Botschafter des Heils in Christo 1868
Sünde und Gnade
Je mehr wir die Sünde im Licht Gottes erkennen, desto vollkommener und klarer tritt die Gnade Gottes vor unser Auge; und je fähiger wir sind, um den überschwänglichen Reichtum dieser in Christus Jesus offenbarten Gnade zu ergründen, desto bestimmter unterscheiden wir das Wesen der Sünde in ihren verborgensten Tiefen. Das ist eine ganz natürliche Erscheinung; denn je klarer die Sonne ihre Strahlen auf die Erde wirft, desto sichtbarer zeigen sich die Schatten. Wir werden daher nur in dem Maß die Gnade zu schätzen und zu würdigen im Stande sein, als die Sünde in ihrer Quelle, in ihrem Wesen und in ihren Folgen unseren Blicken enthüllt ist. Sieht das erwachte Gewissen des Sünders nichts anders, als die schwarzen Punkte begangener Sünden, so sucht man auch nur einen Heiland, der Sünden vergibt; erkennt die Seele aber unter fortdauernder Gnadenwirkung nicht nur die einzelnen Sünden, sondern die im Fleisch wohnende Sünde selbst, erkennt sie, dass der Mensch fleischlich, unter die Sünde verkauft, mithin ahne Hoffnung und verloren ist, dann erwacht auch das Bedürfnis nach einem Heiland, der, indem Er an seinem eigenen Leib die Sünde am Holz getragen, ihre Quelle verstopft, ihre Macht gebrochen und uns freigemacht hat von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Habe ich gesündigt, so bedarf ich der Vergebung; bin ich ein Feind Gottes, und mithin unter seinem Zorn, so bedarf ich der Versöhnung; bin ich ein Gefangener des Fürsten dieses Zeitlaufs, ein Sklave der Sünde, so bedarf ich der Befreiung; hat mich die Sünde aus der Gegenwart Gottes verdrängt, so bedarf ich der Rechtfertigung des Lebens, um, bekleidet mit der Gerechtigkeit Gottes selbst, in seine heilige Nähe treten zu dürfen; bin ich tot in den Vergehungen und in den Sünden, so bedarf ich des ewigen Lebens, um die Atmosphäre des Heiligtums Gottes einatmen zu können. Mit einem Wort: Bin ich vollkommen verloren, so ist auch eine vollkommene Gnade erforderlich, um gerettet und fähig gemacht zu werden, als sein Werk in den von Gott in Christus Jesus zuvor bereiteten guten Werken wandeln zu können (Eph 2,10) Gott aber sei ewig gepriesen, dass wir alles dieses, in dem ein für alle Mal geschehenen Opfer des Leibes Christi in der reichsten Fülle gefunden haben!
Eine kurze Betrachtung über Johannes 18,1–11 wird uns eine Erläuterung für obige Behauptungen an die Hand geben. Der Heilige Geist gestattet uns, hier einer Szene der ernstesten Art beiwohnen zu dürfen. Die an den Vater gerichteten Worte Jesu waren beendet; und „Er ging hinaus mit seinen Jüngern jenseits des Baches Kidron, wo ein Garten war; in welchen Er hineinging und seine Jünger“ (V 1). Die Stunde der Finsternis nahte mit raschen Schritten. Tage der Mühsal und der Beschwerde lagen hinter Ihm; aber die schrecklichen Augenblicke des Verlassenseins von Gott, des Gerichts und des Todes breiteten die finsteren Schatten des Kreuzes vor Ihm aus. Dornenvoll war seither sein Pfad gewesen; Satan hatte Ihn versucht, die Welt hatte Ihn nicht erkannt; und die Seinen hatten Ihn nicht aufgenommen; aber was war alles dieses im Vergleich mit dem, was Er, unter dem Gewicht unserer Sünde zusammenbrechend, von der Hand eines gerechten und heiligen Gottes erdulden sollte? Längst schon war das „Hosanna dem Sohn Davids!“ (Mt 21,9) verhallt: bald sollte der schauerliche Ruf: „Kreuzige, kreuzige Ihn!“ in sein Ohr dringen.
