Botschafter des Heils in Christo 1867
"Ihr seid vollendet in ihm" - Teil 2/4
Richten wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, der mit dem bereits Gesagten in der engsten Verbindung steht, und ohne dessen Verständnis der auf dem Versöhnungswerk Christi ruhende Friede des Glaubenden nur zu bald wieder erschüttert werden wird. Da bei einem erleuchteten Gewissen zuerst die erkannten Sünden und Vergehungen ihren Druck auf das Herz ausüben und den Mund zu einem Notschrei öffnen, so ist es auch zunächst nur das Bewusstsein der durch das Blut Jesu bewirkten Versöhnung und Rechtfertigung, welches der Seele Ruhe und Frieden gibt. Das durch die Gnade geöffnete Auge des Glaubens erblickt in dem Kreuz Christi die Hand jener erbarmenden Liebe, welche die Sündenschuld gänzlich durchstreicht und die schwarzen Punkte des vergangenen Lebens für immer hinwegwischt. Die Sonne einer überschwänglichen Gnade sendet ihre belebenden, erquickenden Strahlen in die finstere Nacht eines mühseligen und beladenen Gewissens; und in namenloser Freude erhebt sich das von jedem Druck befreite Herz zum Lob und zur Anbetung dessen, der zur Rettung des Sünders in diese Welt gekommen ist. Jedoch wird ein Stillstehen auf diesem Punkt den Ton dieser Freude gar bald wieder herabstimmen und einem ängstlichen Seufzen Tür und Tor öffnen; denn nach kurzen, flüchtigen Augenblicken entdeckt die Seele zu ihrem Schrecken jene bisher unerkannte Quelle aller bösen Gedanken, Warte und Werke – die im Fleisch wohnende Sünde. Ach, wie viele Seelen, die sich der Gewissheit der Vergebung ihrer Sünden erfreuten, aber jene Verderben sprudelnde Quelle nicht erkannten, sind durch das Böse, welches sie kurz nach ihrer Bekehrung in sich gewahrten, von neuem in Unruhe und Verlegenheit gebracht worden! Hatten sie doch der Meinung Raum gegeben, dass in Folge ihrer Bekehrung auch das in ihnen wohnende Böse beseitigt, oder doch wenigstens Kraft in ihnen vorhanden sein würde, um dasselbe überwinden und nach und nach gänzlich ausrotten zu können. Und sind sie sogar nicht nach dieser Richtung hin belehrt worden? Zeigt nicht eine große Zahl christlicher Schriften und Lehrbücher das geflissentliche Bestreben, jene schriftwidrige Meinung zu verbreiten, als ob ein tägliches Absterben der Sünde stattfinde und die Verbesserung und Umwandlung des alten Menschen auf solche Weise erzielt werden könne? Ach, welche Selbsttäuschung und Unkenntnis! Das „Ersäufen des alten Menschen durch tägliche Reue und Buße“ wird sich stets als eine nutzlose, vergebliche Anstrengung erweisen; die alte Natur bleibt, was sie ist, das Fleisch wird nimmer seinen Charakter verleugnen und jedem Veredlungsversuch entschieden widerstreben. Mag auch in den ersten Tagen der Bekehrung das glückselige Bewusstsein der Sündenvergebung alle Gefühle und Neigungen des Herzens so sehr in Anspruch nehmen, dass die Begierden und Leidenschaften des Fleisches regungslos verstummen, so wird doch, je nachdem die hochgestimmten Saiten des Rettungsjubels allmählich ihre Spannkraft verlieren, auch die alte Natur wieder ihre Ansprüche fühlbar machen. Und die enttäusche Seele macht dann die demütigende Erfahrung, dass das Fleisch, jetzt wie einst im unbekehrten Zustand, dieselben alten Leidenschaften und Begierden in sich trägt, und sieht sich sogar, da sie dieselben in jenem Licht, welches „Alles offenbar macht“ (Eph 5,13), erblickt, zu dem trostlosen Bekenntnis gezwungen, dass das Herz ehedem nimmer eine solche Hartnäckigkeit und Bosheit an den Tag gelegt habe. Wie könnte es anders sein, da doch die Strahlen der Sonne des neuen Tages bis in die verborgensten Schichten des Herzens eingedrungen und hier den feinsten Staub zeigen?
Und was wird die Folge solcher Entdeckungen sein? Der Frieden flieht, die Freude verstummt, die Folter der Angst und der Unruhe kehrt in das Herz zurück. Die Seele kämpft und ringt, der Mund öffnet sich zu flehentlichem Gebet und Anhalten; neue Vorsätze werden gefasst, neue Gelübde abgelegt; aber ach! das Böse behauptet hartnäckig seinen Platz; und das Absterben macht nicht nur keine Fortschritte, sondern im Gegenteil ruft jede Anstrengung dieser Art die schlummernden Elemente des Bösen zu wilder Empörung wach. „Als das Gebot kam, lebte die Sünde auf“ (Röm 7,9). Was anders vermöchten solche trostlose Erscheinungen in einem ernsten, aufrichtigen Herzen hervorzubringen, als eine bis zur Verzweiflung sich steigernde Unruhe?
