Botschafter des Heils in Christo 1866
Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken
Welch herrliche und treffende Worte! Welch ein schönes und liebliches Zeugnis betreffs Israels! Und Jehova selbst legte dieses Zeugnis ab. Der Geist Gottes war auf Bileam – auf jenen Mann, dessen Augen geöffnet waren. Doch die Worte und das Zeugnis gewinnen noch an Schönheit und Erhabenheit, wenn wir untersuchen, welchem Volk sie galten und auf welche Zeit sie prophetisch deuteten.
Vor den Blicken Bileams hatten sich die Kinder Israel ausgebreitet; sie waren es, welche durch das Blut des Passahlamm.es vor dem Schwert des Würgengels bewahrt, durch die mächtige Hand Jehovas erlöst und durchs rote Meer geführt worden waren; sie waren es, die an dem Ufer dieses Meeres, beim Anblick der Leichname ihrer Feinde, das Sieges– und Befreiungslied zur Ehre Gottes angestimmt hatten. Der Herr hatte ihnen im reichsten Maße bewiesen, dass Er ihr Gott war, und seinen, dem Abraham gegebenen Verheißungen treu blieb. Er war in der Wüste ihr Führer gewesen, hatte sie gespeist und erquickt, versorgt und beschirmt, hatte sie aus Todesgefahren errettet und ihre Feinde geschlagen. Nie war eine so große Treue gesehen, nie eine so herrliche Gnade geschaut worden. Kaum war das rote Meer durchschritten, so schauten die Israeliten schon murrend auf die Fleischtöpfe Ägyptens zurück. Sie verachteten die Liebe Gottes und vergaßen es in gar kurzer Zeit, dass seine Barmherzigkeit sie aus dem schweren Joch Pharaos, unter dem sie Jahre lang seufzten, erlöst hatte. Sie verschmähten das Manna, welches ihnen Gott zur Speist gab, machten dem sanftmütigen Mose fast unerträgliche Mühe und übertraten sogar das Gesetz Gottes durch Anbetung eines goldenen Kalbes, noch ehe dieses Gesetz in ihren Händen war. In der Tat, gegenüber einer solchen Treue von Seiten Gottes ist die Geschichte dieses Volkes eine der beklagenswertesten.
Und dennoch gibt am Ziel ihrer Pilgerschaft, an der Grenze des gelobten Landes, Jehova ihnen ein solches Zeugnis. Wohl möchte man es begreifen, wenn dieses am Ufer des roten Meeres geschehen wäre; aber jetzt am Ende ihrer Reise, nachdem Er sie vierzig Jahre hindurch mit so großer Geduld getragen und vierzig Jahre hindurch ihre Hartnäckigkeit gesehen hatte, von ihnen sagen zu hören: „Wie sein sind deine Hütten, o Jakob, und deine Wohnungen, o Israel!“ – das übersteigt in der Tat alle Begriffe. Und dennoch sind es die Aussprüche Gottes. Waren denn solche Schönheiten und Liebenswürdigkeiten an Israel zu entdecken? Waren ihre Hütten so sein, ihre Wohnungen so rein? War Jakob so mächtig, dass er die Heiden zu vernichten vermochte?
Ach! man lese die Geschichte dieses Volkes nur, und man wird nichts als Sünde, Schwachheit und Untreue finden. Allein das, was wir hören, sind nichtsdestoweniger die Gedanken Gottes über Israel; es ist sein Ratschluss, der hier kundgemacht wird; es ist die Beschreibung des Zustandes, worin Er das Volk erblickt. Und alles dieses hat seinen Grund in seiner Verheißung; das Volk war und blieb sein Volk; und obwohl Er die Sünden desselben strafte und fortwährend ihre Ungerechtigkeit tadelte, so blieb dennoch sein Zeugnis: „Wie sein sind deine Hütten, o Jakob, und deine Wohnungen, o Israel!“ Also handelt der Herr; seine Gnade ist von Nichts abhängig. Israel stand vor Ihm, sowie Er es sich auserwählt hatte; und Nichts störte Ihn, es also zu betrachten. Seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Gottlob, dass es also ist.
