Botschafter des Heils in Christo 1865
Jesus am Schatzkasten
Vom Ende des elften bis zum Ende des zwölften Kapitels sehen wir die verschiedenen Klassen der Juden nacheinander zu Jesu hintreten, um ihn in der Rede in eine Falle zu locken. Da erscheinen Hohepriester, Schriftgelehrte, Älteste, (Kap 11,27) Pharisäer, Herodianer und Sadduzäer, (Kap 12,13.18) und alle sind bemüht. Ihn zu umstricken und zu verderben. Was aber war das Resultat? Sie alle mussten sich beschämt und verurteilt aus seiner Gegenwart zurückziehen, und niemand mehr wagte Ihn noch zu fragen. Der Herr antwortete ihnen in der vollkommenen Weisheit, die Er in all seinen Reden und Handlungen an den Tag legte. Er war das Licht, und in seinem Licht wurde nicht nur die gänzliche Unwissenheit, sondern auch die schreckliche Heuchelei und Bosheit aller offenbar gemacht. „Er erhascht die Weisen in ihrer Ärglist;“ (Hiob 5,13) und wer böse ist kann vor Ihm nicht bestehen. Es wird ein Tag kommen, da „wird Er auch das Verborgene der Finsternis ans Licht stellen und die Nachschlage der Herzen offenbaren;“ (1. Kor 4,5) ja, wir alle müssen offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi. Feierlicher Gedanke!
Am Schluss des zwölften Kapitels haben wir das Urteil des Herrn über die Gaben, welche Jehova dargebracht wurden. „Jesus saß dem Schatzkasten gegenüber und sah, wie die Volksmenge Münze in den Schatzkasten wirft“ (V 41). Jedes Herz und jede Hand war unter seinem alles durchdringenden Auge; und Er sah, dass „viele Reiche viel einwarfen, und dass eine arme Witwe zwei Scherflein einwarf.“ Er sah aber nicht nur dieses, sondern wusste auch, wie viel ein jeder einzuwerfen hatte und mit welch einer Gesinnung ein jeder einwarf. O welch eine ernste Sache ist es, in der Gegenwart dessen unseren Dienst zu verrichten oder unsere Gaben zu spenden, der alles sieht und alles weiß! Er ist gegenwärtig, wenn wir gemeinschaftlich unsere Gaben einwerfen, und Er sieht es, wenn wir sie einzeln oder im Verborgenen darreichen. Und nach welchem Maßstab beurteilt Er den Wert unserer Gaben? Gewiss nicht nach ihrer Größe, sondern nach der Bereitwilligkeit und nach der aufopfernden Liebe, womit sie gegeben werden. Hören wir sein Urteil am Schatzkasten: „Er rief seins Jünger herbei und sagt zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, die arme Witwe hat mehr eingeworfen, als alle, die in den Schatzkasten geworfen haben.“ Und weshalb waren ihre zwei Scherflein mehr? „Denn alle haben von ihrem Überfluss eingeworfen; diese aber hat von ihrem Mangel, alles, was sie hatte, eingeworfen – ihren ganzen Lebensunterhalt“ (V 43–44). Der Mensch beurteilt den Wert einer Gabe so gern nach deren Größe, der Herr aber nach dem Herzen des Gebers. Jener wird die zwei Scherflein kaum beachten; der Herr aber sagt, dass sie unter den vielen großen Gaben die größte sei. Sie machte das ganze Vermögen einer armen Witwe aus. Sie selbst bedurfte die beiden Scherflein zu ihrem eigenen Unterhalt; aber sie zog sich das Nötige ab, um es dem zu geben, den sie mehr liebte, als sich selbst. Eine solche Tat aber vermag nur die Liebe; da wo die Liebe das Herz erfüllt, da ist immer die Hand zum Geben bereit. Jede Gelegenheit ist ihr willkommen; sie beklagt sich nicht über die vielen Bedürfnisse; sie berechnet nicht, wie viel sie schon getan hat oder noch tun muss, sie ist um den eigenen Nachteil nicht bekümmert; nur zu geben ist ihre Freude, ihr Genuss. Und die Liebe zum Herrn ist der einzig wahre Maßstab, wonach droben alle unsere Gaben gemessen werden. Wir mögen aus einem kalten Pflichtgefühl oder aus Ehre vor den Menschen reichlich spenden von unserem Überfluss; die Wertschätzung des Herrn aber haben nur jene Gaben, welche aus einer freiwilligen Liebe fließen; nur „einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.