Freilich wissen oberflächliche und leichtfertige Gemüter ohne große Sorge über solche Schwierigkeiten hinweg zu kommen. Entweder verbergen sie ihren wahren Zustand vor anderen, oder sie lauschen auf die Sprache derer, die in gewissenloser Leichtfertigkeit die Entdeckungen ihrer Sünden, ihrer Ohnmacht und ihrer Dürre als die Frucht einer gründlichen Erkenntnis und mithin als den wahren Zustand eines erfahrenen Christen bezeichnen, und die sich sogar nicht schämen, die Bosheit ihres Herzens mit dem heiligen, fleckenlosen Gewand des Wortes Gottes zu bedecken. So hat doch nach ihrer Meinung selbst der Apostel Paulus über sich die Worte aussprechen müssen: „Ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. ... Das Wollen ist bei mir; aber das Wirken dessen, was recht ist, finde ich nicht. Das Gute, das ich will, übe ich nicht ans, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Röm 7,14.18–19). Ach! diese Seelen verstehen nicht, dass solche Erfahrungen unter dem Gesetz und nicht unter der Gnade gemacht werden. Wie äußerst mangelhaft aber würde unsere Errettung sein, wenn wir, obgleich von der Vergebung unserer Sünden überzeugt, hinsichtlich der in uns wohnenden Sünde nur bis zu dem trostlosen Bewusstsein ihrer Herrschaft über uns gelangen könnten, einer Herrschaft, von welcher uns keine Macht zu befreien vermöchte! Wie höchst unvollkommen würde das Resultat des Werkes Christi sein, wenn, im Blick auf unsere Gefangenschaft und Sklaverei, in der Sünde, die Frage des bekümmerten Herzens: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ keine befriedigende Antwort zu finden im Stande wäre! Könnte auf diesem Weg in dem Werk Christi jene so wichtige Absicht Gottes, ein „in guten Werken eifriges Volk“ zu haben, je erreicht werden? Nimmermehr, sondern unausbleiblich würden die himmlischen Pilger wie einst das irdische Volk Gottes, die Kinder Israel, das Zeichen der Verwerfung an ihren Stirnen tragen und aus dem Mund Gottes die Worte vernehmen: „Ihr Halsstarrige und Unbeschnittene an den Herzen und an den Ohren!“ (Apg 7,51) „Allezeit irren sie mit dem Herzen; und meine Wege haben sie nicht erkannt“ (Ps 95,10).
Ach, wie trügerisch sind die Überlegungen und Vernunftschlüsse des menschlichen Herzens! Würden die Seelen bei der Entdeckung der im Fleisch wohnenden Sünde mit einem einfältig glaubenden Herzen auf die untrüglichen Unterweisungen des Wortes Gottes lauschen, so würden sie auch sicher zu der Überzeugung gelangen, dass der Gott aller Gnade über jene unreine Quelle ebenso bestimmt entschieden hat, wie über das, was aus ihr hervorsprudelt. Allein anstatt sich der alleinigen Leitung dieses Wortes anzuvertrauen, tragen sie vielmehr in eitler Selbstverblendung ihre eigenen menschlichen Anschauungen in dasselbe hinein, deuten es nach den Erfahrungen ihrer unfreien und irrenden Herzen und rufen auf diesem Weg die schriftwidrigsten Grundsätze ins Leben. Ach! von Jahrhundert zu Jahrhundert hat der Mensch, geleitet durch den trügerischen Schimmer seines Scharfsinns, in der heiligen Schrift nach Schätzen gegraben, aber nur wertlose Schlacken als die einzige Ausbeute zu Tage gefördert. Und dennoch haben die auf diese Weise gewonnenen Grundsätze und Anschauungen, weil übereinstimmend mit den Erfahrungen einer fleischlichen Gesinnung, bei vielen Seelen eine beklagenswerte Aufnahme und – besonders wenn sie ein höheres Alter und den Namen einer anerkannten Persönlichkeit an ihrer Stirn tragen – eine solche Anerkennung gefunden, dass man kaum noch daran denkt, den Prüfstein des Wortes Gottes an sie zu legen. Wozu anders aber bedienen sich unfreie Seelen dieser Grundsätze, als um sich Ruhe zu verschaffen in den Fesseln der Sünde, deren Herrschaft sie anerkennen und unter deren Macht sie sich unter schweren Seufzern beugen? Ist es da ein Wunder, wenn sich endlich die Meinung völlig Bahn bricht, dass Gott nach seiner weisen Absicht die Fortdauer eines solch trostlosen Zustandes bestimmt habe, um durch die Ergebnisse aller erfolglosen Kämpfe das Herz in wahrer Demut zu erhalten und die Überzeugung von unserer gänzlichen Verderbtheit zu befestigen? Ja, dann freilich bleibt für den Gläubigen, trotz der Gewissheit der Vergebung seiner Sünden, nichts als die traurige Aussicht übrig, ein armer, elender Sünder sein und bleiben zu müssen.
