat ein gutes Werk an mir getan“, sagte Er, als das Weib, weil sie das Fläschchen kostbarer Salbe auf Ihn ausgeschüttet hatte, von den Jüngern getadelt worden war, während Er nach der Speisung von Tausenden sagte: „Sammelt die übrig gebliebenen Brocken, damit nichts verloren gehe“ (Joh 6,12).
Das war in der Tat eine Beobachtung der göttlichen Regel: „Behalten hat seine Zeit und wegwerfen hat seine Zeit.“ Wenn der freigebige Dienst des Herzens oder der Hand, sobald derselbe zur Ehre Gottes stattfindet, keine Verschwendung ist, so sind doch die Krümchen der Speise des Menschen geheiligt und dürfen nicht weggeworfen werden. Er, welcher bei der einen Gelegenheit, den Aufwand von dreihundert Denaren rechtfertigt, erlaubt in den: anderen Fall nicht, dass die Brocken von fünf Gerstenbroten am Boden liegen bleiben. In seinen Augen waren diese Stücke heilig. Sie waren die Speise des Lebens, das Kraut des Feldes, welches Gott dem Menschen zu seinem Unterhalt gegeben hatte; und das Leben ist eine geheiligte Sache. Gott ist der Gott der Lebendigen. Er hat zu den Menschen gesagt: „Ich habe euch gegeben allerlei Kraut ... und allerlei fruchtbare Bäume zu eurer Speise;“ (1. Mo 1,29) und darum wird sie durch Jesus geheiligt. „Der Baum des Feldes ist des Menschen Leben“, hatte das Gesetz gesagt und folglich denen, welche unter dein Gesetz waren, das Gebot gegeben: „Wenn du vor einer Stadt lange Zeit liegen musst, wider die du streitest, sie zu erobern, so sollst du die Bäume nicht verderben, dass du mit Äxten daran fahrest; denn du kannst davon essen, darum sollst du sie nicht ausrotten. Welches aber Bäume sind, die du weiht, dass man nicht davon isst, die sollst du verderben und ausrotten“ (5. Mo 20,19–20). Es würde Verschwendung und Entweihung gewesen sein, wenn mit dem, was Gott zur Nahrung des Lebens gegeben. Missbrauch getrieben worden wäre; darum wollte Jesus in derselben Reinheit, ja in der Vollkommenheit der lebendigen Anordnung Gottes, dass nicht ein einziges Krümchen am Boden liegen bleibe. „Sammelt die übrig gebliebenen Brocken, damit nichts verloren gehe.“
Es sind dieses alles nur Einzelheiten; aber alle Umstände des menschlichen Lebens, in denen Jesus sich befunden hat, werden, wie flüchtig und unscheinbar sie auch sein mögen, durch einen Strahl jener moralischen Herrlichkeit geziert, welche stets durch ihr Licht den Pfad bestrahlt, den die heiligen, ermüdeten Füße des Heilands betreten. Das menschliche Auge war unfähig, seine Spuren zu verfolgen; aber alles stieg auf zu Gott als ein duftender Wohlgeruch und war ein angenehmes Schlachtopfer, ein Opfer der Ruhe, das Speisopfer des Heiligtums.
Es muss noch bemerkt werden, dass der Herr andere Personen nicht, wie dieses leider bei uns allen oft der Fall ist, mit Rücksicht auf sich selbst beurteilte. Wir sind von Natur geneigt andere zu beurteilen nach dem, wie sie uns begegnen, indem ihr Charakter und ihre Würdigkeit das Maß der Teilnahme bestimmen, die wir für sie an den Tag legen. Der Herr handelt nicht in dieser Weise. Gott ist ein Gott der Erkenntnis; Er wägt alle Handlungen ab; denn Er beurteilt sie alle vollkommen. Und Jesus Christus, das Ebenbild des Gottes aller Erkenntnis, handelte ebenso während der Tage seines Dienstes hienieden. Das 11. Kapitel in Lukas liefert uns dazu ein Beispiel. Es zeigte sich ein Schein von Freundlichkeit und gutem Willen bei dem Pharisäer, der den Herrn zur Tafel einlud; aber Jesus war der „Gott aller Erkenntnis“; und als solcher taxierte Er diese Handlung nach ihrem wahren Charakter.
Der Honig der Höflichkeit, der beste Bestandteil für das soziale Leben der Welt, vermochte nicht das Urteil Christi und seine Wertschätzung der Dinge zu verändern. Er billigt die Dinge, welche vortrefflich sind. Die Höflichkeit, welche Ihn einlud, beeinflusste das Urteil dessen nicht, der die Waagschale des Heiligtums Gottes in seiner Hand hatte. Es ist der Gott aller Erkenntnis, welcher hier der Höflichkeit der Welt begegnet; und sie kann nicht vor Ihm bestehen. Welch eine Lehre für uns!
