Botschafter des Heils in Christo 1866
Der Herr und seine Jünger
Es ist höchst lehrreich und erquickend, wenn wir mit einem gläubigen Herzen und einem erleuchteten Sinne den Pfad des Herrn hienieden verfolgen, wie uns derselbe durch die vom Heiligen Geist geleiteten Schreiber in den Evangelien gezeichnet worden ist. Überall begegnen wir seinen göttlichen Vollkommenheiten; und selbst die Bosheit des Menschen, das Elend seines Volkes und die Schwachheit, seiner Jünger lassen seine göttliche Fülle nur noch lieblicher hervorstrahlen. Auch der oben bezeichnete Abschnitt liefert uns davon ein so klares Bild, das; es der Mühe lohnt, einen Augenblick dabei zu verweilen.
Zurückgekehrt von ihrer Mission, wozu sie vom Herrn je zwei und zwei ausgesandt waren, versammeln sich die Jünger zu Jesu, und erzählen Ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten (V 30). Wer Anders hatte auch ein so warmes Interesse an ihren Berichten nehmen können, als der hochgepriesene Herr selbst? wer Anders wäre so geeignet gewesen, sie über die gefährlichen Klippen hinweg zu leiten, die in Folge einer gesegneten Wirksamkeit den Herzen der schwachen Jünger zum Anstoß und Fall dienen konnten? Während sie sich, wie wir anderswo lesen, darin erfreuten, dass selbst die Teufel ihnen untertan gewesen waren, ruft er ihnen zu: „Darin freut euch nicht, dass euch die Geister unterworfen sind; freut euch aber, dass eure Namen geschrieben sind in den Himmeln“ (Lk 10,20). Ja, in der Tat, leicht können glänzende Erfolge einen Arbeiter im Werk des Herrn verleiten, diese Erfolge statt des Herrn zum Gegenstand seiner Freude zu machen, und ihn gar zur Selbsterhebung führen. Und wer außer dem Herrn besitzt Liebe und Weisheit genug, um vor solchen Abirrungen zu bewahren? Er kennt unsere schwachen Herzen; und nur Er weiß, wie gefährlich es für uns ist, den Schauplatz der Öffentlichkeit zu betreten und ein Gegenstand der Beachtung anderer zu sein.
„Und Er sprach zu ihnen: Kommt ihr selbst her an einen wüsten Ort besonders und ruht ein wenig aus“ (V 31). Es war nötig für sie, wieder eine Zeitlang mit ihrem geliebten Herrn allein zu sein, um ein wenig auszuruhen. Welch ein fürsorgender. Zärtlicher Lehrer! Er gebietet nicht: „Wirkt, arbeitet fort und fort! Nein, sobald die Arbeit vollendet ist, zieht Er sie vom Wirkungsplatz zurück, nimmt sie mit sich allein, um an seiner Seite ein wenig der Ruhe zu pflegen. Und unter der Obhut und Pflege dieses weisen und gütigen Herrn steht jeder Arbeiter im Werk des Herrn. Er fordert nicht ihre Tagebücher wie jemand, der, ohne die Mühe des Dienstes zu kennen, unnachsichtig jede Stunde, als der Arbeit gewidmet, verzeichnet sehen will. O nein; Er kennt den Dienst und dessen Mühe aus Erfahrung. Als einfacher Bote des Evangeliums ist Er umhergezogen, und ist müde geworden auf seinem Weg; Er hat Hunger und Durst gelitten, hat alle Arten von Schwierigkeiten durchgemacht, die Feindseligkeiten der Menschen erduldet und die Schwachheiten seiner Jünger ertragen. Er weiß, wie es einem Arbeiter in seinem Werk zu Mut ist; Er kennt die Gefahren, die einen solchen umstricken, und all du? Versuchungen eines nie ruhenden Feindes, denen er ausgesetzt ist: Sollte uns dieses nicht ermutigen, allezeit bei Ihm Rat, Trost und Hilfe zu holen? Sollte uns das nicht anspornen, Ihm alles, was wir getan und gelehrt haben, mitzuteilen, und in seine Nähe zu eilen, um, wie Maria, zu seinen Füßen zu sitzen und auf seine holdseligen Worte zu lauschen? O wie sehr bedarf dieses der Gläubige an jedem Tag! Wo ein solch verborgener Umgang fehlt, da wird das Herz bald matt und dürre werden; und nur aus kalter Pflicht oder um des Lohnes willen wird dann der Arbeiter seinen Dienst verrichten oder gar in Hochmut und Selbstgefälligkeit versinken. Ach! ein solcher Dienst hat sich seines wahren Charakters entkleidet; und trägt keineswegs das Siegel der Anerkennung des Herrn. Nur in seiner Gegenwart findet das Herz die wahre Quelle aller Kraft. Im Licht