Botschafter des Heils in Christo 1867

"Ihr seid vollendet in ihm" - Teil 1/4

Gegenüber der Neigung vieler Seelen, den Frieden des Gewissens auf etwas zu gründen, welches sie in und bei sich selbst wahrnehmen, sowie angesichts der steten Schwankungen, der Unbeständigkeit und Unzulänglichkeit eines solchen Friedens ist es von unberechenbarer Wichtigkeit, den wirklichen, wahren und unerschütterlichen Grund zu kennen, auf dem allein ein dauernder, beständiger Friede seinen Stützpunkt hat. Wo anders aber könnte die Seele diesen Grund finden, als nur in dem vollbrachten Werke Christi? Das ist der wahre, unbewegliche Boden, den Gott selbst gelegt hat – ein Fels, der den Stürmen trotzt und dem Platzregen und den Strömen widersteht (Mt 7,25). Es ist der alleinige Grund auf dem wir Gott stets mit einem guten Gewissen und einem mit Ruhe erfüllten Herzen nahen können. Jeder andere Grund des Friedens, wie vernünftig und sicher er auch zu sein scheinen mag, ist trüglich und nichtig. Sowohl das Wort Gottes, als auch die tagtäglichen Erfahrungen jedes Gläubigen liefern dafür die unwiderlegbarsten Beweise.

Und dennoch ist leider bei so vielen Seelen die Neigung vorherrschend, den Grund ihres Friedens weit lieber in den trügerischen Erfahrungen ihres eigenen Herzens – in ihrer Buße, in ihren Gebeten und ihren Tränen, in ihren Gefühlen und ihren Vorsätzen, in ihrer Erkenntnis, in ihren Werken und in zahllosen anderen Dingen – zu suchen, als in Christus und nur in Ihm allein. Und was ist die Folge? Der Friede kann nicht wirklich und dauernd sein, sondern ist nur Schein und stetem Wechsel und mannigfachen Störungen unterworfen. Wie könnte auch von Seiten des Menschen etwas im Stande sein, das „Gewissen vollkommen zu machen“, oder bewirken, dass „kein Gewissen von Sünden“ mehr vorhanden wäre? (Heb 9,9; 10,2) Eine solche gesegnete Wirkung hat nur das Werk Christi, weil es göttlich und mithin vollkommen ist; und hat die Seele durch den Glauben in diesem Werk ihren Stützpunkt gefunden, so ist der Friede für immer gesichert, das Gewissen entlastet und das Herz an jener Stätte, wo die göttliche Gerechtigkeit betreffs unserer Sünden gänzlich befriedigt und Gott selbst verherrlicht ist, in glückselige Ruhe versetzt. Nur von dieser Stätte aus vermag Gott uns zu segnen und in vollkommener Gnade mit uns zu handeln.

Diese gesegnete Wahrheit sollte allen Fleiß in uns erwecken, jeden menschlichen Grund zu verlassen, jede fleischliche Stütze zu verwerfen und nur auf das vollbrachte Werk Christi unser völliges Vertrauen zu setzen. Je tiefer wir in diese Wahrheit eindringen, desto bestimmtere Schranken werden wir den Einbildungen unserer Selbstgerechten Herzen entgegenstellen und desto unzweideutiger werden wir Gott die Ihm allein gebührende Ehre geben. Wo anders finden wir eine so deutliche Offenbarung dessen, was der Mensch und was Gott ist, als in dem Kreuz Christi? Von hier aus dringen dem armen, entblößten und verdammungswürdigen Sünder die Strahlen einer göttlichen Liebe und Treue, Gnade und Gerechtigkeit in dein herrlichsten Glänze entgegen; ja hier begegnet das Auge des Mühseligen und Beladenen allem, was für ihn erforderlich ist, um für immer und mit einem völlig glücklichen Herzen in der heiligen und gesegneten Gegenwart Gottes seinen Platz einnehmen zu dürfen.

Es wird daher für unsere Leser von nicht geringem Interesse sein, wenn wir in diese große und herrliche Fundamentalwahrheit ein wenig näher eingehen. Möge es geschehen unter der Leitung des Heiligen Geistes, der allein fähig ist, uns wahrhaft zu erleuchten. 1.: Zunächst möchte ich einige kurze Augenblicke bei dem Zustand des Menschen von Natur verweilen. Ein klares Verständnis über diesen Punkt zu besitzen oder – mit anderen Worten – das Urteil Gottes in dieser Beziehung zu kennen, ist äußerst wichtig und notwendig. Hier handelt es sich nicht um das, was der Mensch selbst von sich hält und wie er über sich urteilt, sondern allein um das, wie Gott ihn betrachtet und beurteilt. Nur das Urteil Gottes ist maßgebend. Der Mensch urteilt nach dem, was vor Augen ist, nach dem äußeren Schein; aber Gott ist ein „Richter der Überlegungen und Gesinnungen des Herzens; und kein Geschöpf ist vor Ihm verborgen, sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben“ (Heb 4,12–13). Das menschliche Urteil unterscheidet ehrbare und ruchlose, treue und gewissenlose, gütige und hartherzige, religiöse und gottlose Menschen; und diese Unterschiede sind, nach dem Maßstab der menschlichen Gerechtigkeit und insoweit es sich um das Leben auf dieser Erde handelt, auch in der Tat vorhanden. Wer wollte das Dasein löblicher und anerkennenswerter Eigenschaften unter den Menschen in Abrede stellen? Aber welchen Wert haben alle menschlichen Vorzüge und Tugenden vor Gott, wenn es sich um die himmlische Herrlichkeit handelt? Nicht den geringsten. Das Urteil Gottes ist in dieser Beziehung bestimmt und entscheidend; denn wir lesen: „Es ist kein Unterschied; denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“ (Röm 3,23). Und wiederum: „Sie sind alle abgewichen und allesamt untauglich geworden; da ist nicht, der Gutes tut, auch selbst nicht einer“ (Röm 3,12). In den Augen der Menschen war Saulus ein „Eiferer um Gott“ (Apg 22,3) und tadellos hinsichtlich der Gerechtigkeit im Gesetz; aber in den Augen Gottes war er ein „Lästerer und Verfolger und Schmäher“ (1. Tim 1,13). Vor Gott ist der Mensch ein unwürdiges Geschöpf. Mag er in sorgloser Leichtfertigkeit und träger Gleichgültigkeit, oder in dünkelhaftem Selbstvertrauen und stolzer Eigengerechtigkeit dahingehen – er ist und bleibt ein Sünder.