“ Gott selbst ist die Liebe, und seine Liebe hat uns reich gemacht. Er gab uns seinen eingeborenen und geliebten Sohn, als wir noch gottlose Sünder waren; Christus starb für uns, als wir noch seine Feinde waren. Täglich reicht Er uns allerlei Gutes dar und versorgt uns mit den mannigfachsten Gaben. Wir selbst gehören Ihm, weil Er uns um einen teuren Preis erkauft hat, und unsere Gaben gehören Ihm, weil wir sie von Ihm empfangen haben. Und wozu haben wir sie empfangen? Um einander damit zu dienen „als gute Verwalter der mannigfachen Gnade Gottes.“ Er gibt uns, damit wir geben sollen; wir haben auszuweiten, was Er uns dargereicht hat. Wir sollen die Kanäle sein, wodurch die Segnungen hienieden fließen. Welch eine gesegnete aber auch Zugleich verantwortliche Stellung! Sie gibt uns Gelegenheit, unsere Liebe gegen Ihn zu beweisen – an den Tag zu legen, wie viel wir für Ihn übrig haben von dem, was Er uns zuvor gegeben hat. Und gleichen wir da nicht oft unseren Kindern, die, wenn wir ihre Händchen gefüllt haben, uns kaum ein geringes Teilchen mit willigem Herzen zurückgeben können? Das kleine, karge Herz denkt nur an sich und versteht nichts von der Liebe derer, die es in allem versorgen. Wir aber kennen den, der sein Leben für uns gelassen hat; wir sind fähig, von seiner unvergleichlichen Liebe gegen uns etwas zu fassen, und kennen Zugleich unsere Verantwortlichkeit. Wir wissen, dass „wer sparsam sät, auch sparsam ernten und wer reichlich sät, auch reichlich ernten wird“ (2. Kor 9,6).
Ein schönes Zeugnis konnte der Apostel in dieser Beziehung den Versammlungen Mazedoniens geben, dass ich hier zu einer ernstlichen Erwägung unsererseits wiederholen möchte. Wir finden es in 2. Korinther 8,2–5: „Denn bei großer Prüfung der Drangsal ist die Überströmung und ihre tiefste Armut übergeströmt in den Reichtum ihrer Freigebigkeit. Denn nach Vermögen, ich bezeuge es, und über Vermögen waren sie aus eigenem Antrieb willig, mit vielem zureden uns bittend, die Gabe und die Mitteilung des Dienstes an die Heiligen anzunehmen. Und nicht wie wir hofften, sondern sie gaben sich selbst zuerst dem Herrn und uns durch Gottes Willen.“ – Welch ein herrliches Zeugnis! Wie beschämend für viele, die in Bezug auf die Bedürfnisse der Heiligen kärglich sind bei großem Überfluss und wie ermunternd für alle, denen sogar die irdischen Gaben kärglich zugemessen sind, in jedem guten Werk überströmend zu sein! Gott ist mächtig, dies in uns zu vollbringen (Siehe 2. Kor 9,8). Wir können nie eine Gabe gesegneter für uns selbst benutzen, als im Dienst des Herrn, und nie reichlichere Zinsen erlangen, als wenn wir unser Geld dem Herrn leihen. Bei Ihm steht es immer sicher, und der Ertrag wird die Einlage immer weit übertreffen. Ach wie töricht ist es, stets an sich zu denken, das kleine Stück für den Herrn einzuwerfen und das größere für sich zu behalten! So machte es jene arme Witwe nicht; sie „warf alles ein, was sie hatte, ihren ganzen Lebensunterhalt.“ Blieb ihre Gabe auch von den Menschen unbeachtet – der Herr aber hat sie gesehen und hochgeschätzt; und hat ihre Tat zu unserer Nachahmung aufzeichnen lassen. Waren es auch nur zwei Scherflein – sie hat reichlich gesät und wird darum auch reichlich ernten. O möchten wir ihr gleichen! Möchten wir nie vergessen, dass, bei jedem Darreichen oder Einwerfen unserer Gaben für die Zwecke des Herrn, sowohl unsere Herzen, als auch unsere Hände unter seinem alles erforschenden Auge sind! Möchten wir alle in der Tat erfahren, dass geben seliger ist als nehmen!