Und alles dieses wusste seine bestürzte Seele; Er sah schon von ferne die gewaltigen Wogen des Todes, sein Ohr vernahm schon das Geschrei derer, die „ihr Maul wider Ihn aufsperrten, gleich einem reißenden, brüllenden Löwen.“ Aber nichts vermochte auf dem jetzt betretenen Schreckenspfad seinen Schritt zu hemmen; seine Liebe war stärker als alles. Noch einmal durchschritt sein Fuß jenen Garten, in welchem Er sich „oft mit seinen Jüngern versammelte“ (V 2). Aber die Schatten der Ölbäume boten Ihm dieses Mal keinen Platz, um ein wenig auszuruhen von seiner Arbeit. Ach nein! Schrecklicher Verrat lauerte auf seine längst ersehnte Beute; denn „Judas, sein Überlieferer, kannte den Ort.“ Die Ferse dessen, der sein Brot gegessen, war wider Ihn aufgehoben (Joh 13,18). Einer von den Zwölfen, die drei Jahre hindurch Ihn begleitet. Seine Macht bewundert und seine Liebe genossen hatten, hatte, geleitet durch die List und Bosheit Satans, freventlich alle Bande zerrissen, um zur Ausführung eines Verbrechens, wie nie diese fluchbeladene Erde ein zweites sah, als Werkzeug zu dienen. Welch ein verwundender Schmerz mochte das Herz des Herrn durchbohren, als Er die Worte sagte: „Einer von euch wird mich überliefern!“ (Joh 13,21) Nicht einer von den Nationen, nicht einer von den Pharisäern und Schriftgelehrten, nicht einer von den Zöllnern und Sündern, nein – „Einer von euch.“ – „Da nimmt Judas die Schar und Diener von den Hohepriestern und Pharisäern und kommt dahin mit Leuchten, Fackeln und Waffen“ (V 3). Welch eine schreckliche Finsternis musste die Seele dieses „Sohnes des Verderbens“ beherrschen!
Aber jetzt beginnt für uns der Augenblick, um sowohl die Sünde, als auch die Gnade in ihren kräftigsten Zügen, in ihrer höchsten Vollendung sich vor unseren Blicken entfalten zu sehen. „Jesus nun. Alles wissend, was über Ihn kommen würde, ging hinaus und sprach zu ihnen: Wen sucht ihr? – Sie antworteten Ihm: Jesus, den Nazaräer! – Spricht Jesus zu ihnen: Ich bin es – Aber auch Judas, der ihn überlieferte, stand bei ihnen“ (V 4–5). Wer sind diese beiden, die sich hier gegenüberstehen? – Es ist Gott in seiner Gnade und der Mensch in seiner Sünde. Auf der einen Seite steht der Herr der Schöpfung, das fleischgewordene Wort, der von Gott gesandte Heiland der Sünder; und auf der anderen das abgefallene Geschöpf, der Sklave der Sünde, der von Satan überlistete, gefangene und zum Werkzeug seiner finsteren Pläne ausersehene Sünder. Hier das Licht, dort die Finsternis; hier eine unendliche Liebe, dort die ausgeprägteste Feindschaft; hier der Weg, die Wahrheit und das Leben, dort das Verderben, die Lüge und der Tod. Unmöglich könnten grellere Gegensätze einander gegenübergestellt werden. Sehe ich Jesus, so erblicke ich eine in ihrer Natur, in ihrem Wesen und in ihrer ganzen Erscheinung durchaus fleckenlose, göttlich reine Person; ich sehe den von Gott geborenen, neuen Menschen, den Abglanz der Herrlichkeit und den Abdruck des Wesens Gottes (Heb 1,3). Richte ich mein Auge auf Judas, so erblicke ich den natürlichen, von der Sünde verdorbenen, bis zu seiner völligsten Nacktheit entblößten Menschen, und zwar in dem höchsten Stadium seiner Feindschaft und Rebellion wider Gott. Und wie verschieden sind die Beweggründe des Zusammentreffens dieser beiden, die unser Auge in dem Garten jenseits des Baches Kidron erblickt. Judas, in Begleitung der Schar und Diener, von den Hohepriestern und Pharisäern, sucht „Jesus den Nazaräer.