Und dennoch, wie schwer ist es dem natürlichen Herzen, dieses zu erkennen! Ja, ohne Licht von oben ist eine solche Erkenntnis undenkbar. Nimmer wird es der eigengerechte Mensch einräumen, dass alle seine Werke ihm auf ewig den Himmel verschließen und die Pforten der Hölle öffnen. Ob auch Gott gesagt hat: „Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (1. Mo 8,21 vgl. Jer 17,9), so fährt doch der Mensch fort, nach eingebildeten Guttaten zu haschen und sich derselben zu rühmen. Zu seiner Rechtfertigung zählt er Sünden und Vergehungen auf, deren er sich nicht, gleich anderen, schuldig gemacht hat. Er ist kein Mörder, kein Ehebrecher, kein Dieb, kein Lästerer, und er glaubt, deshalb schon ein Anrecht auf den Himmel zu haben. Welch eitle Verblendung und Selbsttäuschung! Trotz allen Anmaßungen des eitlen Herzens bezeichnet Gott den Menschen einfach als einen Sünder, als einen Feind Gottes, als einen Gottlosen (Röm 5,6–10), als einen Lügner (Ps 116,11), als tot in den Sünden und in den Vergehungen, als ein Kind des Zornes (Eph 2,1–3), als einen Verlorenen; (Röm 2,12) und in diesem Zustand wird er nach Ablauf des Tages der Gnade vor den Richterstuhl Christi gestellt und gerichtet werden (Mt 12,36; Röm 14,12). Es ist „dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht“; (Heb 9,27) und „kein Lebendiger wird vor Ihm gerecht erfunden“ werden. Und wäre auch nur das gegebene Gesetz das einzige Maß der Forderungen Gottes, so würde sicher schon „jeder Mund verstopft werden und die ganze Welt dem Gericht verfallen sein“ (Röm 3,19).

Es kann daher nicht stark genug betont werden, dass jeder Mensch von Natur – ob Jude, oder Heide, oder Christ – vor Gott als Sünder erfunden und darum schuldig und verloren ist. Die Juden, obwohl unter Gesetz und in Erkenntnis Gottes, haben sich auf jeder Stufe ihrer Geschichte als ein undankbares, trotziges und halsstarriges Volk erwiesen; und ohne alle Gerechtigkeit vor Gott tragen sie auf ihren Stirnen den göttlichen Urteilsspruch: „Verflucht sei, wer nicht hält die Worte des Gesetzes, dass er danach tue; und alles Volk soll sagen: Amen“ (5. Mo 27,26). Was aber die Heiden, als ohne Gesetz und ohne Erkenntnis Gottes und Christi betrifft, so finden wir in Römer 1,18–32 eine wahre Schilderung ihres hoffnungslosen Zustandes; und in einer ähnlichen Weise wird uns in 2. Timotheus 3,1–5 der Zustand derer charakterisiert, welche, lebend in der „wohl angenehmen Zeit“ der Gnade, unter dem Namen von Christen, welche „die Form der Gottseligkeit haben, aber deren Kraft verleugnen“. Mit einem Wort – alle, ohne Unterschied, sind schuldig; alle sind verloren.

Das ist das einfache und bestimmte Urteil des göttlichen Wortes – ein höchst demütigendes, aber – da es „unmöglich ist, dass Gott lüge“ – ein völlig wahres Urteil. Doch der Mensch bedarf der göttlichen Gnade, um sich unter ein solch unumstößliches Zeugnis zu beugen. Solange er sich und sein Leben nach dem Licht seiner eigenen Erkenntnis misst, unterscheidet er in und an sich Gutes und Böses; und indem er sich des einen rühmt und das andere abzulegen sich anmaßt, glaubt er einen passenden Weg zum Eingang in den Himmel entdeckt und gefunden zu haben. Wie schnell aber Zerrinnen und verfliegen die dicken Nebel seiner eitlen Vorspiegelungen, wenn der Lichtglanz der Gerechtigkeit Gottes in seine Seele dringt und all sein Tun, Dichten und Trachten des eingebildeten Schmuckes entkleidet! Dann steht er, wie die Überlegungen seines Herzens, die Worte seiner Lügen und die Werke seiner Hände ganz und gar von der Sünde befleckt und verunreinigt sind; ja, dann ist er zu dem demütigenden Bekenntnis gezwungen, dass er nichts getan hat und nichts zu tun vermag, um die Herrlichkeit Gottes zu erreichen. Und das ist die Wahrheit nach dem unumstößlichen Urteil Gottes. Der Mensch ist ohne Leben und mithin ohne Kraft. Die Quelle ist verdorben – wie könnte etwas Gutes daraus hervorsprudeln? Er ist in Sünden geboren und lebt in Sünden; er verwirft das Böse, und dennoch übt er es aus; er rühmt das Gute, und dennoch vollbringt er es nicht. Das düstere Gemälde, welches der Apostel in Epheser 2,1–3 über den natürlichen Menschen entwirft, zeigt nicht einen einzigen Lichtpunkt. Er zeichnet ihn hier in seinem moralischen Zustand vor Gott als völlig verdorben, blind und tot, und darum als gänzlich verloren. Und kein Heilmittel ist in der Hand des unglücklichen Menschen; nirgends zeigt sich ihm ein Ausweg zum Entrinnen. In seinem wirklichen Zustand, in seiner wahren Gestalt muss er dem heiligen und gerechten Gott begegnen. Kann er etwas anderes erwarten, als jenes schreckliche, niederschmetternde Wort: „Weiche von mir, du Wirker der Ungerechtigkeit?“ Kann er den Armen einer ewigen und qualvollen Verdammnis ausweichen, die sich ihm entgegenstrecken, um seine arme Seele für immer zu umschlingen? Ach! „es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!“ (Heb 10,31)

Und, geliebter Leser, welches wird dein Los sein? Machst du etwa eine Ausnahme von der göttlichen Regel? Hat die Sünde ihren Stempel nicht auch auf deine Stirn gedrückt? O täusche dich nicht! Traue nicht den Vorspiegelungen deines eitlen, törichten Herzens! Dein Wandel mag nach dem Maßstab menschlicher Gerechtigkeit tadellos sein; deine Tugenden und guten Eigenschaften mögen dir das ehrende Lob der Menschen einbringen; aber Gott allein ist es, der dich durchschaut, beurteilt und richtet. Willst du es wagen in die Hände dessen zu fallen, der ein „verzehrendes Feuer“ ist?

