Botschafter des Heils in Christo 1867
"Mache dich auf und ziehe nach Bethel"
Diese Worte fassen eine tiefe praktische Wahrheit in sich, auf welche ich für etliche Augenblicke die Aufmerksamkeit meiner Leser lichten möchte. Sie zeigen uns in der deutlichsten Weise, dass Gott uns immer wieder in die uns ursprünglich bestimmten Grenzen zurückführt. Viele Christen mögen dieses nicht begreifen. Viele mögen es nicht in Übereinstimmung finden mit der freien Gnade, in welcher wir stehen und welche „herrscht durch die Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn!“ Viele mögen eine jegliche Einschränkung dieser Art, als den Schein der Gesetzlichkeit an sich tragend, mit einer gewissen Furcht von sich abweisen, – dennoch bleibt die darin enthaltene Wahrheit unumstößlich, und wir sollten uns wohl hüten. Alles über Bord zu werfen, was bestimmt ist, in göttlicher Weise auf das Herz und Gewissen des Gläubigen zu wirken. Wenn wir wünschen, dass die Wahrheit alle ihre Seiten vor unserer Seele entfalten soll, dann dürfen wir, falls irgendeine, auf den ersten Blick streng scheinende Forderung Gottes unser Ohr berührt, dieselbe nicht als „gesetzlich“ bezeichnen und verwerfen. Wir sind berufen, das „Wort der Ermahnung zu ertragen“ und unsere Herzen zu richten auf alle heilsamen Worte, die dazu bestimmt sind, unserer praktischen Gottseligkeit und persönlichen Heiligkeit Vorschub zu leisten. Wir wissen, dass die reinen und kostbaren Lehren der Gnade, jene Lehren, welche in der Person Christi ihren lebendigen Mittelpunkt, und in seinem Werk ihr ewiges Fundament finden – die passenden Mittel sind, welche der Heilige Geist benutzt, um die Heiligkeit im Leben des Christen zu fördern; aber wir wissen auch, dass, wenn diese Lehren bloß mit dem Verstand aufgefasst sind und mit den Lippen bekannt werden, das Herz nichts von ihrer Kraft verspüren und das innere Leben in seinem Wachstum nicht gefordert werden wird. Und wir finden nicht selten, dass gerade diejenigen, welche sich oft am lautesten gegen alles, was sie als gesetzlich bezeichnen, erheben, oft am wenigsten die heilsamen Einflüsse der Gnade kennen, während die, welche wirklich die Gnade kennen und ihre reinigende und unterweisende Kraft erfahren, mit Freuden jeder Mahnung das Herz und das Gewissen öffnen.
Wenn wir nun aber gesagt haben, dass Gott uns immer wieder in die ursprünglich bestimmten Grenzen zurückführe, so ist das in dem Sinn verstanden, dass, wenn Gott uns in eine besondere Stellung berufen hat, die wir aus Schwachheit oder aus Untreue verlassen. Er uns immer wieder in dieselbe zurückrufen wird. Freilich trägt er uns mit großer Geduld und wartet in langmütiger und gnadenreicher Weise; aber Er ruht nicht, bis wir den ursprünglichen Platz wieder eingenommen haben.
