Botschafter des Heils in Christo 1865
Die unabhängige Gnade Gottes
Wenn das unter alle Völker der Erde zerstreute Volk Israel in das Land seiner Väter zurückgeführt sein wird, dann wird der Herr an demselben, wegen der Verwerfung des Messias, seine Züchtigungen und Strafen vollenden. Die schrecklichsten Gerichte, wie sie seit dem Anfang der Welt nie gewesen sind und wie sie nie wiederkehren, werden dann über das Volk hereinbrechen (Siehe Mt 24; Off 6–19). Und wiewohl der größte Teil des Volles (Sach 13,8) in seinem Unglauben verharren und später ausgerottet werden wird, so soll doch ein Überrest nach Auswahl der Gnade bleiben, der, nachdem er eine geraume Zeit in der größten Bedrängnis sich befand, durch die Ankunft des Herrn aus aller Not befreit werden wird. In dieser Zeit der Drangsal nun, wo sie gebeugt unter der Schwere ihrer Schuld hinsichtlich der Kreuzigung ihres Messias umhergehen und keine Worte finden können, um ihr Schmerzgefühl auszudrücken, dringt zu ihrem Ohr die Prophezeiung in Jesaja 43, welche ganz und gar geeignet ist, ihre Zerknirschten herzen mit neuem Mut zu erfüllen, und welche ihnen am Ende die vollkommene Vergebung ihrer Schuld verheißt. „Nicht, dass du mich hättest gerufen, o Jakob, oder dass du um mich hättest gearbeitet, o Israel. Mir hast du nicht gebracht Schafe deines Brandopfers, noch mich geehrt mit deinen Opfern; mich hat deines Dienstes nicht gelüstet im Speisopfer, habe auch nicht Lust an deiner Arbeit im Weihrauch. Mir hast du nicht um Geld Kalmus gekauft; mich hast du mit dem Fetten deiner Opfer nicht gefüllt. Ja, mir hast du Arbeit gemacht in deinen Sünden, und hast mir Mühe gemacht in deinen Missetaten. Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.“
Wie herrlich werden diese Worte in das Ohr der Israeliten dringen! Nie wird ihr Herz hüpfen vor Freude, wenn sie in solch lieblichen Ausdrücken die Gnade und unveränderliche Treue ihres Gottes vernehmen! Doch ist es nicht unsere Absicht, hierbei länger zu verweilen. Wir wollen uns vielmehr ausschließlich beschäftigen mit den kostbaren, zu allen Zeiten geltenden Grundsätzen, die auch für uns in diesen herrlichen Worten eingeschlossen sind und uns Anleitung geben sollen, unseren Gott und Vater zu loben und anzubeten.
Betrachten nur zunächst den sittlichen Zustand, in welchem uns Israel hier vorgestellt wird, ein Zustand, in dem sich jeder natürliche Mensch, sei er Jude oder Heide, befindet. Wir wissen, dass Gott den Kindern Israel, nachdem sie Ägypten verlassen und das rote Meer durchzogen hatten, sein Gesetz gegeben hat. Und zu welchem Zweck gab Er ihnen das Gesetz? War es etwa deshalb, weil Er dachte, dass der Mensch dasselbe zu halten vermöchte? O nein; Gott wusste, dass kein Mensch dazu im Stande war, und darum sagt Er auch: „Wenn ihr solches tut, werdet ihr leben.“ Gott betrachtete den Menschen als tot; und deshalb macht Er das Empfangen des Lebens von dem Halten der Gebote abhängig. Aber warum gab Er ihnen denn das Gesetz? Eben darum, weil Israel in seiner Eigengerechtigkeit sich einbildete, die Gebote Gottes halten zu können. Drang doch aus dem Mund des Volkes der Ruf: „Alles, was der Herr sagt, wollen wir tun.“ – Ja wahrlich, Gott wusste, dass der Mensch unfähig war, das Gesetz halten zu können; aber Er wollte auch den Menschen davon überzeugen; ein jeglicher sollte die Unmöglichkeit so klar erkennen, wie Er selbst. Das Gesetz ist gegeben, um den Menschen von der Sünde zu überzeugen (Siehe Röm 7 und Gal 3). Und was ist geschehen? Noch bevor die beiden steinernen Tafeln durch Mose ins Lager gebracht waren, hatte das Volk das Gesetz bereits durch die Ausrichtung des goldenen Kalbes gebrochen Und auf jeder Blattseite beweist die ganze Geschichte Israels immer deutlicher die Unmöglichkeit, dass das Gesetz durch den Menschen gehalten werden konnte. Israel übertrat jegliches Gebot; seine Geschichte liefert eine Reihenfolge der größten Sünden und der schändlichsten Missetaten; und mit vollem Recht kann man die entsetzliche Beschreibung des sittlichen Verderbens der Heiden in Römer 1 auch auf Israel anwenden. Der Herr sagt daher in dieser Prophezeiung: „Nicht das du mich hättest gerufen, o Jakob, oder dass du um mich hättest gearbeitet, o Israel. Mir hast du nicht gebracht Schafe deines Brandopfers, noch mich geehrt mit deinen Opfern. ... Mir hast du nicht um Geld Kalmus gekauft; mich Haft du mit dem Fetten deiner Opfer nicht gefüllt.“