Und nun, geliebte Brüder! Alles dieses ist zu unserer Belehrung geschrieben. Ist diese Geschichte nicht ein treffendes Bild der unveränderlichen Treue Gottes gegenüber seiner Versammlung? Hat die Versammlung sich nicht eben derselben Treue zu rühmen, wie einst Israel? Wir wollen es näher untersuchen! Nichten wir nur unseren Blick auf den Brief an die Epheser, und wir finden jenes herrliche Zeugnis, welches der Heilige Geist bezüglich des Wesens und Charakters der Versammlung ausstellt. Sie ist vor Grundlegung der Welt auserwählt, um heilig und tadellos vor Gott in Liebe zu sein; sie ist so vollkommen eins mit Christus, dass sie die Fülle dessen genannt wird, der alles in allem erfüllt. Mit Christus auferweckt, befindet sie sich in Ihm in den himmlischen Örtern. Sie ist das Werk Gottes, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken. Obschon sie noch hienieden wandelt, hat sie in Christus ihren Platz im Himmel und stellt hier die Wohnstätte oder das Haus Gottes dar, auferbaut auf die Grundlage der Apostel und Propheten, wo Jesus Christus selbst Eckstein ist. Sie hat hienieden die Verantwortlichkeit, sich als reine Jungfrau zu erweisen, sich nicht mit der Welt zu vermengen, sondern unter einander die Einigkeit des Geistes durch das Band des Friedens zu bewahren. Alles, was sie zu ihrem Wachstum, zu ihrem Trost und zu ihrer Ermahnung bedarf, wird ihr in verschiedenen Gaben dargereicht, die der Heilige Geist in den Gliedern wirkt. Alle Glieder sind durch einen Geist zu einem Leib getauft (1. Kor 12,13) und geschickt zusammengefügt und befestigt (Eph 4,16), so dass sie in allem befähigt sind, ihrer Berufung nachzukommen. Ohne Flecken und Runzel steht sie bereits in Christus vor Gott. Und auf welchem Weg hat Gott sie zu solch unaussprechlicher Herrlichkeit geführt?
Der Sohn Gottes selbst verließ die Herrlichkeit seines Vaters, um, gleich einem Kaufmann, jene köstliche und für sein Herz so wertvolle Perle zu suchen. Und kaum hatte er sie gefunden, so verkaufte er alles, was er besaß – seine himmlische und irdische Herrlichkeit, seine Ehre, seine Macht, sogar sein eigenes Leben – um in ihren Besitz zu gelangen. Ja, zu dem teuren Preis seines kostbaren Lebens ist sie sein Eigentum geworden. Wie viel Kampf, wie viel Leiden und Schmerzen hat es Ihn gekostet, um sie von der schrecklichen Macht der Sünde und der Knechtschaft Satans frei zu machen! Aber wie schrecklich groß auch das Leiden war, so hat Er dennoch überwunden; und jetzt ist sie eins, vollkommen eins mit Ihm, so dass „weder Tod noch Leben, weder Engel, noch Fürstentum, noch Gewalt, weder Gegenwärtiges, noch zukünftiges, weder Hohes, noch Tiefes, noch irgendeine andere Kreatur sie zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“
Aber – lasst uns fragen – ist die Versammlung ihrer Berufung treu geblieben? Hat sie ihre himmlische Stellung beständig eingenommen und behauptet? Hat sie die Einigkeit des Geistes durch das Band des Friedens bewahrt? Ach, ein jeder, der ihre Geschichte im Licht Gottes betrachtet, wird dieses unverzüglich verneinen müssen. Wie einst Israel, so hat auch sie sich von Gott abgewandt. Nachdem sie allerlei Verkehrtheiten und Irrlehren eingelassen und in ihrer Mitte geduldet hatte, hat sie sich auch noch obendrein mit der Welt vereinigt, hat das ganze römische Reich in sich aufgenommen und sich in zahlreiche Parteien zersplittert. Das Haus Gottes, das aus lebendigen Steinen, aus Gliedern des Leibes Christi zusammengefügt sein sollte, ist einem großen Haus, mit Gefäßen zur Ehre und zur Unehre gleich geworden, so dass nur Verwirrung und Unordnung dem Auge begegnen. Sie, die einer Kerze auf einem Leuchter, oder einer Stadt auf einem Berg gleichen sollte, ist unsichtbar geworden. Wo schaut man da noch ihre einstige Liebenswürdigkeit und göttliche Schönheit? Ach! sie hat sie abgestreift durch eigene Schuld.