“ Warum? Ist es das Suchen einer hilfsbedürftigen, heilsbegierigen Seele? Gerade das Gegenteil. Er sucht Ihn, um, vorgeschoben von dem Fürsten dieser Welt, Ihn den Nationen zu überliefern. Der unauslöschliche Hass der Juden, die da sagten: „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche!“ – die Feindschaft des natürlichen Herzens, welches die Finsternis mehr liebt, denn das Licht, sowie endlich die mächtigen Wirkungen Satans, der in ihn gefahren war, – das waren jetzt die einzigen Triebfedern seiner Handlungen. Er suchte Jesus, um Ihn dem Verderben zu überliefern. Schreckliche Verblendung! In deutlichem Farben könnte uns der Zustand des Menschen nicht vor Augen gestellt werden. Ach, wohin hat die Sünde ihn gebracht! Zu welch entsetzlicher Höhe ist die Bosheit seines Herzens gewachsen! Es ist wahr, solange die Sünde in der Welt ist, hat sich der Mensch stets dem Willen Gottes entgegengesetzt. Als Übertreter des Gesetzes, als Diener und Anbeter der Götzen und als Sklave seiner Leidenschaften und Lüfte hat er die unumstößlichsten Beweise von seiner Ohnmacht und von seiner Feindschaft wider Gott geliefert; aber wer hätte glauben können, dass er sogar die Mörderhand an den Gesalbten Gottes selbst zu legen im Stande sei? Dieser höchste Beweis des grundlosen Verderbens des Menschen musste noch geliefert werden. Und diese Stunde seiner gänzlichen Enthüllung war jetzt gekommen. Er sucht Jesus, um Ihn von der Erde zu vertilgen.
Aber ist es nicht gerade dieser hohe Grad menschlicher Bosheit und Versunkenheit, ist es nicht die Sünde in ihrem schwärzesten, grauenhaftesten Gewände, wodurch die Gnade in den Stand gesetzt wird, sich in ihrem hellsten und lieblichsten Glänze entfalten zu können? Und ist andererseits die freie, bedingungslose, unumschränkte Gnade, in welcher Gott dem Menschen begegnet, nicht das geeignetste Mittel zur Offenbarung dessen, was der Mensch von Natur ist? Einer solchen Gnade gegenüber ist die Sünde furchtbar entsetzlich; einem solchen Zustand des Sünders gegenüber ist die Gnade überaus herrlich. Später wird die Gerechtigkeit Gottes die Sünde ins Licht stellen; jetzt tut es die Gnade. Einst riss sich das um das goldene Kalb tanzende Volk los von Jehova, der, als ein eifriger Gott, die Sünde heimsuchte an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied; hier aber steht der Mensch auf dem letzten Höhepunkt seiner Widersetzlichkeit und Feindschaft, um den Gott aller Gnade von sich zu stoßen. Welch ein Fortschritt des Bösen! Judas, das verkörperte Bild des menschlichen Zustandes unter der Leitung Satans, sucht Jesus, den Nazaräer, um Ihn zu verderben. Zu einem höheren Grad konnte sich die Bosheit des Menschen nicht steigern; sie hat ihren Gipfelpunkt erreicht. Ach! der Mensch, bereit seine Hand an den Herrn zu legen, sah es nicht und konnte es nicht sehen, dass Er gekommen war, zu suchen und zu erretten, was verloren war. Gott in seiner Gnade, der Mensch in seiner Sünde stehen sich hier gegenüber; Einer sucht den anderen. Jesus ist auf dem Weg, den Sünder vom Verderben zu retten; der Mensch hat sich aufgemacht. Ihn ins Verderben zu stürzen; Jesus, von Gott gesandt, bietet das Leben; der Mensch, geleitet Dom Satan, erscheint hier als Mörder, um Ihn in den Abgrund des Todes hinab zu ziehen. Himmel und Hölle, Leben und Tod, Licht und Finsternis Christus und Belial bereiten und rüsten sich zum letzten entscheidenden Kampf. Auf welcher Seite wird der Sieg sein?