Aber gibt es denn gar kein Mittel zur Errettung aus diesem schrecklichen Zustand? Gewiss – Gott sei ewig dafür gepriesen! Aber dieses Rettungsmittel liegt nicht in der Hand des schwachen Menschen, sondern in der Hand des allmächtigen Gottes. Gott selbst ist die Quelle dieser Errettung; aus Ihm sprudeln ihre lebendigmachenden Ströme hervor. Nicht die fruchtlose Untersuchung dessen, was ich, um gerettet zu werden, zu tun habe, sondern nur die Frage: „Was hat Gott zu meiner Rettung getan?“ findet hier ihren göttlich bezeichneten Platz. Die Ausübung der Sünde war meine Sache; die Errettung von der Sünde und ihren Folgen ist ausschließlich die Sache Gottes. Er hat für arme, verdorbene und verlorene Sünder in Christus Jesus eine ewige und vollkommene Erlösung vollbracht. Er hat es getan nach seinem Wohlgefallen, nach seiner erbarmenden Liebe und um seines Namens willen; und darum hat die Erlösung des Sünders ihre unversiegbare Quelle in Gott selbst.

Der Mensch erhebt stets, bewusst oder unbewusst, seine Stirn in Empörung wider Gott und weigert sich hartnäckig, den an ihn gestellten weisen und gerechten Anforderungen Genüge zu leisten. Er ist, wie die Schrift sagt, „unverständig, ungehorsam, verirrt; er dient den Lüsten und mancherlei Wollüsten, führt sein Leben in Bosheit und Neid, ist hassenswürdig und voll Hass“ (Tit 3,3). Wird man sich nicht mit Abscheu und Ekel von einer Quelle abwenden, die nur schmutziges, stinkendes Wasser aussprudelt? Und eine solche Quelle war und ist das menschliche Herz im Angesicht des heiligen und gerechten Gottes. Vermochte sein alles durchdringendes Auge hier etwas zu entdecken, welches Ihn hätte anziehen, anspornen und bewegen können, die rettende Hand auszustrecken? Kann der so tief gesunkene, völlig verdorbene Mensch Ansprüche auf irgendwelche Segnungen erheben? Keineswegs. Der alleinige Beweggrund Gottes zur Rettung des Sünders ruht in dem eigenen Wohlgefallen Gottes, in seiner eigenen grenzenlosen Liebe und Gnade, in seinem unergründlichen Erbarmen.

Für diese herrliche Wahrheit liefert die heilige Schrift die unwiderlegbarsten Beweise. Wir finden in Hebräer 10,8–10, wo der Herr Jesus redend eingeführt wird, die beachtenswerten Worte: „Schlachtopfer und Speisopfer und Brandopfer und Sündopfer hast du nicht gewollt, noch Wohlgefallen daran gefunden ... Siehe, ich komme, zu tun deinen Willen ... durch welchen Willen wir geheiligt sind durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi.“ Nur als Vorbilder hatten die Opfer des alten Bundes ihre Bedeutung und ihren Wert. Gegenüber einer wirklichen, tatsächlichen Erlösung, waren sie ohne alle Kraft. Das vergossene Blut aller in der ganzen Schöpfung lebenden Tiere hätte nicht die kleinste Sünde zu tilgen, geschweige denn einen Sünder zu erretten vermocht. Wie konnte daher Gott Wohlgefallen haben an Opfern, die der Ausführung seiner Gnadenabsichten nicht entsprachen? Aber – o wunderbare Liebe! – Er hatte Wohlgefallen an unserer Errettung; und darum tritt der Herr Jesus in seinem Erbarmen in die Welt mit den Worten: „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun.“ Und durch das „einmal geschehene Opfer seiner selbst“ hat Er diesen Willen erfüllt und eine „ewige Erlösung“ (Heb 9,12) und eine vollkommene Reinigung von Sünden vollbracht. „Das Blut Jesu Christi reinigt uns von aller Sünde“ (1. Joh 1,7).

Aber noch an einer anderen Stelle bezeugt der Herr, dass die Errettung des Sünders ihren Ursprung in dem Willen Gottes hat. Er sagt in Johannes 17,4: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.“ – Welch ein festes Fundament trägt unsere Errettung! Sie ist weder aus dem Willen des Menschen hervorgegangen, noch durch die Hand desselben vollbracht, sondern sie verdankt ihren Ursprung allein dem Willen Gottes, ist vollbracht durch den Sohn Gottes und zugleich bezeugt und bestätigt durch den Geist Gottes (Heb 10,15). Sie ist göttlich in ihrer Quelle, göttlich in ihrer Vollbringung, göttlich in ihrer Bestätigung. Und darum ist das Werk Christi die einzige und wahre Freistadt für den verlorenen Sünder; nur dieses Werk ist sein sicherer Bergungsort am Tag des Zorns und sein lieblicher Ruheplatz in Zeit und Ewigkeit. Welch eine gesegnete Wahrheit!

Wenn aber nun die Errettung des Sünders ihren alleinigen Ursprung, ihre einzige Quelle in dem Willen oder Wohlgefallen Gottes hat, so vermochte auch nur die Macht seiner Liebe und seines Erbarmens die Schleusen zu öffnen, um die Ströme lebendigen Wassers hervorbrechen zu lassen. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gegeben, auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren sei, sondern ewiges Leben habe“ (Joh 3,16). Waren es Gerechte und Gütige, für welche diese unendliche Liebe tätig war? Ach nein! Für gottlose, feindselige und verlorene Sünder sandte Gott seinen eingeborenen Sohn. „Also hat Gott die Welt geliebt.“ Nicht erst dann, nachdem unsere Errettung eine vollendete Tatsache war, setzte sich diese Liebe in Tätigkeit, nein, sondern unsere Errettung selbst ist, da wir noch Sünder und Feinde waren, das Werk dieser Liebe. „Gott erweist seine Liebe gegen uns, indem Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“ (Röm 5,8). „Gott aber, weil Er reich ist an Barmherzigkeit, hat wegen seiner vielen Liebe, womit Er uns geliebt hat, als auch wir in den Vergehungen tot waren, uns mit dem Christus lebendig gemacht“ (Eph 2,4). „Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Versöhnung für unsere Sünden ... – Wir lieben Ihn, weil Er uns zuerst geliebt hat“ (1. Joh 4,10.19). Wie klar und bestimmt bezeugen diese und viele andere Stellen, dass Gott die Liebe ist, und dass unsere Errettung diese seine Liebe zur Quelle hat!