seiner Gegenwart wird jeder Gedanke an seinen wahren Platz gestellt; dort schwindet jede Selbsterhebung, und das Bewusstsein des eigenen Nichts kehrt zurück; dort schöpft die kummervolle. Zagende Seele frischen Mut und ein lebendiges Vertrauen; und das Herz, voll Trost, Frieden und Freude, wird zu neuer Tatkraft belebt. Ja, wahrlich nur einem verborgenen Umgang mit Gott entspringt unsere Fähigkeit zum Dienst. Der Herr selbst freilich fand hienieden wenig Zeit zum Ausruhen. Dafür zeugen die Worte: „Und viele erkannten Ihn und liefen zu Fuß von allen Städten zusammen dort hin, und kamen ihnen zuvor und versammelten, sich zu Ihm. Und als Jesus heraustrat, sah Er eine große Volksmenge und wurde innerlich bewegt über sie; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten hatten; und Er fing an, sie vieles zu lehren“ (V 33–34). – Stets zeigt Er seine erbarmende Liebe. Der Zustand Israels war ein äußerst betrübender. Von Jehova abgewichen, irrte das Volk ohne Leitung ruhelos umher. Ihren wahren Hirten erkannten sie nicht. Es war ihnen unbekannt, dass Jehova, den sie verlassen und dessen Gesetz sie verworfen hatten, auf die Erde gekommen war, um sie in Gnaden zu besuchen und ihre Sünden zuzudecken. Ach! die Sünde selbst hatte ihr Auge verblendet und ihr Herz verhärtet. Und dennoch gerade ihr hoffnungsloser Zustand rief die Strahlen seiner erbarmenden Liebe umso kräftiger hervor. „Er wurde innerlich bewegt über sie; und Er fing an, sie vieles zu lehren.“ – seine Liebe und Treue für sein armes, hilfloses Volk ließ Ihn nicht rasten. Es war sein stetes Bemühen, ihnen ihren wahren Zustand vor Augen zu stellen und sie zu sich einzuladen, um ihnen Ruhe zu geben. Ja, in der Tat, der schon solange Verheißene war in ihre Mitte getreten, um ihnen Gnade und Vergebung anzukündigen, um ihre Krankheiten zu heilen und sie unter seinem Zepter Segen und Frieden genießen zu lassen. Ach, dass sie Ihn erkannt hätten! Über seine Lippen dringt der Ruf: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu einem ungehorsamen und widerspenstigen Volk“ (Jes 65,2). Israel verwarf Ihn. „Er kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11). Schreckliche Verblendung! Und dennoch hat seine Treue nicht aufgehört. Ist auch Israel eine Zeitlang bei Seite gesetzt worden, so wird dennoch der Tag wieder anbrechen, wo Er sich seines Volkes nach seiner unumschränkten Gnade wieder annehmen wird. Das Gericht wird unter ihnen aufräumen und sie läutern; und dann wird ganz Israel errettet werden, wie geschrieben steht: „Es wird der Erretter kommen aus Zion und wird die Gottlosigkeiten abwenden von Jakob“ (Jes 59,20).
Für die Gegenwart ist „durch ihren Fall den Nationen das Heil gekommen.“ Bis zu ihrer Wiederherstellung sammelt sich der Herr ein Volk aus allen Nationen – die Kirche, die Braut des Lammes, die mit Christus gesegnet ist in den himmlischen Örtern. Und mit derselben erbarmenden Liebe geht jetzt der Herr dem verlorenen Sünder nach, um ihn aus einer unter dem Gericht stehenden Welt zu erretten und in die himmlischen Segnungen einzuführen. Sein Herz ist ebenso bewegt über den armen, verirrten Sünder wie Er es damals über das hirtenlose Israel war. Jeder Errettete ist ein Zeugnis seiner ewigen Liebe und seines grundlosen Erbarmens. Er wird nicht müde, „zu suchen und zu erretten, was verloren ist.“ Hast auch du, mein lieber Leser diese Liebe und dieses Erbarmen kennen gelernt? Oder hast du bis jetzt immer noch widerstanden? Wie schrecklich für dich in deinen Sünden zu beharren und mit einer verurteilten Welt einem sicheren furchtbaren Gericht entgegen zu eilen! Umsonst kannst du jetzt errettet werden und alle Reichtümer der Gnade und der Herrlichkeit umsonst empfangen; die gnadenreichen Arme des Heilands sind geöffnet für dich; und sein erbarmendes Herz ist bewegt über dich. Willst du dieses alles verachten und warten, bis die Arme einer ewigen Verdammnis dich für immer umschlingen werden? O möchte dieses doch nimmer dem Laos sein!