„Als Er nun zu ihnen sagte: Ich bin es, traten sie zurück und fielen zu Boden. Da fragte Er sie wiederum: Wen sucht ihr? – Sie aber sprachen: Jesus, den Nazaräer“ (V 6–7). „Ich bin es!“ – ein kurzes Wort; aber wie gewaltig ist seine Wirkung! Wie einst die Teufel sagten: „Warum quälst du uns vor der Zeit?“ so zeigen auch hier die zu Boden sinkenden Schergen, dass ihre Gewissen von der Majestät dessen überführt sind, der sagen konnte: „Ich bin es!“ Dieses kurze Wort war genügend, um klar ans Licht zu stellen, dass Jesus, der Nazaräer, nicht unter der Gewalt Satans stand, sondern dass Er gekommen war, um den Gewaltigen zu binden und ihn seines Hausrats zu berauben. Er konnte sagen: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich es wieder nehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht es wieder zu nehmen“ (Joh 10,17–18). Nur eines Schimmers seiner königlichen Macht und Hoheit bedurfte es, um den verwegensten Sünder zu Boden zu werfen; und welcher Schrecken wird die Menschen ergreifen, wenn Er als Richter erscheinen wird, wenn „Seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und seine Füße gleich glänzendem Kupfer, als glühten sie im Ofen, und seine Stimme wie die Stimme vieler Wasser“? (Off 1,15) – Doch nein; noch waren die Tage des Gerichts nicht gekommen; die Morgenröte der angenehmen Zeit des Heils zeigte sich schon von fern. Ob auch die am Boden liegende Schar nicht, über Sünden zerknirscht, die erbarmende Liebe und die vom Verderben rettende Macht Jesu suchten, sondern in der Bosheit ihres Herzens verharrten, so stand dennoch Gott nicht in Gerechtigkeit, sondern in Gnade vor ihnen. Der letzte Schritt der Sünde musste ausgeführt werden, damit die Gnade sich ungehemmt und in vollen Strömen dem elenden Sünder zuwenden konnte. „Jesus antwortete: Ich habe euch gesagt, dass ich es bin; wenn ihr denn mich sucht, so lasst diese gehen; – auf dass das Wort erfüllt würde, welches er sagte: Die du mir gegeben hast, von ihnen habe ich keinen verloren“ (V 8–9). Wunderbare, anbetungswürdige Gnade! Freiwillig und voll Erbarmen überlieferte der Herr sich seinen Feinden; damit der Mensch seine verbrecherische Hand an Ihn lege und erfahre, in welch schauerliche Tiefe die Sünde ihn hinabgezogen habe, aber auch, bis zu welch glückseliger Höhe die Gnade ihn zu erheben vermöge. Der Mensch hatte sich als fähig erwiesen, das scheußlichste Verbrechen zu begehen – tiefer konnte er nicht sinken; die letzte, entscheidende Probe war mit ihm gemacht. Auf Gottes Seite war es jetzt, einem solchen Menschen gegenüber die Überschwänglichkeit seiner Gnade zu offenbaren. –
„Sucht ihr denn mich, so lasst Diese gehen!“ Die Majestät, von dessen Glanz geblendet die Häscher zu Boden stürzten, ward wieder verhüllt unter dem Gewand des sich selbst erniedrigenden Jesus, des Nazaräers. Die Sünde musste ihren Lauf vollenden, damit die Gnade ihren Lauf beginnen könne; die Hand des frevelnden Menschen musste sich zum Todesstoß erheben, damit das Blut, welches von allen Sünden reinigt, für den Menschen sich als Lösegeld zu ergießen vermochte. „Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, da ist die Gnade viel überschwänglicher geworden“ (Röm 5,20). Der Mensch suchte und kreuzigte den Herrn; und überströmend voll war das Maß seiner Sünde; aber der Sohn Gottes gab freiwillig sein Leben hin für den Menschen, der Ihn verwarf; und das eben stellt die Überschwänglichkeit der Gnade ins hellste Licht. Und wer waren „Diese“, welche frei ausgehen sollten? Es waren die, welche Gott sich vor Grundlegung der Welt auserkoren, welche der Vater Ihm gegeben und von denen Er Keinen verloren hatte. Um sie zu befreien von den Ketten der Finsternis, ließ Er sich binden und zur Schlachtbank führen. Für seine Schafe gab Er sein Leben; und ob auch die Hölle triumphierte, die Welt frohlockte, die Jünger flohen und Gott selbst sein Antlitz vor Ihm verbarg, so konnte, im vollen Bewusstsein alles dessen, was über Ihn kommen sollte. Sein liebevolles Herz dennoch sagen: „Den Kelch, welchen mir der Vater gegeben, soll ich den nicht trinken?“ (V 11)