Nichts aber verleiht dieser Liebe einen bestimmteren Ausdruck als das Kreuz Christi; und nirgends tritt das unergründliche Erbarmen Gottes so lebendig an den Tag, wie bei einem erlösten Sünder. „Gott hat seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern hat Ihn für uns alle hingegeben“ (Röm 8,32). Die Errettung in ihrer ganzen Ausdehnung trägt das unverkennbare Gepräge seiner vollkommenen Liebe. Hat der verlorene Sünder etwas hinzugefügt? Hat er etwa den Glanz des auf Golgatha vollbrachten Werkes Christi durch irgendeine Beifügung von seiner Seite erhöht? Ach! nichts als seine Sünden und Vergehungen vermochte er für dieses glorreiche Werk zu liefern; alles andere tat Gott, der die Armut, die Blöße, das Verderben des Menschen kannte und nichts erwartete und nichts suchte, als dessen Sünden. Ja, Gott allein hat nach dem Wohlgefallen seines Willens gehandelt und, geleitet durch seine unendliche Liebe und sein unergründliches Erbarmen, ein vollkommenes Werk der Erlösung vollbracht.

Und weit geöffnet sind jetzt die Pforten des Himmels. „Die heilbringende Gnade Gottes ist erschienen allen Menschen“ (Tit 2,11). Teurer Leser! Hast du diese gesegnete Wahrheit an deinem Herzen noch nicht erfahren, dann nahe ohne Zögern zu Gott – nahe zu Ihm, wie du bist, als ein armer, verlorener und verderbter Sünder; und sicher. Du wirst bei Ihm eine vollkommene Gnade und eine ewige Erlösung finden – nahe zu Ihm mit der ganzen Sündenbürde, die zentnerschwer auf deinem Gewissen lastet; und gewiss du wirst aus eigener Erfahrung einstimmen können in die Worte des Psalmisten: „Glückselig der, dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde bedeckt ist! Glückselig der Mensch, dem Jehova die Ungerechtigkeit nicht zurechnet und in dessen Geist kein Trug ist“ (Ps 33,1–2). Mag deine Sünde groß und überströmend sein, so ist doch die Gnade weit überschwänglicher (Röm 5,20). Darum nahe zu Ihm, denn du begegnest einem Gott, dessen Herz nicht erst durch dein Gebet und Flehen zum Mitgefühl und Erbarmen erweicht werden muss, sondern der Wohlgefallen an deiner Rettung hat und völlig bereit ist, dich mit der innigsten Liebe und dem herzlichsten Erbarmen zu empfangen. Er selbst sucht dich und lädt dich ein; Er fordert dich auf durch den Mund des Apostels: „Lass dich versöhnen mit Gott!“ (2. Kor 5,20)

Möge der Herr uns alle befähigen, die Wirksamkeit und Tragweite des Opfers Christi immer tiefer zu ergründen! Möge Er, indem wir die heiligen Schriften erforschen, die Überzeugung tief in unsere Herzen prägen, dass wir es nicht mit dem unsicheren Wort eines Menschen, sondern mit dem untrüglichen Worte des wahrhaftigen Gottes zu tun haben. Nur wenn die sich widersprechenden Gefühle und die menschlichen Vernunftschlüsse und Meinungen zum Schweigen gebracht sind und unser Glaubensauge in dem Licht und der Kraft des Heiligen Geistes auf das vollbrachte Werk Christi gerichtet ist, nur dann werden unsere Gewissen von aller Furcht befreit und unsere Herzen in Ruhe sein. 2.: Die Gedanken eines Sünders, dessen Gewissen erwacht ist, richten sich zuerst auf seine Sünden und Vergehungen. Das Licht Gottes durchbricht die finsteren Schatten seiner Seele; und in diesem Licht erkennt er, dass Er Gott auf tausendfache Weise verunehrt und beleidigt hat. Der Gedanke an die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes, sowie an das ewige Gericht füllt sein Herz mit Furcht und Entsetzen. Er fühlt, dass er „Ihm auf Tausend nicht eins zu antworten vermag“ (Hiob 9,3). Was wird die Ewigkeit für ihn in ihrem dunklen Schoß bergen? Was anders als den ewigen Tod, die ewige Verdammnis? Und nirgends zeigt sich seinem ängstlichen Blick ein Ausweg, um diesem schrecklichen Los zu entrinnen, nirgends ein Mittel, um das geringste Sümmchen seiner unberechenbaren Sündenschuld zu tilgen und in irgendeiner Weise den heiligen und gerechten Gott zu befriedigen. Wohl traut sich in solcher Lage noch mancher die Fähigkeit zu, die Bahn des Bösen verlassen und sein Leben besseren zu können; wohl legt mancher mit einer Energie, deren seine Natur fähig ist, Hand ans Werk, um gute, Gott wohlgefällige Früchte Hervorzubringen; aber ach die in ihm wohnende Sünde setzt allen seinen Anstrengungen eine mächtige, unüberwindbare Schranke entgegen. Er seufzt und kämpft; aber es sind die wirkungslosen Seufzer und Kämpfe eines mit starken Ketten gebundenen Sklaven; er will das Gute und trachtet den Anforderungen Gottes zu genügen; aber es ist das Wollen und das Trachten eines verurteilten Gefangenen hinter Schloss und Riegel. Und mit jedem Tag drängt sich mächtiger und fühlbarer seiner Seele die trostlose Überzeugung auf, dass er „fleischlich und unter die Sünde verkauft“ ist, und dass er „sich selbst Zorn aufhäuft für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Geruchs Gottes, welcher jeglichem vergelten wird nach seinen Werken ... an dem Tag, da Gott das Verborgene der Menschen richten wird durch Jesus Christus“ (Röm 2,5–16).

Armer, verblendeter Mensch! Deine Anstrengungen legen offenes Zeugnis ab von der Unkenntnis bezüglich deines wirklichen Zustandes und sind ganz und gar geeignet. Deine Blöße und deine Ohnmacht noch völliger ins Licht zu stellen. Und selbst vorausgesetzt, dass dein Streben, dass Leben zu besseren, von einem glücklichen Erfolg gekrönt wäre, würdest du dann, im Blick auf die vorher begangenen, unzähligen Sünden, aufhören, Gottes Schuldner zu sein? Vermöchtest du hinfort mehr zu tun, als du zu tun schuldig bist, um durch einen Überschuss guter Werke die Sünden der Vergangenheit zu sühnen? Wird nicht deine Sündenschuld offenbleiben und wider dich zeugen? „Aber“ – sagst du – „Gott ist doch gnädig.“ Ohne Zweifel, – sein Name sei bis in alle Ewigkeit dafür gepriesen! Aber nie und nimmer wird Er auf Kosten seiner Gerechtigkeit gnädig sein; nie und nimmer in Gnaden handeln, während Er seine Gerechtigkeit bei Seite setzt. Das ist unmöglich. Und dennoch wird, bewusst oder unbewusst, von vielen Seelen eine solche Gnade erwartet und erfleht. Wollte aber Gott einem derartigen Verlangen genügen, so müsste Er sich selbst verleugnen und aufhören, Gott zu sein. Unleugbar übersteigt die Überschwänglichkeit seiner Gnade alle menschlichen Begriffe; aber es ist eine Gnade, welche in der völlig befriedigten und verherrlichten Gerechtigkeit Gottes ihren sicheren Ruhepunkt findet – eine Gnade, welche „herrscht durch die Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (Röm 5,21). Und auf diese Gnade möchte ich hier vornehmlich die Aufmerksamkeit meiner Leser richten.