Obgleich indessen die bitteren Erfahrungen zahlreich genug sind, um eine Enttäuschung herbei zu führen, so lassen doch manche Seelen jenes falsche Vertrauen nicht fahren, als ob das Werk des Sünden–Absterbens innerlich seiner Vollendung entgegengehe. Wenn sich aber vollends eine Zeitlang diese oder jene Begierde nicht wirksam gezeigt hat, so erkennen sie darin einen augenscheinlichen Fortschritt und wiegen sich in sorglose Sicherheit ein. Doch ach, wie bald sehen sie sich in ihren Erwartungen getäuscht! Plötzlich erwacht, angelockt durch äußere Einflüsse, jene böse Begierde aus ihrem Schlummer und fordert ihre Befriedigung umso mächtiger, je weniger gegen sie gewacht worden ist. Und gerade in dem Augenblick, wo sie in falscher Sicherheit ihre Fortschritte bewunderten, öffneten sie Zugleich dem gewaltsam heranstürmenden Feind die Tore, der dann, wenn die Sünde vollbracht ist, entweder Mutlosigkeit und Verzagtheit, oder Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit gegen die Sünde in ihren Herzen zu wirken unablässig bemüht ist. Wie viele Seelen gehen von Jahr zu Jahr in diesem Zustand dahin, ohne sich auf dem Weg der Heiligung auch nur einen einzigen Schritt vorwärts zu bewegen! Sie befinden sich entweder auf der Folter fortdauernder Anklagen ihres eigenen Gewissens, oder ihre Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit gegen die Sünde nimmt einen stets bedenklicheres Grad an, indem sie sich trösten, dass andere dieselben Erfahrungen machen, oder sich gar einreden, dass das Leben des Christen sich durch stetes Fallen und Aufstehen charakterisieren müsse. Die Erfahrungen Jakobs und nicht die Erfahrungen Abrahams sind die ihrigen; und in der Voraussetzung, dass keine andere gemacht werden können, betrachten sie die Freude im Herrn nur als einen Rausch der ersten Gefühle, oder gar als Täuschung und Einbildung, sowie die Ermahnungen zu einem würdigen Wandel als ein Treiben des Gesetzes. Wo aber findet sich dann jene glückselige Ruhe des Herzens, die sie den Unbekehrten anpreisen? Wo der alle Vernunft übersteigende Friede Gottes? Wo der Wandel zur Verherrlichung Gottes? Wo endlich finden sie die guten Werke, wozu wir „in Christus Jesus geschaffen sind“? Dieses alles fehlt; der Name des Herrn wird verunehrt. Sein Wort verachtet und sein Werk geringgeschätzt.
Aber gibt es denn keine Errettung aus diesem Zustand, keine Befreiung aus der Macht der Sünde? Ohne Zweifel. Aber die Befreiung aus dieser Macht liegt ebenso wenig in unserer Hand, und ist ebenso wenig die Frucht unserer Anstrengung, wie die Versöhnung unserer Sünden. Beide Tatsachen sind einzig und allein das gesegnete Resultat des auf Golgatha vollbrachten Opfers Jesu Christi; und nur der Glaube ist das einzige Mittel, um die kostbare Frucht dieses vollkommenen Werkes genießen und verwirklichen zu können. Der Glaube erblickt in demselben sowohl die Reinigung von unseren Sünden, als auch die Befreiung von der in uns wohnenden Sünde. Dieselbe Hand der errettenden Liebe, die unsere Sünden tilgte, vernichtete auch die Macht der Sünde; dieselbe Gnade die dem Sünder eine ewige Versöhnung brachte, zerbrach auch für immer die Ketten und Banden des Sklaven; dasselbe Blut, welches uns von allen Sünden reinigte, setzte auch den Gefangenen in völlige Freiheit. Welch eine wunderbare Gnade! welch eine anbetungswürdige Liebe! welch ein kostbares Blut! O möchten unsere Seelen sich doch von den trügerischen Erfahrungen unserer eitlen Herzen mit aller Entschiedenheit abwenden und die untrüglichen und klaren Zeugnisse des Wortes Gottes betreffs des glorreichen Werkes Christi in einfältigem Glauben aufnehmen! Das allein wird im Stande sein. Unsere Herzen zu befestigen und mit seliger Ruhe zu erfüllen.
Um aber überhaupt zu einem klaren Verständnis über diese zweifache Wirkung des Kreuzes Christi zu gelangen, müssen wir zuvor erkannt haben, dass der Mensch nicht nur seiner Sünden, sondern auch seines Zustandes wegen ein Verlorener ist. Als Nachkomme des ersten Adams ist er in Sünden geboren; und das Wort Gottes charakterisier seinen moralischen Zustand als Sünde, Finsternis und Tod. Im Blick auf einen solchen Zustand ist eine Gemeinschaft zwischen Gott und ihm undenkbar, selbst wenn man die Möglichkeit einer Vergebung der Sünden voraussetzen dürfte. Die Quelle ist und bleibt verdorben, wenn auch ihre trüben Ausströmungen ausgetrocknet, der faule Baum behält unverändert seine schädlichen Säfte, wenn auch seine bitteren Früchte abgeschüttelt und beseitigt werden könnten. Das ist eine Wahrheit, die nicht genug verstanden und beachtet wird. Wer aber über die Heiligkeit Gottes und über das Verderben des Menschen einiges Verständnis besitzt, der wird auch sicher die Nutzlosigkeit aller Anstrengungen und Bestrebungen zur Veredlung des Menschen erkennen. Wie könnte jemand der Anmaßung Raum geben, die unermessliche Kluft zwischen Heiligkeit und Sünde, zwischen Licht und Finsternis, zwischen Liebe und Hass, zwischen Leben und Tod ausfüllen zu wollen! Oder sollte Gott etwa den Charakter seiner Heiligkeit verleugnen, um sich dem Menschen in seiner Gottlosigkeit zu nähern und Gemeinschaft mit ihm zu machen? Wer wollte sich zu einer solchen Behauptung erkühnen! Diese Gemeinschaft durch menschliche Anstrengungen erstreben zu wollen, ist nichts anderes, als ein Aufrichten der stolzen Überlegungen des Menschen und eine Geringschätzung der Wahrheit und der Ehre Gottes. Solche Bestrebungen führen nur die Erhöhung des Menschen und die Erniedrigung Gottes im Schild.