Und haben wir nicht Ursache, Ihn dafür zu preisen? Ohne Zweifel. Könnten wir den Gedanken ertragen, dass wir den uns angewiesenen Platz verlassen und uns nach dieser oder jener Richtung hin verirren könnten, ohne dass Er sich um uns kümmern und uns wieder zurechtbringen würde? Unmöglich. Nein, sicher wünschen wir, dass Er uns in einem solchen Fall wieder an die „alten Grenzen“ erinnern möchte. Und Er tut es und hat es von jeher getan. Als Petrus am See Genezareth bekehrt wurde, verließ er alles und folgte Jesus nach; und dennoch strömten, von den Lippen des zum Himmel fahrenden Herrn, seinem Ohr die letzten Worte zu: „Folge mir nach!“ Dieses war nichts als ein zurückführen in die ursprünglichen Grenzen. Das Herz Jesu konnte sich mit nichts wenigerem begnügen; und ebenso sollte auch sein Diener nichts anderes wollen. Am See Genezareth begann Petrus seinem Herrn und Meister nachzufolgen. Was aber nun? Jahre schwanden dahin; Petrus tat manchen Fehltritt; er verleugnete seinen Herrn; er kehrte zu seinen Booten und Netzen zurück. Und was folgte nun? Petrus wurde völlig wiederhergestellt; und als er in diesem Zustand am See Tiberias in der Nähe seines liebenden Herrn stand, war er genötigt, auf das kurze, bestimmte Wort: „Folge mir nach!“ zu lauschen – ein Wort, welches in seinem umfassenden Bereich alle Einzelheiten eines im Dienst tätigen und in der Trübsal ausharrenden Lebens in sich vereinigt. Mit einem Wort – Petrus wurde in die ursprünglichen Grenzen zurückgeführt, in jene Grenzen, welche Christus und seine eigene Seele umschlossen. Er wurde dahin geführt zu lernen, dass das Herz Jesu keinen Wechsel erlitten habe und seine Liebe eine unauslöschliche, unveränderliche sei, und dass Er, weil dieses also war, darum auch keinen Wechsel in dem Herzen des Jüngers, keine Entfernung aus den ursprünglich bestimmten Grenzen dulden könne.
Dieselbe Sache aber finden wir genau in der Geschichte des Patriarchen Jakobs. Wenden wir ihm etliche Augenblicke unsere Aufmerksamkeit zu. In der letzten Hälfte des 28. Kapitels des 1. Buches Mose wird uns die Stätte bezeichnet, die der Herr und Jakob einnahmen. Dort lesen wir: „Aber Jakob zog aus von Beerscheba und reiste gen Haran, und kam an einen Ort, da blieb er über Nacht; denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein des Ortes und legte ihn zu seinen Häupten; und legte sich an demselben Orte schlafen. Und ihm träumte und siehe eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel; und siehe die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der Herr, Abrahams, deines Vaters, Gott, und Isaaks Gott; das Land, worauf du liegst, will ich dir und deinem Samen geben. Und dein Same soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen den Abend, Morgen, Mitternacht und Mittag; und durch dich und deinen Samen sollen alle Geschlechter der Erde gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dieses Land; denn ich will dich nicht lassen, bis dass ich tue alles, was ich dir geredet habe“ (1. Mo 28,10–15).
Hier also war die gesegnete Stätte, auf welcher der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs dem armen Flüchtling verhieß, sich seiner und seines Samens annehmen zu wollen – jene Stätte, auf welcher die denkwürdigen Worte vernommen wurden: „Ich will dich nicht lassen, bis dass ich tue alles, was ich dir geredet habe.“ Das waren die Ausdrücke, durch welche Er sich dem Jakob gegenüber verpflichtete, und die Er – gepriesen sei sein Name! – buchstäblich erfüllt hat und erfüllen wird, wie sehr auch Erde und Hölle sich dagegen auflehnen mögen. Der Same Jakobs wird einmal das ganze Land Kanaan als sein ewiges Erbteil in Besitz nehmen; denn wer könnte den Herrn, Gott, den Allmächtigen, an der Erfüllung seiner Verheißung hindern?
Richten wir jetzt unsere Blicke auf Jakob. „Da nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Gewiss ist der Herr an diesem Ort, und ich wusste es nicht. Und fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anders, denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels! – Und Jakob stand des Morgens frühe auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Mal und goss Öl oben darauf. Und hieß die Stätte Bethel. ... Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: So Gott wird mit mir sein und mich behüten auf dem Weg, den ich reist, und Brot zu essen geben, und Kleider anzuziehen, und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen; so soll der Herr mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Mal, soll ein Gotteshaus werden; und alles, was du mir gibst, dessen will ich dir den Zehnten geben“ (1. Mo 28,16–22).