Von dem Augenblick an, wo ein Sünder sich vor Gott wirklich schuldig und verloren fühlt, erwacht in seiner Seele das Verlangen nach Gnade; und je tiefer und gründlicher jenes Bewusstsein ist, desto mächtiger und wahrer ist auch dieses Verlangen. Er mag zwar von jeher im Allgemeinen die Gnade als wünschenswert betrachtet haben; aber erst jetzt, wo er ihrer bedarf, erkennt er ihre Notwendigkeit. Nur ein schuldbewusster, verurteilter Verbrecher weiß die Gnade wahrhaft zu würdigen. Und wo findet der verdammungswürdige Sünder eine Gnade, die alle seine Sünden zudeckt und vergibt, und die ihn nach allen Seiten hin sicherstellt? Wo anders als in Christus Jesus? Außer Christus muss Gott jedem Sünder, und wäre er auch der tugendhafteste, vorzüglichste Mensch auf Erden, in Gerechtigkeit und Gericht entgegentreten; in Christus aber, und ob auch seine Sünden noch so zahlreich und himmelschreiend sein mögen, begegnet Er ihm in vollkommener, überschwänglicher Gnade. Wer in Ihm Gott sucht, der findet den Gott, welcher Gottlose rechtfertigt (Röm 4,5), und zwar auf dem Grund seiner vollkommenen Gerechtigkeit. Und wie ist dieses möglich? Richte deinen Blick auf das Kreuz Christi, und du findest eine völlige Lösung dieser Frage.

Durch die Sünde ist Gott von Seiten des Menschen auf jegliche Weise verunehrt worden. Der Mensch hat alles, was in Gott ist und worin Er sich Ihm offenbart hat, mit Füßen getreten und steht jetzt mit einem schuldbeladenen Gewissen vor einem vermehrten, aber völlig heiligen und gerechten Gott. Und vor einem solchen Gott ist der Platz des Sünders unbeschreiblich schrecklich. Kein menschlicher Verstand vermag die Tiefe seines Elends zu ergründen; kein menschliches Auge vermag die finsteren Todesschatten zu durchbrechen, die die Größe seines Jammers bergen. Aber gerade auf dieser Stätte des Elends und des Jammers sah ihn die Liebe Gottes; ihn zu retten, war der Beschluss dieser erbarmenden Liebe. Aber wie war dieses möglich? Wie konnte Gott in Gnade handeln, solange seine Gerechtigkeit nicht ihre völlige Befriedigung gefunden hatte? Ach! die Ströme einer vollkommenen, göttlichen Gnade, deren der Sünder bedurfte, waren gehemmt durch den mächtigen Damm einer vollkommenen, göttlichen Gerechtigkeit. Wo war ein Ausweg? Nur die Lieds Gottes fand die Lösung dieser verhängnisvollen Frage. „Siehe, ich komme, um deinen Willen, o Gott, zu tun!“ tönte es aus dem Himmel auf die Erde hernieder. Ja, es war jemand vorhanden, der Macht und Liebe besaß, um den wohlgefälligen Willen des Gottes der Liebe erfüllen zu können – Einer war da, der von der mächtigen Hand der Gerechtigkeit den Todesstoß zu empfangen bereit war, um aus dem Herzen eines gerechten und in allen seinen Forderungen befriedigten Gottes die Fluten einer überschwänglichen Gnade ungehindert hervorströmen zu lassen; – und dieser eine war der eingeborene, der vielgeliebte Sohn Gottes. Außer Ihm war niemand im Himmel und auf Erden, der den Platz des Sünders einzunehmen und Tod und Gericht – den wohlverdienten Lohn des Sünders – auf sich zu nehmen vermochte, um auf diese Weise die Gerechtigkeit Gottes völlig zu befriedigen. Ach, welch eine anbetungswürdige Gabe der Liebe Gottes für gottlose und feindselige Sünder! Tausend und abertausend Welten sind nichts gegen eine solche Gabe. Die Liebe Gottes zeigt sich in ihren glänzendsten Strahlen gegenüber einem Geschöpf, welches abgefallen ist und die freche Stirn der Empörung wider Ihn erhebt. Eine größere Probe konnte diese seine Liebe nicht bestehen; über ihr Maß hinaus gibt es keine Liebe weder im Himmel noch auf Erden. In ihrer Bemühung, bis zur Stätte des Todes herabzusteigen und hier den verlorenen, feindseligen Sünder zu ergreifen, gleicht sie einem blendenden Strahle auf dunklem Grund. Kein höherer Beweis von der Größe einer Liebe konnte geliefert werden. Mit Recht ruft der Apostel aus: Kaum wird jemand für einen Gerechten sterben, (denn für einen Gütigen möchte jemand zu sterben wagen). Gott aber erweist seine Liebe gegen uns, indem Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist. – Ja, die Gerechtigkeit Gottes ist in all ihren Forderungen zufrieden gestellt; die „Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit“; und der Gläubige kann mit völliger Zuversicht seinen Blick auf das Kreuz richten und mit einem glücklichen Herzen ausrufen: „Der doch seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat; wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?“