Aber dennoch – Gott sei dafür gepriesen – darf sich jeder Gläubige der „Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus“ erfreuen (1. Joh 1,3). Aber diese Gemeinschaft steht auf einem Boden, auf welchem jede menschliche Anstrengung ausgeschlossen ist; sie findet in dem Werk, welches Gott selbst auf Golgatha in Christus Jesus vollbracht hat, ihre einzige Grundlage. Dort hat Er nicht den Zustand des Menschen verändert oder seine Natur veredelt, sondern hat ihn vielmehr gerichtet, getötet und beseitigt, aber Zugleich auch einen neuen Menschen ins Leben gerufen. Dort hat Er nicht nur das schwere Gewicht aller unserer Sünden auf das Haupt des von Ihm ausersehenen Opferlammes gelegt, um sie von unseren Gewissen abzuwälzen, sondern hat auch dort „den, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden Gottes Gerechtigkeit in Ihm“ (2. Kor 5,21). Welch eine gesegnete Wahrheit! Christus wurde am Kreuz mit der ganzen Schwere unserer Sünden beladen und für uns zur Sünde gemacht. Die ganze Hässlichkeit der Sünde wälzte sich auf das Haupt jenes Menschensohnes, der allein sagen konnte: „Wer kann mich einer Sünde zeihen?“ – und gebeugt unter der zermalmenden Hand der Gerechtigkeit presst seine bestürzte Seele im Gefühl des tiefsten Jammers die Worte aus: „Mein Gott, mein Gott! warum hast du mich verlassen?“ – In Ihm, dem also Geschlagenen und Gemarterten, sehen wir unseren Zustand, unsere Sünde, unser Gericht, unseren Tod; in Ihm erblicken wir das traurige Ende des alten Menschen, mit dem der heilige und gerechte Gott nimmer in Verbindung treten konnte. „Der Lohn der Sünde ist der Tod.“
Doch, Gott sei Lob, das schreckliche Gericht ist beendet, das Werk der Errettung ist vollbracht; und darum gibt es „keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind. ... Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem Er seinen eigenen Sohn in der Gleichheit des Fleisches der Sünde und als Opfer für die Sünde sendend, die Sünde im Fleisch verurteilte“ (Röm 8,1.3). „Die des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Lüften“ (Gal 5,24). Wie göttlich erhaben ist das Werk Christi! Wie bedeutungsvoll sind die Wirkungen desselben! Freilich bleibt, solange der Gläubige hienieden ist, die Sünde in seinem Fleisch; aber sie ist eine verurteilte, gerichtete Sache. Bezüglich seiner Errettung hat er die in ihm wohnende Sünde ebenso wenig wie seine Sünden und Vergehungen zu fürchten; denn jene ist verurteilt und diese sind vergeben. Das eine ist so vollkommen wie das andere; Beides ist die gesegnete Frucht des ein für alle Mal geschehenen Opfers des Leibes Jesu Christi. Der Glaube erfasst und verwirklicht diese köstliche Wahrheit, und das Herz ruht in seligem Frieden.
So hat also nicht nur das Gericht auf Golgatha die in uns wohnende Sünde getroffen, sondern auch wir selbst, die wir von Natur nichts anders als Sünde sind, fanden dort in Christus unser Gericht. Die Sünde drückt unserem natürlichen Zustand das wahre Gepräge auf; sie charakterisiert uns als die Nachkommen und Erben des gefallenen ersten Adams; aber als solche sind wir in Christus mitgekreuzigt, mitgestorben und mitbegraben, denn das Wort Gottes sagt mit der völligsten Bestimmtheit: „Indem wir dieses wissen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt ist, auf dass der Leib der Sünde abgetan sei, so dass wir der Sünde nicht mehr dienen“ (Röm 6,6). Wir haben also hinsichtlich unseres alten Zustandes unseren Tod in dem Kreuzestod Christi gefunden; und unter Bezugnahme auf diese Tatsache sagt der Apostel Paulus von sich: „Ich bin mit Christus gekreuzigt;“ (Gal 2,20) und von den Kolossern: „Ihr seid gestorben.“ – „Wisst ihr nicht“ – ruft er den Römern zu – „dass wir, so viele auf Christus Jesus getauft worden, auf seinen Tod getauft worden sind? So sind wir denn mit Ihm begraben worden durch die Taufe auf den Tod“ (Röm 6,3–4). Und an die Kolosser schreibt er: „In welchem (d. i. in Christus) ihr auch beschnitten seid mit einer nicht mit Händen geschehenen Beschneidung, durch das Ausziehen des Leibes des Fleisches, durch die Beschneidung des Christus, mit Ihm begraben in der Taufe usw“ (Kap 2,11). In ähnlicher Weise lesen wir in 1. Petrus 4,1: „Da nun Christus im Fleisch für uns gelitten hat, so wappnet auch ihr euch mit demselben Sinne; denn wer am Fleisch gelitten hat (d. h. mit Christus gestorben ist), ruht von Sünde.“
Aus diesen Stellen erhellt deutlich, dass der alte Mensch, d. h. das, was ich von Natur bin, in dem Kreuz Christi vor Gott für immer beseitigt ist. Jetzt kann selbst der schwächste Gläubige seinen Blick auf das Kreuz richten und mit Freimütigkeit ausrufen: „Ich bin mitgekreuzigt, mitgerichtet, mitgestorben; meine Verantwortlichkeit als Nachkomme des ersten Adams, als Sünder, als Gottloser hat für immer ihr Ende erreicht.“ Er kann in das Grab Christi schauen und mit Freuden in die Worte ausbrechen: „Hier bin ich, in Betreff meines Zustandes von Natur, mit Christus begraben und vor Gott für immer hinweggetan.“ Er kann als ein neuer, mit Christus auferstandener Mensch, an der Himmelsseite des leeren Grabes stehen und mit dem Apostel in den Jubelruf einstimmen: „Wer wird wider die Auserwählten Gottes Anklage erheben? Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist der verdamme? – Christus ist es, der gestorben, ja noch mehr, der auch auferweckt, der auch zur Rechten Gottes ist, der auch für uns bittet. Wer wird uns scheiden von der Liebe des Christus?“ (Röm 8,33–34) Wie glücklich ist die Seele, die mit unerschütterlichem Glauben in dem vollbrachten Werke Christi ihren Ruhepunkt gefunden hat! Die Sünden sind vergeben, die im Fleisch wohnende Sünde ist gerichtet und der Sünder selbst ist für immer vor Gott hinweggetan.