Gott verpfändet sich innerhalb der Grenzen Bethels dem Jakob; und dieses Pfand muss, mag auch Himmel und Erde vergehen, einmal in seiner ganzen Vollständigkeit eingelöst werden. Er offenbart sich nicht nur dem einsamen Flüchtling, während dieser auf seinem steinernen Kopfkissen eingeschlummert liegt, sondern verbindet sich sogar mit ihm durch ein Band, welches durch keine Macht der Erde und der Hölle je zerrissen werden kann. Und was tut Jakob? Er widmet sich diesem Gott und legt das Gelübde ab, dass die Stätte, auf welcher er sich einer solchen Offenbarung erfreuen, und wo er auf solche unendlich große und kostbare Verheißungen lauschen durfte, zum Gotteshaus werden solle. Alles dieses war mit Bedacht vor dem Herrn ausgesprochen und feierlich von Gott aufgezeichnet worden; und dann setzte Jakob seine Reise fort. Jahre schwanden – zwanzig lange und ereignisvolle Jahre – Jahre voller Trübsale und Prüfungen, Jahre, in denen Jakob die trostlosen Erfahrungen einer nicht befreiten Seele machte; aber der Gott zu Bethel wachte über seinen armen Diener und erschien ihm inmitten seiner Drangsale, indem Er zu ihm sagte: „Ich bin der Gott zu Bethel, da du den Stein gesalbt hast, und mir daselbst ein Gelübde getan. Nun mache dich auf und ziehe aus diesem Land, und ziehe wieder in das Land deiner Freundschaft“ (1. Mo 31,13). Gott hatte die ursprünglichen Grenzen nicht aus dem Auge verloren; und darum durfte auch sein Diener dieselben nicht vergessen. Ist dieses etwa der Geist der Gesetzlichkeit? Keineswegs. Es ist nichts anderes, als die einfache Entfaltung der göttlichen Liebe und Treue. Gott liebte Jakob, und darum konnte Er nicht dulden, dass derselbe den alten Grenzen fernbleibe. Er wachte mit einer eifersüchtigen Liebe über den Zustand des Herzens seines Dieners; und damit dieser nicht länger jenseits der Grenzen Bethels bleiben möchte, ermahnte Er ihn so zärtlich durch die rührenden und bezeichnenden Worte: „Ich bin der Gott zu Bethel, da du den Stein gesalbt hast, und mir daselbst ein Gelübde getan.“ Das war der liebliche Ausdruck der unwandelbaren Liebe Gottes, die darauf rechnete, dass auch Jakob sich an die Szenen Bethels erinnern möchte.
Wie bewundernswürdig! Welch einen Wert legt der Allmächtige, Er, der von Ewigkeit her die Himmel bewohnt, auf die Liebe und auf die Erinnerungen eines armen Erdenwurms! Und dieses köstliche Bewusstsein sollte mehr in unserer Seele leben. Leider ist es so wenig der Fall. Wir sind allerdings bereit genug, die Gnadenerweisungen und Segnungen aus der Hand Gottes zu nehmen; und sicher ist Er noch mehr bereit, dieselben uns darzureichen. Aber wir sollten uns auch erinnern, dass er der Widmung unserer Herzen für Ihn entgegensieht. Wenn wir, von Liebe getrieben, beginnen, Christus zu folgen. Ihm zu leben. Alles um seinetwillen preiszugeben, – könnte dann wohl während eines einzigen Augenblicks der Gedanke in unserer Seele Raum finden, dass Er kalt und gleichgültig auf seine Ansprüche betreffs der Zuneigungen unserer Herzen Verzicht leisten würde? Könnten wir überhaupt den Gedanken ertragen, dass es für Ihn eine Sache der Gleichgültigkeit sei, ob wir Ihn liebten oder nicht? Gewiss nicht. Vielmehr wird es für unser Herz eine ermunternde Freude sein, zu denken, dass sich unser hochgepriesene Herr nach einer Widmung unserer Seelen für Ihn sehnt. Nichts Geringeres genügt Ihm; und wenn wir in unserer Schwachheit uns hierher und dorthin wenden, dann führt Er uns in seiner zärtlichen, freundlichen Weise zurück. Ja, das Banner seiner Liebe flattert uns stets entgegen und trägt eine Inschrift, die unsere umherschweifenden Herzen zur Rückkehr zu den alten Grenzen ermahnt. Er sagt zu uns in der einen oder der anderen Weise, wie Er einst zu Jakob sagte: „Ich bin der Gott zu Bethel, da du den Stein gesalbt hast und mir daselbst ein Gelübde getan.