Christus nahm also nach dem wohlgefälligen Willen Gottes und in seiner eigenen Liebe unseren Platz auf Golgatha ein. Dort belud Er sich mit unseren Sünden; dort erlitt Er an unserer statt den Tod und das Gericht – Er, „der Gerechte für die Ungerechten, auf dass er uns zu Gott führe“ (1. Pet 3,18). „Er ist einmal offenbart in der Vollendung der Zeitalter zum Wegtun der Sünde durch das Schlachtopfer seiner selbst“ (Heb 9,26). „Er ist um unserer Übertretungen wegen verwundet und um unserer Ungerechtigkeit wegen zerschlagen: die Strafe, die uns den Frieden bringt, lag auf ihm, und durch seine Wunden sind wir heil geworden“ (Jes 53,5). Er war im Gericht für unsere Sünden; Er trug den Zorn, den wir verdient hatten. – „Ohne Blutvergießung ist keine Vergebung“ (Heb 9,22), sagt die Schrift; und darum bedurften wir zur Tilgung unserer Sünden seines Blutes, des Blutes des Lammes Gottes. „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde;“ (1. Joh 1,7) „Mit seinem eigenen Blut ist er ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden hatte“ (Heb 9,12). – Bis zu jener Zeit war der Weg zum Heiligtum verschlossen; der Anbeter musste draußen stehen bleiben. Jetzt aber hat der Glaubende „Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu, auf einem neuen und lebendigen Weg den er uns eingeweiht hat durch den Vorhang, das ist sein Fleisch“ (Heb 10,19–20). das Lamm Gottes vergoss auf Golgatha sein Blut, hauchte seinen Geist aus, und der Vorhang zerriss von oben bis unten und öffnete auf diese Weise den Weg in die unmittelbare und unverhüllte Gegenwart Gottes. Ein jeder, der jetzt einfach im Glauben an dieses kostbare Blut naht, hat hier ungehinderten, freien Zutritt. Er betritt dann einen Weg, auf dem auch Christus „mit seinem eigenen Blut“ in das Heiligtum eingegangen ist, und wird um dieses Blutes willen hier ebenso willkommen sein, wie Christus selbst. In der ganzen Vortrefflichkeit Christi nimmt er mit Ihm Platz im Heiligtum, um für immer bei Ihm zu sein und im Genüsse seiner Herrlichkeit mit allen Erlösten zu seinem Lob ausrufen zu können: „Der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut, und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater“ (Off 1,5–6).

Und wie unendlich groß ist der Wert seines kostbaren Blutes! Denn kraft dieses Blutes werden wir auf ewig mit Ihm unseren Platz in seiner Herrlichkeit haben, auf ewig uns in seiner Liebe erfreuen und auf ewig Ihn preisen und anbeten. Noch in jener letzten Nacht, richtete der Herr bei Gelegenheit der Feier des Abendmahls, die Blicke seiner betrübten Jünger auf dieses sein Blut, indem Er sagte: „Dieses ist mein Blut, das des neuen Bundes, welches für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28). Auf einen festeren, sicheren Boden konnte er die Füße der Seinen nicht stellen. Nicht mit Silber oder Gold sind sie erlöst worden, sondern „mit dem kostbaren Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken“ (1. Pet 1,18–19), – eines Lammes, welches für die Erlösten selbst in der Herrlichkeit ein Gegenstand ihres Lobes und ihrer Anbetung sein wird, indem sie zu seinen Füßen niedersinken und das neue Lied anstimmen: „Du bist würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen; denn du warst geschlachtet und hast uns Gott erkauft durch dein Blut aus jedem Geschlecht und Sprache und Volk und Nation“ (Off 5,9). Dort werden sie den vollen Wert dieses kostbaren Blutes verstehen. Dort, durch dasselbe in völlige Sicherheit, in die unmittelbare Gegenwart Gottes gebracht, wird ihr Lob ohne Misston und des Gegenstandes würdig sein, dem es gewidmet ist. Ja, dort wird nimmer ihr Lob enden, wenn auch „Blitze und Stimmen und Donner“ aus dem Thron Gottes hervorbrechen (Off 4,5) und in zerstörender Wirkung die Erde und ihre Bewohner schrecken.

Das Blut Christi ist also das alleinige Mittel, wodurch die Gerechtigkeit Gottes völlig befriedigt ist, und wodurch alle unsere Sünden getilgt sind. Welche Segnungen bereitet dieses kostbare Blut dem Glaubenden! „Es öffnet ihm“ – wie jemand sagt – „die glänzenden Perlentore des Himmels und verschließt ihm für immer die finsteren Pforten der Hölle; es öffnet die ewigen Quellen der errettenden Liebe Gottes und löscht aus die Flammen des brennenden Sees; es reißt ihn wie einen Brand aus dem Feuer, reinigt ihn von jedem Flecken der Sünde und stellt ihn, in Kleidern von fleckenlosem Glänze, in die unmittelbare Gegenwart Gottes.“ – Ja, das ist für jeden Glaubenden die gesegnete Frucht des auf Golgatha vollbrachten Werkes Jesu Christi. Doch vergessen wir es nicht, dass es nur und allein sein Werk ist. Es ist frei von aller menschlichen Mitwirkung, und darum auch frei von allen menschlichen Mängeln und Gebrechen; es ist ein göttlich vollkommenes Werk. Wer unter den geschaffenen Wesen hätte ihn auch darin unterstützen können? Ach! unsere Sünden waren groß genug, um die grauenhaften Schatten jener Stunde der Finsternis heraufzubeschwören, die seine reine Seele mit Angst und Bestürzung erfüllte; unsere Übertretungen waren zahlreich genug, um Ihn am Kreuz die ganze Schrecklichkeit eines göttlichen Gerichts fühlen zu lassen; und das Maß unserer Ungerechtigkeit war voll genug, um die Wellen des Todes bis zur höchsten Höhe anzuschwellen und über sein Haupt zu wälzen. Er musste diesen bitteren, schrecklichen Kelch allein trinken, musste sich allein dem gerechten Zorn Gottes über unsere Sünden aussetzen und sein Haupt allein beugen unter dem wuchtigen Schlage der Hand einer göttlichen Gerechtigkeit. Ach! nimmer wird der Sterbliche fähig sein, die Tiefen der Schrecken dieses furchtbaren Todes auch nur annäherungsweise zu ergründen. Und hätte es jemand wagen wollen, ihm auf diesem Weg zu folgen, so würden sicher die zermalmenden Arme eines ewigen Todes ihn für immer umschlungen haben. Doch, vermochte Ihn der Tod zu halten – Ihn, der selbst das Leben ist? Keineswegs. Nachdem durch das Opfer seiner selbst der göttlichen Gerechtigkeit völlig genügt und unsere Schuld getilgt war, hat „Gott Ihn auferweckt und zu seiner Rechten gesetzt“. Ihm allein gebührte dieser Platz; „denn er, gehorsam bis zum Tod, ja, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8), konnte sagen: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde“ (Joh 17,4). Und gerade diese seine Auferstehung und seine Aufnahme bei Gott, sind für den Glaubenden der unumstößliche Beweis und die sichere Bürgschaft, dass das Opfer Christi angenommen, Gott zufrieden gestellt, die Sünde weggenommen und der Sünder völlig gerechtfertigt ist. „Er ist um unserer Übertretungen wegen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden“ (Röm 4,25). Da gibt es keine Sünde mehr, die ihn verdammen, keine Sünde, die je noch eine Scheidewand zwischen ihm und Gott aufrichten könnte. Das Blut Christi hat alle Sünden abgewaschen, die ganze Schuld getilgt und zugleich Gott vollkommen verherrlicht.