Weiter bezeichnet das Wort den Menschen von Natur als einen Sklaven der Sünde und als völlig ihrer Macht und Herrschaft unterworfen. Der Apostel gibt dieser Wahrheit einen bestimmten Ausdruck, wenn er sagt: „Ich bin fleischlich und unter die Sünde verkauft;“ (Röm 7,14) und die Erfahrung eines jeden, der das Wort des Herrn zu verwirklichen trachtet, wird damit in Übereinstimmung stehen. Man könnte auch hier die Worte des Herrn anwenden: „So jemand will seinen Willen tun, der wird von der Lehre wissen, ob sie von Gott ist.“ Alle Anstrengungen und Kämpfe eines aufrichtigen Herzens gegen jene schreckliche Macht stellt nur umso augenscheinlicher die Ohnmacht und Verderbtheit des Menschen zur Schau. Nichts bleibt diesem übrig, als der Notschrei: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ (Röm 7,24) und alle seine Weisheit ist außer Stand, dieser Frage der Angst und des Schreckens eine befriedigende Lösung zu geben. Welch ein Glück daher, in Christus eine nach allen Seiten hin genügende Antwort zu finden! Nur Ihm, der für uns gestorben und auferstanden ist, und in welchem wir mitgestorben und mitauferweckt sind, verdanken wir unsere völlige Befreiung aus den Fesseln dieser schrecklichen Herrschaft. In seinem Tod sind wir als Sklaven der Sünde gänzlich beseitigt und, in seiner Auferstehung mit lebendig gemacht, zu Sklaven der Gerechtigkeit geworden, wie geschrieben steht: „Freigemacht von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden“ (Röm 6,18). In dem auferstandenen Christus ist der Gläubige in eine ganz neue Stellung versetzt worden. Als alter Mensch, als Sklave der Sünde, ist er gerichtet und hinweggetan; als neuer Mensch, als Sklave der Gerechtigkeit, ist er in und mit Christus gesegnet. „Wenn jemand in Christus ist – eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen; siehe, alles ist neu geworden“ (2. Kor 5,17). Die Fesseln des Sklaven sind gesprengt, das Lösegeld ist für ihn bezahlt, und die Arme des Bürgen nehmen den Befreiten auf. Nicht durch eine allmählich fortschreitende Veredlung seiner Natur, sondern durch eine gänzliche Erneuerung ist er, der einst ein Sklave der Sünde war, ein Sklave der Gerechtigkeit geworden und, als „das Werk Gottes, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken“ (Eph 2,10), fähig gemacht, Gott Frucht bringen zu können. Trotz aller Anstrengungen wird der alte Mensch nimmer die Herrlichkeit Gottes erreichen; aber der neue Mensch ist im Besitz des Lebens des auferstandenen Christus und wird bei seiner Ankunft auch einen Leib empfangen, der „dem Leib seiner Herrlichkeit gleichförmig sein wird, nach der Wirkung, womit Er vermag, alle Dinge sich untertänig zu machen“ (Phil 3,21).