“ Also handelt Er mit uns, während mir hinkend und stolpernd umherirren. Er lässt uns erkennen, dass, sowie wir nichts ohne seine Liebe tun können, Er auch für sein Tun unsere Liebe fordert. Sein Wirken und Handeln zu unseren Gunsten ist wunderbar; seine Bemühung, uns in unseren alten Grenzen zu erhalten, lässt sich durch keinen Widerstand aufhalten. O möchten hoch auch die Gläubigen unserer Tage auf den zärtlichen Ruf des Geistes Christi achten, wenn Er sagt: „Du hast deine erste Liebe verlassen. Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und tue Buße, und tue die ersten Werke“ (Off 3,4–5). „Erinnert euch aber der vorigen Tage!“ (Heb 10,32) „Was war denn eure Glückseligkeit?“ (Gal 4,15)
Was anders ist dieses alles, als ein zurückrufen in die alten Grenzen, von denen man sich entfernt hat? Freilich sollte es dessen nicht bedürfen. Die Heiligen hätten nie ihre ursprünglichen Grenzen verlassen sollen. Aber sie haben es getan, und darum hören wir das gnadenreiche zurückrufen von den Lippen unseres Herrn und Heilands. Man könnte einwenden, dass eine geprüfte Liebe besser sei, als die erste Liebe. Wir räumen dieses ein; aber finden wir es nicht als eine unleugbare Tatsache, dass der erste Gang in der Nachfolge Jesu von einer Einfalt, einem Ernst, einer Frische, einer Inbrunst, kurz von einer Tiefe begleitet ist, deren wir aus verschiedenen Ursachen in späteren Tagen ermangeln? Wir werden kalt und gleichgültig, die Welt beeinflusst unsere Herzen und erstickt unsere Geistlichkeit; die Natur gewinnt in der einen oder in der anderen Weise die Oberhand und tötet unser geistliches Gefühl, dämpft unseren Eifer und trübt unser Auge. Sollte keiner unserer Leser sich in dieser Beziehung anklagen müssen? Und würde es in solchem Fall nicht eine ganz besondere Barmherzigkeit sein, wenn er in diesem Augenblick in die alten Grenzen zurückgerufen würde? Ohne Zweifel. Wohlan denn, seien wir versichert, dass das Herz Jesu stets auf unsere Rückkehr wartet und bereit ist, uns wiederaufzunehmen. Seine Liebe ist unveränderlich; und nicht allein das, sondern er erinnert uns auch stets daran, dass eine Erwiderung dieser Liebe von unserer Seite für sein Herz ein Bedürfnis ist. Daher, geliebte Brüder, was auch das Maß eurer früheren Zuneigung gemindert und euch aus den alten Grenzen der Übergabe eures Herzens an Ihn herausgelockt haben mag, erhebt euch und kehrt zu Ihm zurück. Säumt nicht! zögert nicht! Werft euch zu den Füßen des euch so sehr liebenden Herrn und schüttet euer Herz vor Ihm aus. Nur in seiner Gegenwart findet ihr die verborgen sprudelnde Quelle jedes wahren Dienstes. Besitzt Christus nicht die Liebe eurer Herzen, so verlangt Er auch nicht die Werke eurer Hände. Er sagt nicht: „Mein Sohn! Gib mir dein Geld, deine Zeit, deine Talente, deine Willenskraft, deine Feder, deine Zunge, deinen Kopf;“ – alle diese Dinge sind äußerst unnütz und können Ihn nimmer befriedigen. Aber Er sagt: „Mein Sohn, gib mir dein Herz!“ Sobald das Herz Jesus geschenkt ist, wird alles im richtigen Geleise gehen. Aus dem Herzen kommen alle Ausflüsse des Lebens; und wenn nur Christus seinen rechten Platz in: Herzen hat, so werden auch die Werke und Wege, der Wandel und die Gesinnung am rechten Platze sein.