Ja, Er hat den bitteren Kelch des Leidens und des Todes getrunken; kein Tropfen blieb dann für uns zurück. Für uns zur Sünde gemacht, trug Er am Fluchholz alle unsere Sünden; für uns durchschritt Er das Tal des Todesschattens; für uns neigte Er sein Haupt unter dem schweren Druck des gerechten Zornes Gottes. Die Sünde forderte ihren Lohn; Er zahlte mit seinem Leben und jede Schuld ist getilgt; die Schlachtreihen Satans rafften ihre letzten Kräfte wider Ihn zusammen; aber freiwillig überlieferte Er sich den Händen seiner Feinde, „auf dass Er durch den Tod zunichtemachte den, der die Kraft des Todes hat, – das ist den Teufel“ (Heb 2,14). Die Gerechtigkeit Gottes richtete ihre unerlässlichen Forderungen an den mit unseren Sünden beladenen und für uns zur Sünde gemachten Heiland; und Er befriedigte diese Forderungen so vollständig, dass Er sagen konnte: „Und jetzt verherrliche du mich, Vater, bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war“ (Joh 17,5). das Kreuz Christi hat alle Bande zwischen dem Menschen und der Sünde gelöst, und allen Forderungen der Gerechtigkeit vollständig entsprochen. Nachdem der Mensch durch alle Proben hindurch sich als „tot in den Vergehungen und in den Sünden“ (Eph 2,1), und als „entfremdet von dem Leben Gottes“ (Eph 4,18) erwiesen hatte, trat Gott, weil Er reich ist an Barmherzigkeit, auf den Schauplatz, um den Menschen, dessen verbrecherische Hand den geliebten Sohn in den tiefen Abgrund des Todes hinabgezogen hatte, aus diesem Abgrund zu befreien und Ihn ewig glücklich zu machen. Der Mensch gedachte es böse zu machen; Gott aber gedachte es gut zu machen. Selbst das scheußlichste Verbrechen, welches je der Mensch begehen konnte, verwandelte Er in seiner unendlichen Liebe zu einem heil– und Rettungsmittel für den Sünder. Welch ein Gott. Welch eine grenzenlose Gnade!
O geliebte Brüder! Lasst uns nie vergessen, wie schrecklich die Sünde ist! In Satan, dem Lügner, dem Mörder von Anfang, sehen wir ihre Quelle; und er hat es verstanden, durch seine Bosheit und durch Betrug der Sünde, den unglücklichen Menschen– in das allertiefste Verderben zu stürzen. Die äußerste Grenze ist erreicht; nicht um eine Linie konnte der Mensch tiefer sinken. Aber sowie die Verwerfung Christi von Seiten des Menschen uns den entsetzlichen Höhepunkt der Sünde zeigt, so enthüllt uns die Hingabe Christi von Seiten Gottes die ganze Fülle und Tragweite der Gnade. Das Kreuz Christi ist die deutlichste Offenbarung dessen, was der Mensch, und dessen, was Gott ist. Je klarer unser Verständnis über die Scheußlichkeit der Sünde ist, desto preis– und anbetungswürdiger erscheint uns die Gnade. Und was hat diese reiche, diese überströmende Gnade getan? Sie hat nicht nur den also versunkenen und rettungslos verlorenen Menschen durch Glauben an das vergossene Blut Christi dem äußersten Verderben entrissen, sondern ihn auch durch Vereinigung mit Christus auf die höchste Stufe einer unbeschreiblichen Glückseligkeit erhoben. Wie die Sünde für den Menschen keine tiefere Grube des Verderbens graben konnte, so vermochte auch die Gnade keinen gesegneteren, keinen glückseligeren und höheren Platz ausfindig zu machen, als den, auf welchen Gott in der ganzen Stärke seiner Liebe den Geretteten gestellt hat.
O möchten unsere Herzen doch zurückschaudern vor jeder Art von Sünde, von der wir durch die Gnade befreit sind! Möchten wir immer tiefer eindringen in den Reichtum dieser Gnade und mit Dank erfülltem Herzen eifrig sein. Ihm zu leben, „der sich selbst für uns gegeben hat, auf dass er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentumsvolk, eifrig in guten Werken“ (Tit 2,14).