Welch eine erhabene Wahrheit! Der Glaube nimmt jetzt schon seinen Platz in dieser neuen Stellung und verwirklicht sie durch die Kraft des Heiligen Geistes. Er erblickt in dem Tod Christi das Ende des alten Menschen und in der Auferstehung Christi den Anfang einer neuen Kreatur, und mitgepflanzt zu der Gleichheit des Todes und der Auferstehung Christi hat der Christ mit der Sünde und ihrer Herrschaft ebenso wenig gemein, wie der auferstandene Christus. In dem Tod Christi ist er der Sünde gestorben (Röm 6,2) und in dem Leben Christi der Herrschaft der Sünde und des Todes für immer entronnen. „Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde. Wenn wir aber mit Christus gestorben sind, so glauben wir, dass wir auch mit Ihm leben werden, da wir wissen, dass Christus, aus den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt; der Tod herrscht nicht mehr über Ihn. Denn dass Er gestorben ist – Er ist ein für alle Mal der Sünde gestorben; dass Er aber lebt – Er lebt Gott. Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christus Jesus“ (Röm 6,7–11). Sind diese Schriftstellen nicht einfach und klar genug, um die Herzen aller, die angesichts des Richterstuhls Christi mit Zuversicht die Worte: „Wie Er ist, so sind auch wir in dieser Welt“ (1. Joh 4,17), ausrufen dürfen, mit Lob und Anbetung zu erfüllen? Haben sie, die einst so elenden Sklaven der Sünde, nicht einen sicheren Bergungsort gefunden, wo Sünde, Tod und Teufel sie nimmer zu erreichen vermögen? Ist nicht ihre Schuld getilgt, die im Fleisch wohnende Sünde gerichtet und der Leib der Sünde, der alte Mensch, für immer hinweggetan? Befinden sie sich nicht mit Christus jenseits des Kreuzes, jenseits des Todes und des Gerichts? Warum noch trauern, da alles, was gegen sie war, auf Golgatha zum Schweigen gebracht ist und sie ans einem neuen und lebendigen Wege in dem ungetrübten Glänze einer ewigen und unvergleichlichen Liebe ihres Gottes und Vaters in Christus Jesus wandeln können? Und wie unerschütterlich fest ist der Fels, worauf ihr Fuß ruht! Nichts kann sie scheiden von der Liebe, die in Christus Jesus ist; nichts ist im Stande, sie aus seiner Hand zu rauben; nichts vermag die mächtigen Fluten seiner überschwänglichen Gnade zurückzuhalten. O möchten wir doch nicht ermüden. Ihm, der uns für immer dem Rachen eines ewigen Todes entrissen hat, stets die Opfer des Lobes darzubringen.
Wir dürfen es indes nimmer unbeachtet lassen, dass wir, d. h. die Gläubigen, diesen gesegneten Platz jetzt nur durch den Glauben einnehmen können. Bleibt das Auge auf uns selbst gerichtet, so finden wir nach wie vor nichts als Sünde und Feindschaft in uns – eine Entdeckung, die das Herz nur mit Zweifel, Furcht und Unruhe erfüllen wird. Der Glaube lauscht nur auf die wahrhaftigen Worte Gottes und klammert sich fest an einen Gegenstand außer ihm, an Christus Jesus. Er beschäftigt sich nicht mit dem, was wir getan haben, sondern was Christus getan hat – nicht mit dem, was wir sind, sondern was Er ist; er erforscht einzig und allein das Werk Christi und findet darin nicht nur eine ewige Versöhnung unserer Sünden, sondern auch eine ewige Befreiung von allem, welches wider uns war; er erblickt darin nicht nur das Ende des über uns verhängten Zornes und Gerichts Gottes, sondern auch den unausforschlichen Reichtum der Gnade und Liebe für uns, die Erlösten; er erkennt, dass nicht nur der Tod und das Grab für immer versiegelt, sondern auch das Leben und die Herrlichkeit ans Licht gebracht sind. Wo findet sich da noch eine Ursache zur Furcht?
Wir haben also deutlich gesehen, dass wir, die wir an Christus glauben, in eine ganz neue Stellung, und zwar in dem auferstandenen Christus, versetzt sind – eine Stellung, die wir jedoch nur durch den Glauben einnehmen und durch die Kraft des in uns wohnenden Heiligen Geistes bewahren und verwirklichen können. Die Sünde, obgleich in uns, ist gerichtet, und wir sind ihr gestorben, so dass der Apostel uns zurufen darf: „Ihr seid nicht im Fleisch, sondern im Geist, wenn anders der Geist Gottes in euch wohnt“ (Röm 8,9). Einst war vor Gott unsere Stellung in dem ersten Adam, jetzt in dem zweiten, in Christus; einst im Fleisch, jetzt im Geist; einst im Tod, jetzt im Leben; einst waren wir Sklaven der Sünde, jetzt Sklaven der Gerechtigkeit; einst unter Gesetz, jetzt unter Gnade, kurz „das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden.“ Freilich wird diese Erneuerung erst dann vor aller Augen offenbar werden, wenn dieser unser Leib der Niedrigkeit bei der Ankunft Christi entweder durch Verwandlung oder durch Auferweckung umgestaltet und Christus Jesus offenbart werden wird (vgl. 8,11; 1. Thes 4,15–17; Kol 3,4). Jetzt kann, wie bereits gesagt, nur der Glaube diese neue Stellung ergreifen und durch die Kraft des Heiligen Geistes in unserem Wandel verwirklichen. „Der Glaube ist die Überzeugung dessen, was man nicht sieht“ (Heb 11,1). das Wort Gottes ist seine einzige Leuchte und Stütze, und der Geist Gottes seine Kraft. Durch den Glauben allein vermögen wir jetzt zu wandeln und den Namen des Herrn zu verherrlichen; nur durch den Glauben erkennen wir, „dass wir“ – wie der Apostel sagt – „was den früheren Lebenswandel betrifft, den alten Menschen, der nach den Lüsten des Betrugs verdorben ist, abgelegt haben, aber in dem Geist unserer Gesinnung erneuert worden sind und den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in Gerechtigkeit und wahrhaftiger Frömmigkeit, angezogen haben“ (Eph 4,22–24).
