Botschafter des Heils in Christo 1868
Ist man nach dem Sterben glücklich?
Die Frage, ob die Seele unmittelbar nach der Trennung vom Leib im Genüsse einer vollkommenen Glückseligkeit sei, ist von großer Bedeutung. Es ist ganz gewiss, dass das Kommen des Herrn die Hoffnung des Christen, die Hoffnung der Kirche ist, und dass, was uns persönlich betrifft, auch wir erst dann einen verherrlichten Leib empfangen werden. Selbstredend ist das Werk der Erlösung nicht eher beendigt, als bis unsere sterblichen Leiber durch die Macht der Auferstehung lebendig gemacht sind (Röm 8,11). Dann erst wird schließlich die große Frage in Römer 7: „Wer wird mich erretten von diesem Leib des Todes?“ – tatsächlich beantwortet worden sein. Dem Grundsatz nach ist diese Sache jetzt schon geschehen, wir halten uns für tot und auferweckt; und obwohl wir noch hienieden uns in dem Leib unserer Niedrigkeit befinden, so wandeln wir doch als Lebende, weil wir die Auferstehung Christi als Ausgangspunkt und unsere persönliche Auferstehung als Ziel haben. Letztere bildet also unsere persönliche Vollendung; (siehe Röm 8,11–25; 1. Kor 15,51–58; 2. Kor 4,15; 5,1–5; Phil 3,20–21; Eph 4,30; 1. Thes 4,15–18) und das ist es, was eigentlich die christliche Hoffnung ist.
In Betreff unseres Abscheidens möchte ich daher folgendes bemerken. Wir befinden uns im Leben. Dieses Leben ist nach dem Tod gekommen; derselbe ist also nicht mehr vor uns, sondern hinter uns. Wir sind bereits im Besitz des Lebens; und dieses Leben kann weder unterbrochen noch gestört werden, weil es das ewige Leben ist. Ich habe gesagt, dass dieses Leben nach dem hinter uns liegenden Tod gekommen ist; und dieser Tod war der Tod desjenigen Lebens, welches früher war und jetzt nicht mehr vorhanden ist (Gal 4,20). dieser Tod des Lebens Adams ist also ein Gewinn; und als solcher ist er unser; (1. Kor 3,22) er ist unser Befreier. Dem Grundsatz nach ist diese Sache am Kreuz völlig abgemacht; und mir werden ermahnt, eine praktische Anwendung davon zu machen (Kol 3,5). Durch diese praktische Anwendung, indem wir uns für tot halten, werden wir mehr und mehr von dem befreit, was der Tätigkeit des neuen Lebens hindernd im Weg steht. Es ist also ein Gewinn für uns, diesen Tod in uns zu verwirklichen und „allezeit das Sterben des Jesus an unserem Leib umher zu tragen“ (2. Kor 4,10).
Wir sind mit dem Vater und dem Sohn in Gemeinschaft, weil wir das Leben haben; und je mehr wir den Tod verwirklichen, desto mehr ist diese Gemeinschaft auch in praktischer Beziehung eine innige, weil wir die Hindernisse derselben töten. Wenn nun überhaupt der Tod ein Gewinn ist, wie viel größer wird dann der Gewinn sein, wenn wir mit allem, was sterblich und ein Hindernis ist, mit allem, was unser Seufzen hervorbringt, für immer fertig sind? Ja, es ist in der Tat ein großer Gewinn, von diesem Leib der Niedrigkeit und von dem ihm angehörenden Fleisch für immer befreit zu sein. Und wenn wir schon hienieden die Innigkeit unseres Verhältnisses mit unserem Herrn und Heiland genießen dürfen, was anders wird der Zustand: „ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn zu sein“, sein können, als der völlige und ungehinderte Genuss unserer persönlichen Vereinigung mit diesem teuren und gesegneten Erlöser. Wahrlich, „abzuscheiden und bei Christus zu sein“ ist weit besser, als in diesem Leib und in dieser Welt zu wohnen. Beim Herrn zu sein, – welch ein erfreulicher Gedanke! Was könnte uns persönlich Besseres begegnen, als „abzuscheiden und bei Christus zu sein.“ Ich sage „persönlich“; denn als Gesamtheit erwarten wir die Herrlichkeit – herrliche Leiber, ähnlich dem Leib Jesu. In der Herrlichkeit werden wir auch einer den anderen genießen; wir werden in Einheit und Herrlichkeit vollendet sein (Joh 17,22–23). Wir werden gekrönt werden, wenn wir mit dem Herrn gewandelt und seine Erscheinung geliebt haben; (2. Tim 4,6) und das ist in der Tat eine herrliche Erwartung und ein köstlicher Trost. Doch alles dieses kann nicht die Wirkung haben, dass wir den unendlichen Gewinn, persönlich bei dem Herrn ohne Störung die Herrlichkeit erwarten zu dürfen, geringachten und es vorziehen möchten, hier, wo wir steten Schwierigkeiten und Kämpfen ausgesetzt sind, diese Herrlichkeit zu erwarten. – Nichtsdestoweniger aber lohnt es sich, in Betreff des Dienstes Christi, sicher der Mühe, hienieden zu bleiben (Phil 1,21). Wie köstlich ist unser Teil! „Das Leben ist für mich Christus, und das Sterben Gewinn.“ Ich glaube, dass der Feind den Mangel an Befreiung bei vielen Christen dazu benutzt, um ihnen Furcht vor dem Tod einzuflößen, so dass sie, geleitet durch diese Furcht, der Verwandlung den Vorzug geben (vgl. 2,14–15), In diesem Fall ist es unbedingt nötig, der Wahrheit Nachdruck zu geben, dass Sterben Gewinn ist; und dieses tun zu dürfen, ist in der Tat ein schätzenswertes Vorrecht.