„Und als es schon spät an der Zeit war, traten seine Jünger zu Ihm und sagen: Der Ort ist wüste und ist schon spät an der Zeit; entlass sie, damit sie hingehen auf die Felder und Dörfer ringsum, und sich Brote kaufen; denn sie haben nichts zu essen“ (V 35–36).
Die Blicke der Jünger wandten sich, wie gewöhnlich, auf die Umstände. Ihr Herz war nicht fähig, um das ganze Elend des hirtenlosen Israels zu erkennen, und darum auch nicht fähig, das tiefe Mitgefühl des Herrn zu verstehen. Vielleicht entdeckte ihr Auge im Herrn nur den Eifer eines Lehrers, der zu sehr mit den inneren Bedürfnissen des Volks beschäftigt sei, als dass Er sich um dessen leibliches Wohl kümmern könne, und der es bedürfe, an Zeit und Umstände erinnert zu werden. War doch der Abend hereingebrochen; und der Ort war wüst, und die Menge bedurfte der Speise. Sicher hattet diese Umstände sie schon längst im Stillen beunruhigt und drängten sie, um dem Herzen Luft zu machen, jetzt zu den Worten: „Der Ort ist wüste und es ist schon spät an der Zeit; entlass die Volksmenge, damit sie hingehen auf die Felder und Dörfer ringsum und sich Brote taufen.“ – Sie befürchteten vielleicht, dass Er kein Auge habe für die widrigen Umstände und leiblichen Bedürfnisse. Armes, ungläubiges Herz! Wie oft geben auch wir uns denselben törichten Sorgen hin! Der Herr hat sich selbst für uns gegeben, hat sein Leben für uns gelassen, als wir noch Gottlose und Sünder waren, hat uns tausendfache Proben seiner Liebe und seiner Treue gegeben; und dennoch können wir uns oft in den gegenwärtigen Umständen einer solchen Unruhe hingeben, als hätten wir von all diesem noch nichts erfahren. Das arme, schwache Herz ist immer geneigt, auf die Umstände, und nicht auf den Gott der Umstände zu sehen; es blickt auf sich und die eigene Ohnmacht, und nicht auf den Allmächtigen, der die Liebe ist und in dessen Gunst wir stehen. –
„Entlass sie“, sagen die Jünger; und das war in ihren Augen der einzige Weg, um jeder Sorge in Betreff der hungrigen Menge überhoben zu werden. Sie waren nicht fähig, in Christus die Quelle jeder Gabe und jeder Segnung zu erblicken; sie erkannten in Ihm nicht den, der verheißen hatte, die Armen seines Volkes mit Brot zu sättigen; (Ps 132,15) sie verstanden nicht sein Herz, sein Mitgefühl, seine Güte. Sie forderten die Entlassung der Menge, damit dieselbe einem wüsten Orte entrinne; aber ach! von Ihm entlassen zu werden heißt, in die Wüste geschickt zu werden. Sollten wir doch in all unseren Nöten zu Ihm unsere Zuflucht nehmen und jeden Hilfsbedürftigen zu Ihm, der einzig wahren Quelle des Segens, hinweisen, anstatt die Kreatur in Anspruch zu nehmen und die Hilfe da zu suchen, wo es bald an Fähigkeit, bald an Bereitwilligkeit zum Helfen mangelt. Bei Ihm aber ist die Fülle der Macht und die Fülle der Liebe; und anstatt die Volksmenge zu entlassen, sagt Er: „Gebt ihr ihnen zu essen.“ Er will sie nicht, von Hunger gequält, von dannen ziehen lassen. Seine Freude ist zu geben, und nicht leer fortzuschicken. Aber welche Verlegenheit musste eine solche Aufforderung den armen Jüngern bereiten! Sie hatten– nichts zu geben, und hatten auch kein Vertrauen zu seiner Durchhilfe. Ach! viel näher liegt ihnen der Gedanke, beim Krämer Speise zu kaufen, als Ihn um Hilfe anzusprechen. „Sollen wir hingehen und für zweihundert Denare Brote kaufen und ihnen zu essen geben?“
Das ist stets die Weise des Unglaubens. Wohl möchten auch wir oft gern der Not anderer steuern; aber zu träge, um im Vertrauen unsere Zuflucht zu Ihm zu nehmen, erblicken wir keinen Ausweg, kein Hilfsmittel. Und also verkriecht sich unser Mitgefühl hinter leere Seufzer, anstatt im vertrauensvollen Glauben zu Ihm zu eilen, der uns in jeder Lage mit vollkommenem Mitgefühl seine kräftig helfende Hand entgegenstreckt, und dem es nimmer an Weisheit, Liebe und Macht gebricht, um in allen Umständen ein mächtiger, teilnehmender Helfer sein zu können. Und wie oft naht Er mit seiner Hilfe, ohne dass wir sie bei Ihm gesucht haben! Wie oft beschämt Er unseren Unglauben! Wie lange wenden wir uns oft zu wasserleeren Brunnen, indem wir bei uns selbst oder bei anderen um Hilfe seufzen! Wie oft ist der Herr der Letzte, zu dem wir unsere Zuflucht nehmen! Und dennoch handelt Er stets mit uns nach dem Reichtum seiner Gnade und Langmut.
