Botschafter des Heils in Christo 1867
Das Buch und die Seele
In der Bildung des Charakters eines im Segen wirkenden Dieners des Wortes Gottes sind zwei Bestandteile von wesentlicher Notwendigkeit, nämlich zuerst eine genaue Bekanntschaft mit der heiligen Schrift, und dann ein klares Bewusstsein des Wertes der Seele und ihrer Bedürfnisse. Die Verbindung dieser beiden Eigenschaften ist von der äußersten Wichtigkeit in Betreff eines jeglichen, der berufen ist, im Wort und in der Lehre zu dienen. Fehlt eine derselben, so fehlt eigentlich alles. Ich mag noch so sehr in der Schrift belesen sein, ich mag mit dem Inhalt dieses göttlichen Buches noch so sehr vertraut sein und ein äußerst tiefes Gefühl für dessen moralische Schönheiten besitzen; aber wenn ich die Seele und ihre tiefen und mannigfaltigen Bedürfnisse nicht kenne, so wird mein Dienst außerordentlich mangelhaft sein. Trotz meiner an und für sich schätzenswerten Bekanntschaft mit dem Wort Gottes, werde ich für andere von einem nur höchst geringen Nutzen sein. Meinem Dienst wird die Schärfe und die Kraft fehlen, und derselbe wird weder dem Verlangen des Herzens noch den Forderungen des Gewissens zu begegnen wissen.
Andererseits mag ich mit der Seele und ihren Bedürfnissen sehr bekannt sein; ich mag die lebhaftesten Wünsche haben, anderen nützlich sein und dem Herzen und Gewissen meiner Zuhörer oder Leser dienen zu können; aber wenn ich nicht mit meiner Bibel bekannt und nicht durch das Wort des Lebens unterwiesen bin, so fehlt es mir selbstredend an dem erforderlichen Stoff, um ein nützlicher Diener sein zu können. Ich werde der Seele nichts zu geben, dem Herzen nichts darzureichen haben und nichts besitzen, um auf das Gewissen zu wirken. Mein Dienst wird sich als fruchtlos und ermüdend erweisen. Ich werde die Seelen quälen, statt sie zu belehren; ich werde sie aufregen, statt sie zu erbauen. Meine Ermahnungen, anstatt die Seelen auf dem steilen Wege der Jüngerschaft vorwärts zu treiben, werden im Gegenteil viel eher eine Entmutigung bewirken.
Diese Dinge verdienen beachtet zu werden. Richte einmal deinen Blick auf jemanden, der, am Wort dienend, einen großen Teil jener erstgenannten Eigenschaften, aber sehr wenige von den anderen besitzt. Offenbar hat er das Buch und seine moralischen Schönheiten vor seinem geistlichen Auge. Er ist mit denselben beschäftigt und zu Zeiten so erfüllt von denselben, dass er fast die ihn umgebenden Zuhörer vergisst. Er vermag keine bestimmte und kräftige Aufforderung an das Herz zu richten; kein mächtiger Schlag trifft das Gewissen; und gänzlich fehlt jede praktische Anwendung des göttlichen Inhalts auf die Seelen der Zuhörer. Seine Worte sind schön und richtig, allein sie haben nicht die Wirkung, die sie haben sollten. Warum? Weil ihm die letztgenannten Eigenschaften fehlen, ist er mehr ein Diener des Buches, als ein Diener für die Seele.
Dann wirst du vielleicht anderen begegnen, die in ihrem Dienst sehr eifrig mit den Seelen beschäftigt zu sein scheinen. Sie klagen an, sie ermahnen, sie treiben. Aber wegen Mangel an Bekanntschaft und regelmäßiger Beschäftigung mit der Schrift sind ihre Seelen bald erschöpft und abgenutzt in ihrem Dienst. Freilich machen sie scheinbar das göttliche Buch zur Grundlage ihres Dienstes; aber ihr Gebrauch desselben ist so ungeschickt und unpassend, und ihre Anwendungen verlachen eine solche Unkenntnis, dass ihr Dienst sich ebenso uninteressant als durchaus nutzlos erweist.
Wenn jetzt die Frage an uns gerichtet würde, welchen von diesen beiden Diensteigenschaften wir den Vorzug geben wollten, so würden wir ohne Zögern die erstgenannten wählen. Wenn die moralischen Schönheiten des göttlichen Buches vor unseren Blicken entfaltet sind, dann gibt es immer etwas, wodurch ein aufrichtiges Herz angezogen und belebt wird, während im zweiten Fall nur ermüdende Anklagen und scheltende Ermahnungen vorhanden sind.
Aber sicher kann es nicht stark genug betont werden, dass sowohl eine genaue Bekanntschaft mit dem göttlichen Buch, als auch ein klares Bewusstsein des Wertes der Seele und ihrer Bedürfnisse bei einem jeden erforderlich ist, der das Vorrecht genießen will, die Seelen zu bedienen. Beide Eigenschaften müssen vereint sein. Möge daher jeder Diener sich sowohl der Betrachtung des Wortes widmen, als auch unermüdlich mit den Bedürfnissen der Seele beschäftigt sein. Vergessen wir nicht, dass das Buch und die Seele zusammengehören.