Zu welchem Zweck aber hat uns Gott in diese gesegnete Stellung berufen? Warum hat die erbarmende Liebe Gottes in der Hingabe seines Sohnes die Sklavenketten der Sünde und des Todes gesprengt und uns in Freiheit gesetzt? War es nur, um uns einen Platz in der Herrlichkeit zu bereiten? Hat Christus uns nicht von „aller Gesetzlosigkeit losgekauft und sich selbst ein Eigentumsvolk, eifrig in guten Werken, gereinigt?“ (Tit 2,14) Jeder Gläubige weiß es, dass er berufen ist, Gott durch einen würdigen Wandel hienieden zu verherrlichen. „Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, auf dass wir darinnen wandeln“ (Eph 2,10). Die Gesinnung Christi und sein Wandel hienieden sind allein das Maß und die Richtschnur unseres Lebens und Wandels. Deshalb lesen wir: „Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war;“ (Phil 2,5) und wiederum: „Wer da sagt, dass er in Ihm bleibe, der ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie Er gewandelt hat“ (1. Joh 2,6). Wie aber ist ein solcher Wandel denkbar ohne einen Glauben, der jedes Vertrauen auf die eigene Kraft sowie auf alles Sichtbare ausschließt und der das Werk Christi zu seiner alleinigen Grundlage, das Wort Gottes zu seiner alleinigen Leuchte und den Geist Gottes zu seiner einzigen Kraft hat? Alles in uns und um uns her ist nur geeignet, unseren Glauben zu schwächen; und deshalb bedürfen wir allezeit der Wachsamkeit, der Nüchternheit und des Gebets, damit es dem Feind unserer Seelen nicht gelinge, das Auge unseres Glaubens zu trüben, sie auf die sichtbaren Dinge zu richten und von Gott und seinem untrüglichen Worte abzulenken.
Da es indessen unsere Absicht nicht ist, hier auf den Wandel eines Christen näher einzugehen, so möchte ich nur noch mit einigen Worten ans zwei gefährliche Klippen, an denen schon manche Seelen gescheitert sind und fortwährend scheitern, die Blicke des Lesers richten. Man hört nämlich oft von einem Kampf wider die Sünde reden und man begreift unter dieser Bezeichnung jenes nutzlose Abmühen, den im Fleisch wohnenden Lüsten und Begierden den Todesstoß zu geben. Es mag ein vielleicht unter vielfachem Flehen und Seufzen begonnener und fortgesetzter Kampf sein; aber es ist nimmer der Kampf jenes Glaubens, der die Welt überwindet, sondern vielmehr das Verzweifelte Ringen des Unglaubens, wobei der Kämpfer stets unterliegt und sich verunreinigt. Ohne Zweifel wird das Vorhandensein des Fleisches oder der im Fleisch wohnenden Sünde Unruhe und Kämpfe in mir hervorrufen; jedoch möchte ich im Blick auf diese Erscheinung nicht gern sagen, dass ich „mit der Sünde zu kämpfen“ habe, weil eine solche Ausdrucksweise einerseits zu einem falschen Begriff über den Kampf des Gläubigen Anlass gibt, und weil dieselbe andererseits all keiner Stelle der heiligen Schrift gebraucht wird. Allerdings findet man in Hebräer 12,4 die Worte: „Noch habt ihr nicht, wider die Sünde ankämpfend, bis aufs Blut widerstanden;“ aber bei etwas näherer Beleuchtung wird man auf den ersten Blick entdecken, dass hier nicht von einem Kampf wider die im Fleisch wohnende, sondern wider jene Sünde die Rede ist, welche von außen her in dem Gewände mannigfacher Versuchungen auf die Hebräer eindrang. So lesen wir in dem vorhergehenden Vers: „Denn betrachtet den, der so vielen Widerspruch von Sündern gegen sich erduldet hat, auf dass ihr nicht ermüdet, indem ihr in euren Seelen ermattet;“ (V 3) und da auch die Hebräer bereits vieles in dieser Weise im „Kampf wider die Sünde“ erduldet (vgl. Kap 10,32–34), jedoch noch nicht „bis aufs Blut“ widerstanden (d. h. bis zum Tod ausgeharrt) hatten, so lag die Gefahr des Ermattens sehr nahe. Wir sehen daher augenscheinlich, dass es sich hier keineswegs um einen Kampf wider die im Fleisch wohnende Sünde handelt, wiewohl dadurch durchaus nicht geleugnet werden soll, dass den Gläubigen auch von dieser Seite viel Kampf und Unruhe bereitet wird. Denn nicht umsonst ermahnt der Apostel: „So herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leib, ihr zu gehorchen in seinen Lüsten; noch begebt eure Glieder der Sünde als Werkzeuge der Ungerechtigkeit“ (Röm 6,12–13). Und ebenso lesen wir in Kolosser, 3,5, wo nicht von den Gliedern des äußeren Leibes, sondern des Leibes der Sünde die Rede ist: „So tötet denn eure Glieder, die auf der Erde sind: Hurerei, Unreinigkeit, Leidenschaft, böse Lust und den Geiz, welcher Götzendienst ist.“ Dass das Vorhandensein der Sünde im Fleisch Kampf in der Seele hervorruft – wer wollte es leugnen?