„Er aber spricht zu ihnen: ‚Wie viele Brote habt ihr?‘“ – Im Blick auf diese Warte bietet sich uns die Gelegenheit, eine andere Erfahrung zu machen. Wenn bei vielen Christen Dasjenige, was sie besitzen oder was ihre Einnahme ist, nach ihrer Berechnung für die vorliegenden Bedürfnisse nicht ausreicht, so neigen sie sich augenblicklich zu der Meinung hin, dass der Herr ihnen andere Hilfsquellen zu deren Befriedigung öffnen müsse, ohne zu bedenken, dass Er auch das vorhandene wenige zur Ausreichung segnen könne. Der Herr aber zeigt uns hier einen anderen Weg (V 38–41). Freilich waren nur 5 Brote und 2 Fische vorhanden, während 5000 Männer nach Speise verlangten. Allerdings lag die Ursache nahe, zu fragen: „Was ist das unter so viele?“ Doch alles hängt ab vom Segen des Herrn; Er segnete und alle wurden gesättigt; niemand ward leer heimgeschickt. Ja wahrlich. Er kann das Geringe segnen, so dass zur Genüge, ja gar zum Überfluss vorhanden ist. O mochten wir daher stets, anstatt bei augenblicklichen Verlegenheiten an einen anderen Beruf, an ein eindringlicheres Geschäft zu denken, zuerst unsere Blicke, danksagend für das Vorhandene, nach Oben richten, von wo stets die rechte Hilfe kommt. Der Unglaube schlägt gern andere Wege ein; aber der einfältige Glaube wendet sich an den lebendigen Gott, an die Quelle aller guten und vollkommenen Gaben.
Doch noch mehr. Nie schwach der Glaube der Jünger auch sein mochte, so machte der Herr sie dennoch zu Kanälen für des Volkes Segnung. Solange sie die wahre Quelle nicht erkennen, fragen sie mit zweifelndem Herzen: „Woher nehmen wir Brot für so viele?“ Sobald sie aber aus des Herrn Hand zu nehmen verstehen, teilen sie bereitwillig aus, bis alle gesättigt sind. Und welch eine Erscheinung! Die Quelle versiegte nimmer; die Bedürfnisse aller wurden völlig gestillt; und noch 12 mit Brocken gefüllte Körbe blieben übrig. Jeder der Jünger besaß noch einen vollen Korb; und hatten sie vor der Speisung mit kleingläubigem Herzen gefragt: „Woher nehmen wir Brot für so viele Menschen?“ so konnten sie jetzt fragen: „Woher nahmen wir Menschen für so viel Brot?“
Ach! wie oft fragen auch wir mit Seufzen: „Woher nehmen wir?“ Wie wenig erkennen wir jene unerschöpfliche Quelle in dem Geber aller guten Gaben! Wie gern will uns der Herr zu Kanälen seiner Gnadenspendungen machen; aber wie enge sind diese Kanäle oft! Wenn das Volk Gottes darben muss, so liegt nicht an dem Mangel, der mannigfachen Gnadengaben, sondern an dem engen Kanal, durch welche sie strömen, die Ursache. O möchte doch der Herr unsere Herzen weit machen für die Reichtümer seiner Gnade, um reichlich nehmen und reichlich ausspenden zu können. Wie ganz anders wird es sein, wenn wir droben beim Herrn sind, wo der Kleinglaube und Unglaube keinen Platz mehr finden, um unseren Blicken die unerschöpflichen Segnungen zu verhüllen, und wo wir im wahren Sinne des Wortes die Kanäle sein werden, wodurch das irdische Volk des Herrn im tausendjährigen Reiche die Segnungen empfangen soll. Dann werden diese Segnungen ungehemmt und in reicher Fülle strömen; dann werden wir das Vorrecht völlig verstehen und genießen, zu Austeilern der reichen Gnade Gottes gemacht zu sein – ein Vorrecht, welches jetzt leider oft als eine mühsame Pflicht betrachtet wird; ja, dann werden wir es völlig Verstehen, dass Geben seliger ist, als Nehmen.