Ja, Gott ist in dem Werk Christi vollkommen verherrlicht; und auf diese Verherrlichung Gottes sollten wir vor allen Dingen unser Auge richten. Wie sehr wird dieses von den Gläubigen vernachlässigt! Die erste, unser ganzes Interesse fesselnde Frage lautet: „Welches ist unser Teil in diesem Werk?“ Und sicher hat diese Frage ihre volle Berechtigung; denn von ihrer Beantwortung hängt die Ruhe unseres Gewissens ab. Aber manche Seelen überschreiten kaum die Grenze dieser Frage und verraten dadurch nur ihre Selbstsucht und Undankbarkeit, Sie vergessen, dass das Kreuz noch eine Seite von tieferer Bedeutung hat, eine Seite, die nicht die Versöhnung des Sünders, sondern vielmehr die Verherrlichung Gottes zur Schau stellt. Ein treffendes Vorbild liefert uns in dieser Beziehung das 16. Kapitel des 3. Buches Mose in den beiden Böcken des großen Versöhnungstages der Kinder Israel. Das Los bestimmte den einen derselben für den Herrn, den anderen für das Volk. Ersterer stellte die Rechte Jehovas fest und hielt, ungeachtet der Übertretungen des Volkes, seine Beziehungen zu demselben aufrecht, während die Hand des Hohepriesters auf das Haupt des anderen Bockes die Missetaten und Übertretungen des Volkes legte und ihn dann, als den Träger der Sünden desselben, in die Wüste trieb. Und diese beiden Tatsachen finden wir vereinigt und verwirklicht in dem Opfer Christi. Die Darstellung des Charakters und der Majestät Gottes nimmt darin den hervorragendsten Platz ein. Der Tod Christi hat die Herrlichkeit Gottes festgestellt, und alle seine Rechte wieder geltend gemacht. Da ist kein Zug in dem Charakter Gottes, der nicht in der völligsten Klarheit in dem Opfer Christi offenbart und verherrlicht wäre. Seine Wahrheit, seine Majestät, seine Gerechtigkeit gegenüber der Sünde, seine unendliche Liebe und unermessliche Barmherzigkeit gegenüber dem Sünder, kurz alles, was in Gott ist, findet in dem Kreuzestod Jesu die herrlichste Entfaltung. Dieser Tod allein setzt Gott in den Stand, gegen den Sünder, mit Aufrechthaltung der ganzen Autorität seiner Gerechtigkeit, und göttlichen Würde, in vollkommener Liebe und Gnade handeln zu können. Nur das Kreuz Christi allein bahnte in einer Gottes würdigen Weise dem gewaltigen Strom der Gerechtigkeit und den erquickenden Fluten der Gnade einen Weg, um sich ungehindert in den Ozean der Liebe Gottes gegen den verlorenen Sünder hineinstürzen zu können. „Gerechtigkeit und Gnade haben sich geküsst“ (Ps 85,11). Der Herr Jesus verließ die Herrlichkeit im Schoß des Vaters, damit der Vater auf der Erde verherrlicht werde; Er machte sich selbst zu nichts, damit Gott, völlig befriedigt in seinen Rechten und Forderungen, in der ganzen Fülle seiner Liebe und Gnade seinen durch die Sünde verdorbenen Geschöpfen begegnen könnte. Und also vollkommen verherrlicht, kann Gott jetzt gegen alle, die Ihm nahen, nach dem Wert des kostbaren Blutes Christi handeln.

Anbetungswürdige Liebe! Der Damm der Gerechtigkeit Gottes ist göttlich durchbrochen; ungehindert ergießen sich die breiten Ströme der Gnade dem gefallenen Menschen zu. „Siehe, jetzt ist die wohlangenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ (2. Kor 6,2) Auf das Haupt unseres zur Sünde gemachten Herrn lagerte sich das niederdrückende Gericht der Gerechtigkeit Gottes, damit der Sünder jetzt sich der überschwänglichen göttlichen Liebe erfreue; auf Ihn wälzte sich der Fluch in seiner ganzen Schrecklichkeit, damit der Sünder jetzt die Fülle des Segens genieße. Und Er selbst sucht jetzt die elenden Sünder und ruft ihnen in seiner erbarmenden Liebe zu: „Kommt her, zu mir, alle Mühseligen und Beladenen; und ich werde euch Ruhe geben“ (Mt 11,28). Und von den Lippen seiner Apostel hören wir die ermunternden Worte: „Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor 5,20) – und wiederum: „Wer da dürstet, komme; und wer da will, nehme das Wässer des Lebens umsonst“ (Off 22,17). Wie unvergleichlich ist diese Liebe! Wer fasst ihre Höhe und Tiefe, ihre Länge und Breite?

In welch erhebender Weise stellt uns der Herr selbst in seinem Gleichnis vom verlorenen Sohn diese Liebe und Gnade vor Augen! Kaum erblickt das Auge des Vaters den unglücklichen Sohn in der Ferne, so eilt er ihm entgegen, umarmt und küsst ihn sehr, kleidet ihn und führt ihn an seinen Tisch; und weder überhäuft er ihn wegen seiner Sünden mit Vorwürfen, noch stellt er irgendwelche Bedingungen betreffs seiner Aufnahme. Mag auch der bußfertige Sohn, wie es sich für ihn geziemte, seine Sünden bekennen; aber der Vater berührt dieselben nicht mit einem einzigen Worte. Sein Herz fließt über von Liebe und Gnade und ist erfüllt mit einer Freude, die nur in einem Vater– oder Mutterherzen wohnen kann. Was anders hätte da für den Sohn übrigbleiben können, als dass auch er sich mit ungeteilter Wonne der Liebe und des Glücks seines Vaters erfreute! Wie hätte er noch trauern können, da über die Lippen des Vaters die Worte drangen: „Lasst uns essen und fröhlich sein!“ Und was anders bleibt dem armen, elenden, gottlosen und feindseligen Sünder übrig, als anzunehmen, was die erbarmende göttliche Liebe ihm aus Gnaden darreicht? Ach! der Mensch von Natur ist in Wahrheit ein armer, hilfsbedürftiger Sünder; nur die Liebe und die Gnade des erbarmenden Gottes vermag ihn zu retten und glücklich zu machen. In der Dahingabe seines eingeborenen und geliebten Sohnes ist Gott der ganzen Armut und Hilfsbedürftigkeit des Sünders in vollkommener Weise begegnet (Apg 13,38), so dass dieser weiter nichts zu tun hat, als diese frohe Botschaft zu hören und zu glauben. Paulus vermochte auf die Frage des zitternden Kerkermeisters: „Ihr Herren, was muss ich tun, um errettet zu werden?“ – keine andere Antwort zu geben, als: „Glaube an den Herrn Jesus Christus, und du wirst errettet werden, du und dein Haus“ (Apg 16,30–31). Und überall begegnen unsere Blicke in der heiligen Schrift dem Zeugnis, dass es nur des einfachen Glaubens an Jesus Christus bedarf, um seiner Errettung teilhaftig zu werden. „Denn wir urteilen, dass der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt wird ohne Gesetzes Werke“ (Röm 3,28; Gal 2,16). „Dem aber, der nicht wirkt, aber an den glaubt, der die Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet“ (Röm 4,5). „Da wir nun sind gerechtfertigt worden aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1). „Das Evangelium ist die Kraft Gottes jeglichem Glaubenden“ (Röm 1,16). „Wer an Ihn glaubt, wird nicht gerichtet. ...“ „Wer an den Sohn glaubt, hat das ewige Leben; wer aber dem Sohn nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm“ (Joh 3,16.18.36). „Ohne Glauben ist es unmöglich, Ihm wohlzugefallen“ (Heb 11,6).