Doch noch mehr. Die Geschichte Israels zeigt zur Genüge, dass der Mensch das Gesetz unmöglich erfüllen kann. Gott wusste dieses von Anfang an; und ein jeder, der diese Geschichte liest, muss zu derselben Überzeugung kommen. Das Gesetz wurde gegeben, um von der Sünde des Menschen zu zeugen und seinen verlorenen, toten Zustand zu offenbaren; und die Geschichte Israels liefert davon den Beweis. Nachdem es nun aber ans Licht gestellt ist, dass der Mensch nur sündigen kann und der Zustand desselben ein gänzlich verlorener ist, so tritt Gott nicht noch einmal mit dem Gesetz zu dem Menschen; zu demselben Israel, welchem Er einst sein Gesetz gab, und dessen Opfer Er forderte, sagt Er jetzt: „Mich hat deines Dienstes nicht gelüstet im Speisopfer, habe auch nicht Lust an deiner Arbeit im Weihrauch.“ – Wie ernst und bezeichnend! Gott fordert nichts mehr von seinem Volk. Und warum nicht? Etwa, weil Er nichts mehr zu fordern hat? O nein. Aber es ist völlig offenbar geworden, dass das Volk Ihm nichts geben kann. Zuerst fordert Gott; nachdem aber der Beweis geliefert, dass Israel den Anforderungen nicht entsprechen kann, fordert Gott nicht mehr. –
Die Geschichte Israels ist nun nicht allein die Offenbarung des israelitischen, sondern auch des menschlichen Herzens im Allgemeinen. Niemand ist fähig, Gott etwas zu bringen. Der Beweis ist davon geliefert. Es ist bewiesen, dass der Mensch zum Gutestun außer Stand ist, dass er tot in den Vergehungen und in den Sünden, und dass er ein Feind Gottes ist. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet und behandelt Gott den Menschen. Er begegnet ihm in Gnade und tritt nicht vor ihn hin, um etwas zu fordern, sondern um etwas zu bringen. Das Evangelium offenbart Jesus als die von Gott dem Sünder dargebotene Gabe; es wendet sich als eine frohe Botschaft an den Verlorenen, der zum Guten völlig unfähig ist. Ebenso wenig wie wir von einem Leichnam erwarten, dass er sich bewege oder den Mund zum Sprechen öffne, erwartet Gott von dem Menschen, dass er irgendetwas Gutes tue; und darum fordert Er nichts von ihm, sondern offenbart ihm seine Gnade in Christus. Unter der Herrschaft des Gesetzes stellte Gott seine Forderungen an den Menschen, nicht als ob Er etwas Gutes von ihm erwartet hätte, sondern um ihn zur Überzeugung seines verlorenen Zustandes zu bringen. Da nun aber die Geschichte Israels deutlich die Unfähigkeit des Menschen in Betreff seines Wandels vor Gott ans Licht gestellt hat, so fordert Gott nichts mehr von ihm, sondern tritt mit einer frohen Gnadenbotschaft vor den Sünder hin, welche den Menschen als verloren und tot in den Sünden und Vergehungen anredet und behandelt. Diesen Grundsatz zu verstehen, ist von der höchsten Wichtigkeit; denn wo dieses Verständnis mangelt, wird man nie einen richtigen Begriff von der Gnade Gottes besitzen und dieselbe stets abhängig machen von dem, was wir in uns fühlen. Eine Predigt des Evangeliums, in der die Gnade mit dem Gesetz vermengt wird, kann den Sünder nimmer ganz freimachen. Die Apostel haben nie das Gesetz, wohl aber die Gnade verkündigt. Ihre Predigt der frohen Heilsbotschaft hatte stets das Verlorensein der Menschen zur Grundlage; und ihr Bemühen ging dahin, die Juden, welche sich hartnäckig an das Gesetz klammerten, aus ihren Banden zu befreien. Ohne Zweifel ist auch noch jetzt das Gesetz geeignet. Jemanden, der in seiner Eigengerechtigkeit Gott zu dienen meint, von seiner Sünde zu überführen; doch ich wiederhole noch einmal, dass die Predigt des Evangeliums nicht mit dem Gesetz durchmengt werden darf, wenn man anders nicht in die größte Verwirrung kommen will.