Kehren wir indes zurück zu Jakob; und wir werden Gelegenheit haben zu sehen, wie klar der Gegenstand unserer Betrachtung in dieser lehrreichen Geschichte erläutert ist. Am Ende des 33. Kapitels begegnen wir ihm in der Nähender Stadt Sichem, wo er allen Arten von Trübsal und Verwirrung in die Arme fällt. Sein Haus wird entehrt, und seine Söhne, die an dem Ehrenschänder Rache üben, bringen sein Leben in die äußerste Gefahr. Alles dieses fühlt Jakob in seiner ganzen Bitterkeit; und darum sagt er zu seinen beiden Söhnen Simeon und Levi: „Ihr habt mir Unglück zugerichtet, dass ich stinke vor den Einwohnern dieses Landes, den Kanaanitern und Pherisitern; und ich bin ein geringer Haufen. Wenn sie sich nun versammeln über mich, so werden sie mich schlagen. Also werde ich vertilgt samt meinem Haus“ (V 30).
Gewiss waren diese Erscheinungen höchst beklagenswert; und dennoch findet man nicht, dass sich das Herz Jakobs erinnert, nicht am rechten Platze zu sein. Wie groß die Entehrung und Verwirrung in der Stadt Sichem auch sein mochte, so war sein Auge dennoch zu trübe, um sehen zu können, dass er sich nicht innerhalb der alten Grenzen befand. Und ach! wie oft zeigt sich dieser Fall! Wir verlassen so oft das aufgepflanzte Banner des Herrn in unserem tagtäglichen Wandel; wir versäumen es so oft, die Höhen göttlicher Offenbarungen zu ersteigen; und obwohl die mannigfaltigen Früchte unserer Fehltritts auf allen Seiten hervorsprießen, so hat die uns umringende Atmosphäre unser Auge oft doch so sehr getrübt, und so haben unsere Verbindungen mit der Welt unsere geistlichen Empfindungen oft so sehr abgestumpft, dass wir nicht zu unterscheiden vermögen, wie tief wir gesunken sind und wie weit wir uns ans den uns angewiesenen Schranken entfernt haben.
Aber in welcher Deutlichkeit treten uns in der uns vorliegenden Geschichte die göttlichen Grundsätze vor Augen! Und Gott sprach zu Jakob: „Mache dich auf und ziehe gen Bethel, und wohne daselbst, und mache daselbst einen Altar dem Gott, der dir erschienen, da du flohst vor deinem Bruder Esau“ (1. Mo 35,1).
Teurer Leser! Lass uns hier einen Augenblick verweilen. Hier zeigt sich unseren Blicken ein höchst vortrefflicher Zug in der Weise Gottes bezüglich seines Handelns mit unseren Seelen. Die Stadt Sichem mit all ihren Gräueln und Verwüstungen findet hier durchaus keine Erwähnung. Kein Wort des Tadels trifft das Ohr Jakobs wegen seiner Niederlassung in dieser Gegend. Nein, das ist nicht die Art und Weise Lottes. Er wendet eine weit vortrefflichere Methode an. Hätten wir uns mit Jakob beschäftigen müssen, sicher würde eine harte Zurechtweisung von unserer Seite ihm begegnet sein; wir würden ihm eine strenge Predigt über seine Torheit, sich in der Gegend von Sichem niederzulassen, gehalten, und sein persönliches und häusliches Betragen alles Ernstes gerügt haben. Doch wie gut ist es, dass Gottes Gedanken nicht unsere Gedanken sind, und seine Wege nicht unsere Wege! Anstatt zu Jakob zu sagen: „Warum hast du dich in Sichem niedergelassen?“ sagt er einfach: „Mach dich auf und ziehe gen Bethel!“ Aber eben mit diesem zärtlichen Tone der Liebe dringt ein Lichtstrahl in die Seele Jakobs, der ihn in den Stand setzt, sich selbst und das was in seinem Haus ist zu verurteilen. Denn kaum ist er zum Gang nach Bethel aufgefordert, so hören wir ihn zu seinem Haus und zu allen, die mit ihm waren, die Worte sagen: „Tut von euch die fremden Götter, so unter euch sind, und reinigt euch, und ändert eure Kleider. Und lasst uns auf sein und gen Bethel ziehen, dass ich daselbst einen Altar baue dem Gott, der mich erhört hat zurzeit meiner Trübsal, und ist mit mir gewesen auf dem Weg, den ich gezogen bin“ (V 2–3).