Die Einladung barg einen wohlüberlegten Plan in sich. Kaum ist der Herr in das Haus eingetreten, so handelt der Hausherr als Pharisäer und nicht als Wirt. Er drückt seine Befremdung darüber aus, dass der Herr nicht vor dem Mahl seine Hände gewaschen hat: und der Charakter, den er gleich zu Anfang annimmt, zeigt sich am Ende in seiner vollen Stärke. Der Herr begegnet diesem Benehmen in einer ganz angemessenen Weise; denn Er wiegt alles, als der Gott aller Erkenntnis. Mancher wird vielleicht denken, dass die Ihm erwiesene Höflichkeit seinen Mund zum Schweigen gebracht haben müsse; aber Jesus konnte den Pharisäer nicht nur mit Rücksicht auf sich selbst betrachten. Die Schmeichelei vermochte sein Urteil nicht zu schwachen. Er deckt auf und bestraft; und das Ende der Szene rechtfertigt Ihn. „Als Er aber dieses zu ihnen sagte, fingen die Schriftgelehrten und Pharisäer an, hart auf Ihn einzudringen und Ihn über mehreres auszufragen; und sie lauerten auf Ihn, indem sie etwas aus seinem Mund zu erjagen suchten, damit sie Ihn anklagen könnten“ (Lk 11,53–54).
In einer ganz verschiedenen Weise handelt der Herr in dem Haus eines anderen Pharisäers, der Ihn ebenfalls zur Tafel geladen hatte; (Siehe Lk 7) denn Simon verbarg keine Nebenabsichten bei seiner Einladung. Freilich schien auch er als Pharisäer zu handeln, indem er bei sich selbst die arme Sünderin aus der Stadt verurteilte und seinen Gast tadelte, weil dieser deren Annäherung duldete; aber der Schein kann einem gerechten Urteil nicht zur Grundlage dienen. Oft haben dieselben, aber von verschiedenen Lippen ausgesprochenen Worte einen ganz verschiedenen Sinn. Darum, obwohl der Herr, welcher alles vollkommen Gott gemäß abwägt, ihn tadelt und bloßstellt, so nennt Er ihn doch bei Namen und verlässt sein Haus, wie ein Gast es verlassen muss. Er macht einen Unterschied zwischen dem Pharisäer in Lukas 7 und demjenigen in Lukas 11, wiewohl Er bei beiden zur Tafel saß.
Ebenso zeigt sich der Herr seinem Jünger Petrus gegenüber. In Matthäus 16 sehen wir, wie Petrus seiner zärtlichen Liebe für den Herrn Ausdruck gibt, indem er sagt: „Ei behüte, Herr; dieses wird dir nicht widerfahren.“ Aber Jesus beurteilt die Worte des Petrus nach ihrem wahren moralischen Werte. Uns würde es, wenn man gegen uns angenehm zu sein sich bemühte, eine Schwierigkeit sein, also zu handeln. Eine bloß freundschaftliche Natur hätte nicht gesagt: „Gehe hinter mich, Satan!“ sie würde sich ganz anders ausgedrückt haben. Aber, ich wiederhole es, der Herr lauscht nicht auf die Worte des Jüngers als den Ausdruck einer Güte und einer persönlichen Zuneigung zu Ihm, sondern Er richtet sie, stellt sie in die Gegenwart Gottes und findet sogleich, dass sie vom Feind herrühren,– denn er, der sich in einen „Engel des Lichts“ umwandeln kann, birgt sich oft hinter den Worten der zärtlichsten Teilnahme.
In gleicher Weise handelt der Herr mit Thomas in Johannes. 20. Thomas hatte Ihm, als „seinem Herrn und seinem Gott“ gehuldigt. Doch Jesus war selbst durch eine solche Huldigung von der moralischen Höhe, worauf Er stand und von wo aus Er alles beschaute, nicht abzubringen. Ohne Zweifel waren die Worte des Jüngers aufrichtig und einem Herzen entquollen, welches, nachträglich von Gott erleuchtet. Neue fühlte und zu dem auferstandenen Heiland zurückkehrte, indem er seine Zweifel fahren ließ und anbetete. Aber Thomas hatte sich solange als möglich ferngehalten; er hatte das Maß überschritten. Zwar waren alle Jünger bezüglich der Auferstehung ungläubig gewesen; aber Thomas hatte erklärt, solange im Unglauben verharren zu wollen, bis er durch sein Gefühl und Gesicht vom Gegenteil überzeugt werden würde. Das war sein moralischer Zustand; und Jesus richtet denselben und stellt den Jünger, wie einst den Petrus, an seinen wahren Platz, indem Er zu ihm sagt: „Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Glückselig, die nicht gesehen und geglaubt haben.“ – Würden in einem ähnlichen Fall unsere Herzen nicht von Erstaunen fortgerissen worden sein? Würden sie den Anfällen der zärtlichen Zuneigung des Petrus und der Scham des Thomas widerstanden haben? Aber unser vollkommener Lehrer steht hier nicht für sich, sondern für Gott und für die Wahrheit Gottes. Die Israeliten mochten der Bundeslade alle Ehre erweisen und sie auf das Schlachtfeld schaffen, (1. Sam 4) und zwar in der Meinung, dass ihre Gegenwart alle Dinge zu ihrem Besten lenken werde; – der Gott Israels aber hatte andere Gedanken. Denn obwohl die Arche bei Israel war, so wurde dennoch das Volk durch die Philister geschlagen. Ebenso wurden Petrus und Thomas bestraft, wiewohl Jesus, der Gott Israels durch sie geehrt wurde. – (Fortsetzung folgt)