Fährt Gott aber dennoch fort, sie mit denselben Blicken der Liebe und Zärtlichkeit anzuschauen? Bleibt sein Zeugnis über sie sich dennoch unverändert gleich? O welch ein Glück, dass wir diese Frage mit Zuversicht bejahen dürfen! Seine Gedanken sind unwandelbar. In seinen Augen ist die Versammlung, deren Haupt Jesus sie mit seinem Blut erkauft hat, noch ebenso vollkommen, wie sie mit Ihm aus dem Grab auferstanden ist. Alle wahren Glieder derselben sind, wie verschieden sie auch voneinander sein mögen, von Ihm gekannt und mit einer unendlichen Liebe geliebt.
Das Wort Gottes lehrt uns dieses in treffender Weise. Ungeachtet der vielen Verkehrtheiten der Korinther sagt der Heilige Geist: „Aber ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerechtfertigt im Namen unseres Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes“ (1. Kor 6,11). Trotz der unter ihnen herrschenden Uneinigkeit, so dass eine Spaltung in naher Aussicht stand, lesen wir: „Durch einen Geist sind wir alle zu einem Leib getauft“ (1. Kor 12,13). So stand es damals, so steht es jetzt um die Versammlung. „Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.“ Jesus ist ihr Haupt, und sie ist sein Leib. Alle Glieder dieses Leibes sind mit dem Haupt und so auch unter einander verbunden. So sieht Gott sie an, weil Er sie in Ihm erblickt. Weil Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat, so wird Er sie sich selbst auch als eine Versammlung darstellen, die weder Flecken noch Runzel hat (Eph 5,27). Und ebenso, wie Er dereinst das Hochzeitsmahl mit ihr feiern wird, erblickt Er sie jetzt in voller Schönheit, obwohl sie noch auf Erden wandelt. Wie viele Mängel Er in ihr auch sehen mag, wie viele Sünden in ihr auch offenbar werden mögen, so bittet Er doch immerdar für sie, dass der Vater sie in seinem Namen bewahren möge (Joh 17). Wie sehr sich auch ihre Glieder zerstreuen und in die verschiedenartigsten Parteien auflösen und zersplittern mögen, so betrachtet Er sie doch alle als durch einen Geist zu einem Leib getauft. Sie also anzusehen, wird Er nimmer aufhören, wie sehr Ihn auch die Spaltungen betrüben, die eine so trostlose Erscheinung bilden.
O welch ein Trost für alle, welche darüber ein Verständnis haben! Dieses glückselige Bewusstsein wird sie fest und standhaft erhalten bei dem betrübenden Anblick der zahllosen Gebrechen, Sünden und Sekten. Obwohl sie mit Recht trauern und seufzen werden über die Entdeckung der vielen Parteiungen, die nur der Unwissenheit, der Selbstsucht und eitlem Ruhm ihre beklagenswerte Entstehung zu verdauten haben, so werden sie sich nichtsdestoweniger getrieben fühlen, frohlockend anzuerkennen, dass es dennoch die Versammlung Gottes ist, und dass dennoch alle wahren Glieder durch einen Geist zu einem Leib getauft sind. Wie einst von der Höhe des Felsens das Wort Jehovas herniedertönte.– „Wie sein sind deine Hütten, o Jakob, und deine Wohnungen, o Israel!“ – so wird auch jetzt ihr Ohr durch den Glauben das ermutigende Zeugnis vernehmen, welches Gott von der Versammlung zeugt. Und dieses Bewusstsein wird ihren Mut stärken, um trotz alles Niederstrebens der Widerwärtigen, nach Gottes wohlgefälligem Willen zu wandeln und sich von allen Gefäßen zur Unehre zu reinigen, indem sie sich von allen Parteien fernhalten und die Einigkeit des Geistes durch das Band des Friedens bewahren.
Die Erkenntnis dieser herrlichen, trostreichen Wahrheit, dass die Gedanken Gottes, mögen auch die Zeiten und die Umstände sich ändern, über die Versammlung stets unverändert dieselben bleiben, muss unbedingt von den gesegnetsten Folgen begleitet sein. „Wer solche Hoffnung hat, reinigt sich, gleich wie Er rein ist“ (1. Joh 3,3). Wie wäre es möglich, dass jemand, von der Liebe erfasst, sagen könnte: „Nun, dann kann ich meine eigenen Wege gehen und nach Belieben handeln; denn, einmal angenommen, hängt Nichts davon ab, ob ich sündige oder nicht!“ Könnte ein wahrer Christ also sprechen? Wie ernst ist das Wort des Apostels, wenn er, um die Korinther von der Sünde abzumahnen, ausruft: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist? ... Denn ihr seid um einen Preis gekauft“ (1. Kor 6,19–20). Und was ist der Zweck unserer Berufung? Sind wir nicht berufen, um dem lebendigen Gott in allem zu dienen? Dieses muss und wird unbedingt und notwendig das Bedürfnis des neuen Menschen sein. Das Bewusstsein der unveränderlichen, unendlichen Liebe und Treue Gottes wird unvermeidlich das Kind Gottes zu einem heiligen, würdigen Wandel antreiben.