In Philipper 3 wünscht Paulus dem Tod Christi, seines Herrn, gleichgestaltet zu werden. Er will den herrlichen Christus erreichen; er will zur Auferstehung aus den Toten gelangen. Es kümmert ihn nicht, welches, um dahin zu gelangen, der Weg sei; und müsste er auch, wie Christus, durch den Tod gehen, so stört das seine Sehnsucht nicht, das Ziel zu erreichen. Habt ihr schon an das Vorrecht gedacht, persönlich auf gleichem Weg wie Christus, d. h. durch den Tod, tatsächlich (bezüglich des Körpers) und hernach durch die Auferstehung in die Herrlichkeit zu gelangen?
Ferner ist noch Folgendes hervorzuheben: Wenn man mit dem Herrn gewandelt hat, und vor Gott offenbar ist, so dass in diesem Augenblick nichts mehr in Ordnung gebracht werden muss, dann macht man eine Erfahrung von dem, was Jesus ist, die man aber weder machen noch verstehen kann, ohne durch den Tod zu gehen und nach dieser letzten, köstlichen Erfahrung ist man bei Ihm. Kann es für uns persönlich etwas Süßeres und Wünschenswerteres geben? Und gerade weil so manche Seele bei dem Gedanken an den Tod erinnert wird an die körperlichen Leiden, die gewöhnlich dem Heimgang vorangehen, sowie an die schwierigen Umstände, die ihn für die zurückbleibenden nicht selten begleiten, so ist es umso notwendiger, einen besonderen Nachdruck auf den persönlichen Gewinn zu legen, der in der Sache selbst für den liegt, der diesen Weg zu gehen hat; denn das Sterben ist wahrlich in vielen Beziehungen ein großer Gewinn.
Welch ein Glück, des Herrn Eigentum zu sein und nicht nötig zu haben, etwas wählen oder vorziehen zu müssen, sondern sich seinem Willen mit Zuversicht übergeben zu können, wissend, dass „Keiner von uns sich selbst lebt, und keiner sich selbst stirbt; denn sei es, dass wir leben, wir leben dem Herrn; sei es, dass wir sterben, wir sterben dem Herrn“ (Röm 14,78). – Allerdings aber lohnt es sich auch der Mühe, hienieden für den Herrn zu bleiben. Wie wichtig ist unser christlicher Lauf für Ihn und für uns! Er selbst bittet in Johannes 17 den Vater, dass Er die Seinen nicht von der Welt nehme, sondern dass Er sie vor dem Bösen bewahre; und in der Tat gibt es Heimgänge, die, anstatt ein Vorrecht zu sein, nur Züchtigungen sind: siehe Apostelgeschichte 5,1–11; 1. Johannes 5,16–17; 1. Korinther 11,30–32 obschon es immer wahr bleibt, dass das „Ausheimischsein vom Leib“ ein „Einheimischsein bei dem Herrn“ ist (2. Kor 5,18). Wollen wir ein schönes Beispiel von der Art jenes wahren Heimgangs sehen, welches ich als ein Vorrecht bezeichnet habe, dann müssen wir auf die Sprache des glücklichen Apostels in 2. Timotheus 4,6–8 lauschen. Ja, in der Tat, wenn man sagen kann, dass man den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet hat, wenn man weiß, woher man kommt und wohin man geht, was gibt es dann Köstlicheres, als abzuscheiden und bei Christus zu sein, und dort, in dem vollkommenen Genuss unserer persönlichen Verbindung mit Jesu, die Herrlichkeit und die Krone zu erwarten.
Indes wünsche ich, dass man keineswegs denken möchte, als ob ich den geringsten Gedanken habe, die positive Herrlichkeit der Verwandlung zu schwächen. Sie ist und bleibt die herrliche Frucht des Sieges, welcher über den Tod errungen worden ist, so dass für uns das Sterben des Leibes eine Möglichkeit, aber nicht eine Notwendigkeit ist (Joh 11,24–26). Mein Zweck ist nur, die allgemeine Neigung unbefreiter Christen zu bekämpfen, die, weil sie noch den Tod fürchten, aus der Verwandlung eine Spekulation machen. Leider ist diese Furcht oft ein Beweis, dass man das Leben wenig verwirklicht. Welche Sicherheit, sich einfach dem zu überlassen, was Gott für uns beschlossen hat, und zu verstehen, dass wir, während wir im Leib sind, keine andere Aufgabe haben, als uns zu beeifern, dem Herrn wohlgefällig zu sein (2. Kor 5,9–10).