Wie und auf welche Weise aber werden wir solche und ähnliche Ermahnungen zu verwirklichen im Stande sein? Ohne Zweifel werden sich alle Anstrengungen der eigenen Kraft wider die Sünde als nutzlos und ohnmächtig erweisen. Aber auch hier wie überall wird der Kampf des Glaubens den Sieg verleihen. Nur dürfen wir es nie aus dem Auge verlieren, dass der Glaube nimmer seine Kraft zur Ausführung seines Kampfes in uns selbst sucht. Sein Blick ist unverrückt auf Christus und sein Werk gerichtet. Dort allein ist die verborgene Quelle seiner Kraft und die unumstößliche Gewissheit seines Sieges. Nur in dem Werk Christi sind wir, wie wir bereits gesehen, durch unsere Einpflanzung in seinen Tod und seine Auferstehung der Herrschaft der Sünde entronnen, und dort haben unsere Glieder der Sünde ihren Tod gefunden. Und was ist die Folge? In dem Maß wir nun durch den Glauben diese Wahrheit festhalten und unseren Platz in dem Auferstandenen verwirklichen, werden wir auch in unserem Wandel die Befreiung von jener Herrschaft der Sünde ans Licht stellen und die Tötung unserer „Glieder, die auf Erden sind“, so oft sie sich regen, durch die Kraft des Heiligen Geistes in Ausführung bringen. „Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christus Jesus“ (Röm 6,11). „Wenn ihr denn mit dem Christus auferweckt seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist“ (Kol 3,1–2). Nur der Glaube ist fähig, diese Ermahnungen in der Kraft des Heiligen Geistes zu erfassen, und ihnen nachzukommen; nur der Glaube vermag uns über die niedrige Atmosphäre zu erheben, wo Sünde und Tod ihr Lager aufgeschlagen haben und wo der Unglaube nur stets seine Niederlagen zu beklagen hat. Möge der Herr uns daher in seiner reichen Gnade nüchtern und wachsam zum Gebet erhalten, damit wir allezeit „kraft des Glaubens“ wandeln und den „guten Kampf des Glaubens“ bis zu Ende kämpfen.
Die zweite Klippe für die Gläubigen besteht darin, dass sie, wie schon bemerkt, die Wahrheit Gottes oder ihre Stellung in Christus nach ihren eigenen Erfahrungen abmessen und beurteilen – eine Erscheinung, die leider nur zur Folge hat, dass dadurch jene Wahrheit verdunkelt und „die wahre Stellung der Gläubigen unsicher gemacht wird. Die Erfahrungen sind segensreich und köstlich, wenn der Glaube sie macht; aber wie viele trübe Erfahrungen macht der Unglaube! Wie reich war das Leben Jakobs an solchen Erfahrungen eines unlauteren Herzens! Aber wie traurig klingt ein Bekenntnis am Ende seiner Tage? Er sagt: ‚Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens gewesen.‘“ (1. Mo 47,9) Gleich den zahlreichen Christen unserer Tage hatte er fast nur die Falschheit und Unbeständigkeit seines bösen Herzens kennen gelernt, keineswegs aber wie Abraham die ungetrübte und erquickende Gemeinschaft Jehovas genossen. Doch welchen Wert wir auch den gemachten Erfahrungen beilegen mögen, so können sie doch nimmer unsere Leiter in der Wahrheit sein und nimmer dem Wort Gottes gleichgestellt oder gar zum Prüfstein dieses Wortes benutzt werden. Weshalb bedürfte auch dieses „wohl geläuterte“ Wort (Ps 119,140) noch irgendeines Prüfsteins? Ist es nicht vielmehr selbst ein Prüfstein – „lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert?“ – ein „Richter der Überlegungen und Gesinnungen des Herzens?“ (Heb 4,12) Jede Erfahrung unseres Herzens haben wir nach diesem Wort zu beurteilen und, wenn sie der Übereinstimmung mit demselben ermangelt, mit Entschiedenheit zu verwerfen. Wo unter der Leitung des Heiligen Geistes der Glaube wirksam ist, da wird auch sicher das Wort Gottes die einzige Regel und Richtschnur unseres Wandels und Kampfes hienieden sein, während der Unglaube, fern von dem Wort Gottes, Vergeblich einen Ruhe– und Stützpunkt in den schwankenden Gefühlen und Erfahrungen des eigenen Herzens sucht. Der Geist Gottes ist unablässig bemüht, unsere Füße auf den Boden des an das untrügliche Wort gebundenen Glaubens zu stellen. Sobald die Kolosser auf diesem Boden eine rückgängige Bewegung zu machen schienen, rief ihnen der Apostel zu: „Wenn ihr mit Christus den Elementen der Welt abgestorben seid, was unterwerft ihr euch den Satzungen, als wärt ihr noch am Leben in der Welt?“ (Kol 2,20) Das ist die Sprache des Wortes und des Glaubens, während die Erfahrung und die Vernunft gesagt haben würden: „Ihr unterwerft euch den Satzungen, und daher ist es sonnenklar, dass ihr noch am Leben in der Welt seid.“ Das Wort und der Glaube sagen: „Ihr seid gestorben“; aber die Erfahrung und die Vernunft urteilen.– „Ich sterbe täglich“ – eine Sprache, die nur zu deutlich verrät, dass man diese Worte des Apostels in 1. Korinther 15,31 nicht versteht, wo er von seinen großen Gefahren redet, die einem täglichen Sterben gleich zu achten waren, und die er in Römer 8,36 mit den Worten bezeichnet: „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind wir gerechnet worden.“ Gewiss, das Wort Gottes bildet den völligsten Gegensatz mit den Erfahrungen des Herzens; und die Sprache des Glaubens widerspricht den Eingebungen der Vernunft unter allen Umständen.
Herr! erleuchte mehr und mehr unser Auge, um diese Klippen zu sehen, vermehre unseren Glauben und befestige ihn von Tage zu Tage! (Fortsetzung folgt)