Und so auch hier. Sobald wir in Wahrheit verstanden haben, dass die Gedanken Gottes über seine Versammlung stets unverändert dieselben geblieben sind, so wird das ohne Zweifel die Folge haben, dass wir beim Anblick der Spaltungen und Parteiungen uns tief demütigen und fortan, sei es auch in Schwachheit, diesen Gedanken einer ewigen Liebe durch einen würdigen Wandel zu begegnen trachten. Wir werden dann unmöglich ruhig bleiben können, wenn wir uns sagen müssen, dass wir in Gemeinschaft mit Gefäßen zur Unehre das Abendmahl des Herrn feiern, oder dass wir Glieder irgendeiner Sekte sind, da doch nach dem Willen Gottes einerseits seine Versammlung rein und unbefleckt von der Welt bleiben soll, und andererseits alle Glieder durch einen Geist zu einem Leib getauft sind. Und ebenso wird man auch um derselben Ursache willen keine Ruhe haben, wenn man eigenwillig für sich allein dasteht, oder sich nicht mit solchen vereinigen will, die nur als Gläubige im Namen Christi zusammenkommen. Man wird dann fühlen, dass man mit allen Christen, wie verschieden und abweichend auch ihre Meinungen in diesen oder jenen untergeordneten Punkten sein mögend. 1 Eins ist und man sich daher auch als eins offenbaren soll. Selbstredend haben die Glieder eines Leibes nicht erst nötig, eine Vereinigung herzustellen, um eins zu werden: sondern sie haben nur die von Gott gewirkte Einheit anzuerkennen und die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens zu bewahren.
Sobald die Gedanken Gottes unsere Gedanken sind, (und wenn sie es nicht sind, so stehen wir, anstatt eins mit Ihm zu sein, Ihm feindlich gegenüber) so werden ohne Zweifel die vielen Vereine, Gesellschaften, Parteien usw. sich von selbst auflösen, und wir werden mit anderen Christen jene Einheit hienieden verwirklichen, um derentwillen der Herr Jesus so rührend zu seinem Vater flehte (Joh 17). Und auf diesem Weg würde sich die Einheit durch das Verharren in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft, in dem Brechen des Brotes und in den Gebeten kundgeben; und man würde es lernen, sich einander in Liebe zu ertragen, und sich in der Gemeinschaft nicht stören zu lassen trotz der verschiedenen Charaktere, Fehler und Meinungen der einzelnen Glieder. Warum? Weil, wir dann uns untereinander in Christus beschauen und in dieser Weise mit einander vermehren würden. Dann würde unser verherrlichtes Haupt der Mittelpunkt unserer Herzen sein können, und wir, von seinem Licht bestrahlt, würden wie Lichter in der Welt erscheinen und unser Licht leuchten lassen.
Möge der Herr uns allen darüber das Verständnis erleuchten! Nur dann werden wir aus der Prophezeiung Bileams die herrliche Lehre zu schöpfen vermögen, dass Gottes Gedanken, trotz aller Wandlungen der Zeiten und der Umstände, stets unverändert dieselben bleiben und dass wir uns stets diesen Gedanken entsprechend zu verhalten haben, wenn wir anders nicht, mit Ihm und seinem heiligen Worte in Widerspruch kommen wollen. Trotz des Unglaubens in unseren Tagen, trotz der traurigen Verwirrung in der Versammlung Gottes und trotz des allgemeinen Abweichens von der Einfalt des Wortes Gottes, welches man, wie man sagt, nach den jetzigen Bedürfnissen ausbeutet, – trotz all dieser Erscheinungen bleiben die Gedanken Gottes der Fels, auf dem wir unbeweglich feststehen können, und sind die einzige Quelle, die unser Herz mit überschwänglichem Trost zu erfüllen vermögen.
Fußnoten
- 1 Natürlich sind solche, die eine offenbare Irrlehre bekennen, davon ausgeschlossen.