Das ist augenscheinlich ein zurückkehren in die ursprünglichen Grenzen, die Gott angewiesen hatte. Es ist die Wiederherstellung einer Seele und ihre Leitung auf die Pfade der Gerechtigkeit. Jakob fühlte, dass er keine falschen Götter und keine besudelten Kleider in Bethel einführen durfte. Solche Dinge mochten für Sichem passend sein, aber nimmer für Bethel. Und welches war die Antwort auf seine Aufforderung? „Da gaben sie ihm alle fremden Götter, die unter ihren Händen waren, und ihre Ohrenspangen; und er vergrub sie unter einer Eiche, die neben Sichem stand ... Also kam Jakob gen Lus im Land Kanaan, die da Bethel heißt, samt all dem Volk, das bei ihm war. Und baute daselbst einen Altar, und hieß die Stätte El–Bethel, darum dass ihm Gott daselbst offenbart war, da er flöhe vor seinem Bruder“ (V 4–7).
„El–Beth–El.“ Welch ein kostbarer Name! In Sichem nannte Jakob seinen Altar: „El–Elohe–Israel!“ d. h. Gott, der Gott Israels; aber in Bethel nannte er ihn: „El–Beth–El!“ d. h. Gott, das Haus Gottes. Das war in der Tat eine wirkliche Wiederherstellung. Jakob war von all seinen Irrwegen zurückgekehrt und zwar bis zu derselben Stätte, die er verlassen hatte. Nichts weniger hätte Gott in Betreff seines Dieners befriedigen können. Er konnte mit großer Geduld auf ihn warten. Er konnte ihn mit göttlicher Langmut tragen, Er konnte ihm dienen, konnte für ihn sorgen und sich in der mannigfaltigsten Weise mit ihm beschäftigen: aber nichts anders konnte das Herz Gottes zufrieden stellen, als die pünktlichste Ausführung des Befehls: „Mache dich auf und ziehe gen Bethel!“
Mein christlicher Leser! Es wird nützlich sein, hier ein wenig Halt zu machen. Ich möchte so gern an dich einige ernste Fragen richten. Sagt dir etwa dein Gewissen, dass du die Gegenwart Jesu verlassen und von Ihm abgeirrt bist? Verspürst du in deinem Herzen eine zunehmende Kälte und Abneigung gegen Ihn? Hast du jene Frische verloren, die in früheren Tagen den Ton deiner Seele zu heiligen Lobliedern stimmte? Bist du, was dein moralischer Zustand betrifft, bis zu den Gegenden Sichems hinabgestiegen? Ist dein Herz den fremden Göttern nachgegangen und sind deine Kleider besudelt worden? – Nun, dann lass dich daran erinnern, dass der Herr deine Rückkehr dringend wünscht. Ja, Er wünscht sie. Er sehnt sich, dass du noch heute kommen möchtest. Er sagt gerade in diesem Augenblick zu dir: „Mache dich auf und ziehe gen Bethel!“ Du wirst nicht glücklich sein, du wirst keine sicheren Schritte tun, solange du diesem gesegneten, aufmunternden Ruf nicht völlig entsprochen hast. Darum lass dich bitten und kehre noch heute zurück. Mache dich auf und wirf jede Bürde und jedes Hindernis bei Seite; wirf hinweg alle deine falschen Götter und wechsele deine Kleider; wende dich eiligst zurück zu den Füßen deines Herrn, der dich liebt mit einer Liebe, von der dich keine Macht der Erde und der Hölle zu scheiden vermag, und der nicht eher befriedigt ist, als bis Er dich in seiner Nähe innerhalb der dir angewiesenen Grenzen erblickt. Nenne dieses nicht Gesetzlichkeit; gewiss, es ist nichts dieser Art. Es ist die Liebe Jesu – seine ernste, brennende, tiefe Liebe – eine Liebe, die eifersüchtig ist auf jede nebenbuhlerische Zuneigung – eine Liebe, welche das ganze Herz gibt und darum auch das ganze Herz zurückverlangt. – Möge daher Gott der Heilige Geist jedes irrende Herz in die richtigen Grenzen zurückführen! Möge Er mit erneuerter Kraft jede Seele heimsuchen, welche hinabgestiegen ist zu den Ebenen Sichems und ihr nicht eher Ruhe geben, als bis sie völlig der Mahnung gefolgt ist: „Mache dich auf und ziehe gen Bethel!“