Alle diese und viele andere Stellen zeigen klar und bestimmt, dass nur der Glaube an Christus der einzige Weg ist, um des köstlichen Heils teilhaftig zu werden! Jeder andere Weg ist ausgeschlossen, jede andere Anstrengung völlig nutzlos. Jene Israeliten, welche ihres Ungehorsams wegen durch den Biss feuriger Schlangen vergiftet waren, bedurften zu ihrer Heilung nur des einfachen Aufschauens auf die durch Mose erhöhte Schlange; und ebenso sind die gottlosen Sünder, um gerettet zu werden, nur des einfachen Glaubens an den erhöhten Christus benötigt. Nur hierin liegt das einzige Heilmittel verborgen – eine Torheit für die menschliche Vernunft, aber die Kraft Gottes für den Glauben. Der Glaube gleicht einer Hand, die sich mit der festen Überzeugung öffnet, das Ersehnte zu empfangen. Der Glaube hat die Gewissheit, dass er sich an den Gott wendet, der die Liebe ist und der seinen eingeborenen und geliebten Sohn für gottlose und verlorene Sünder dahingegeben hat, und dass er sein Auge richtet auf den wahrhaftigen Gott, dessen Wort Ja, und Amen, den Apostel zu dem Zeugnis drängt: „Das Wort ist treu und aller Annahme wert, dass Christus Jesus gekommen ist in die Welt, Sünder zu erretten“ (1. Tim 1,15). Kurz alles, wessen der schuldbeladene, verdammungswürdige, verlorene Sünder bedarf, findet der Glaubende in überströmender Fülle in Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Christus ist sein Lösegeld, sein Stellvertreter, seine Versöhnung, sein Friede, sein Leben, seine Gerechtigkeit, sein alles; „denn der Anführer unserer Errettung ist durch Leiden zur Vollkommenheit gebracht worden“ (Heb 2,10). In diesen göttlichen Vollkommenheiten bietet Er sich dem Sünder an, ladet ihn ein zu kommen und alles umsonst zu nehmen, und handelt mit ihm, wie groß und unzählig dessen Sünden und Vergehungen auch sein mögen, in vollkommener Gnade und Liebe.

Doch ach! wie gering ist die Zahl derer, die bereit sind, sich mit Gott versöhnen zu lassen! Wie wenige erkennen, gleich dem verlorenen Sohn, mit einem bußfertigen, angsterfüllten Herzen ihr Leben voller Sünde, ihren hoffnungslosen Zustand und ihr schreckliches Ende! Nur der, welcher dem Zeugnis Gottes über den Menschen glaubt und sein Elend erkennt, wird sich aufmachen und Gnade und Erbarmung suchen; nur der, welcher Bedürfnis nach Hilfe und Rettung fühlt, wird sich von Herzen zu dem hinwenden, der die Liebe ist, und gegen dessen Bitten bisher sein Ohr taub und sein Herz gefühllos geblieben ist. Und was wird der Erfolg seines Kommens sein? Zu seiner unbeschreiblichen Freude und zu seinem ewigen Tröste vernimmt er die Wahrheit, dass Gott schon lange zuvor an ihn gedacht, dass Er seinen eingeborenen viel geliebten Sohn für ihn dahingegeben, dass Er alle seine Sünden auf das vor Grundlegung der Welt zuvorerkannte, fehl– und fleckenlose Lamm Gottes gelegt und an Ihm sein Gericht vollzogen hat; er vernimmt, dass die Gerechtigkeit Gottes befriedigt, das Werk der Versöhnung vollbracht und jede Frage zwischen Gott und ihm göttlich gelöst ist. Er fühlt sein Gewissen von einer zermalmenden Bürde entlastet und sein Herz mit himmlischem Frieden erfüllt; und zu den Füßen Jesu sinkend, betet er an. Was könnte ihn auch noch beunruhigen? Er hat Jesus – Ihn, den die Liebe Gottes umsonst schenkte, in seinem Herzen durch Glauben aufgenommen; und seine Seele erfreut sich der glücklichen Gewissheit, dass alle seine Übertretungen vergeben, und seine Missetaten für immer bedeckt sind, dass er von allen seinen Sünden so reingewaschen ist, wie das Blut Christi dazu die Kraft besitzt, und dass seine Versöhnung von Gott geschätzt wird, nach dem Wert dieses kostbaren Blutes. Jede Anklage gegen ihn muss verstummen, denn Gott selbst ist es, der ihn rechtfertigt. Er ruht auf dem Werk dessen, der alle seine Sünden auf sich genommen, der das Gericht für ihn erduldet und alles, alles gut gemacht hat; und mit einem glücklichen und dankerfüllten Herzen kann er sagen: Wo ist meine Sünd geblieben?

Christus starb an meiner Statt.

Meinen Freibrief, längst geschrieben,

Christi Blut versiegelt hat. Ganz gereinigt,

Ihm vereinigt.

Der zur Rechten Gottes ist;

Der den Weg zum Heiligtum

Mir geweiht zu seinem Ruhm. Kann der Kläger noch bestehen,

Da zur Rechten Gottes jetzt

Er des Menschen Sohn muss sehen,

Auf den Thron von Gott gesetzt?

Alle Klagen,

Abgeschlagen,

Sind dort außer Kraft gesetzt.

Vor dem Lamm auf Gottes Thron.

Geht der Kläger stumm davon.

(Fortsetzung folgt)

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