Wir haben Gott nicht gedient; wir haben uns weder eines guten Werkes, noch eines Ihm angenehmen Opfers zu rühmen. Gott richtet auch keine Forderung an uns; und Zwar nicht etwa deshalb, weil Er kein Recht hat etwas zu fordern, sondern weil Er uns in einem solchen Zustand findet, dass wir unmöglich seinen gerechten Ansprüchen entsprechen können. Das Einzige, was von uns, wie von Israel, gesagt werden kann, ist, dass wir Gott mit unseren Sünden Arbeit und Ihm mit unseren Ungerechtigkeiten Mühe gemacht haben. Ja wahrlich, wir haben Ihm Arbeit und Mühe mit unseren Sünden gemacht. Wir haben Ihn nicht nur mit unseren Sünden betrübt, sondern Ihn zur Arbeit gezwungen. Nach der sechstägigen Schöpfung ruhte Gott am siebenten Tage; alle seine Werke waren vollbracht, und alle waren sehr gut. Alles war ins Dasein gerufen, sowie Gott es wollte; es gab nichts mehr zu tun. Doch diese Ruhe war von kurzer Dauer. Und wer hat sie gestört? Der Mensch. Ja, wir haben die Ruhe Gottes durch unsere Sünde gestört; wir haben Ihn gezwungen, von neuem zu wirken. Durch unsere Sünde kam alles in Verwirrung; der Mensch selbst wurde ein Sklave des Teufels; die herrliche Schöpfung Gottes ward verdorben durch die Sünde; der Fluch ward ausgesprochen über die ganze Erde; und wo zuvor alles in Ruhe und Frieden war, da zeigte sich jetzt Verwirrung und Unordnung. Die Ruhe Gottes nahm ein Ende; von neuem begann sein Wirken. Und welches war nun sein Werk? Es war das Werk der Versöhnung und Erlösung des Sünders, der Erde und des Himmels. Und um welchen Preis hat Er dieses Werk zu Stand gebracht? O anbetungswürdige Liebe! Er gab uns seinen viel geliebten, eingeborenen Sohn. Ja, teurer Leser, vergessen wir es nicht: Wir haben die Ruhe Gottes gestört; wir haben Ihn wieder zum Wirken gezwungen; denn der Herr Jesus sagt: „Mein Vater wirkt bis jetzt.“ Wir haben Ihn genötigt, seinen Sohn aus dem Himmel aus diese arme Erde zu senden, um hier der Schmach, der Verfolgung, dem Spott und dem Hohn der Menschen preisgegeben zu sein. Wir sind es, die den Herrn der Herrlichkeit zu dieser Erniedrigung zwangen. Wenn wir Ihn in der Stunde der Finsternis, von Gott verlassen, am Kreuz zwischen zwei Mördern hängen sehen, wenn wir Ihn schauen, wie Er unter der Schwere unserer Sünde das Haupt neigt und den Geist aufgibt, dann muss ein jeder zu sich selbst sagen: „Das ist meine Schuld; meine Sünden haben Ihn dahin gebracht.“ Freilich ist es die Gnade Gottes, die hier handelt; und wir haben alle Ursache, uns darüber zu freuen, dass seine Gnade groß genug war, um ein solches Werk zu vollbringen; aber wir sollten nie vergessen, dass unsere Sünden Ihn dazu nötigten. Ach! wir denken so wenig an den Schmerz, an die Mühe und Arbeit, die wir Gott verursacht haben. Wir selbstsüchtigen Geschöpfe erfreuen uns in der Gnade, ohne mit Ernst daran zu denken, dass Gott um unsertwillen seine Ruhe verlassen und seinen Sohn für Sünder und Feinde hingeben musste. Wir fühlen so wenig, wie entsetzlich tief wir gefallen und wie fern wir von Gott getrennt waren; und darum genießen wir auch so wenig seine Gnade und fühlen so wenig das Bedürfnis, durch die Gnade geleitet und gestärkt zu werden.
Warum findet man so manche Gläubige, die nicht zu jeder Zeit von ihrer Errettung versichert sind, und die es nicht zu jeder Zeit wagen, sich als Kinder Gottes ihrem Vater mit Freimütigkeit zu nahen. Die Ursache ist, dass sie so wenig die gänzliche Verdorbenheit des Menschen kennen. Wohl reden viele über die Ohnmacht des Menschen, wohl bedienen sie sich der schärfsten Ausdrücke, um die Schlechtigkeit des Sünders zu bezeichnen; doch bei diesem allen zeigen sie nur zu deutlich, dass sie in der Tat die Verderbtheit und das Verlorensein des Menschen nicht glauben. Wodurch werde ich den besten Beweis liefern, dass ich wahrlich an mein Verlorensein glaube? Etwa dadurch, dass ich stets an mich denke und mit mir selber beschäftigt bin, oder dadurch, dass ich mich ganz aus den Augen verliere und mich ausschließlich der Gnade Gottes anvertraue? Mich dünkt, wenn ich das Letztere tue. Jemand, der Hunger zu haben behauptet, beweist dieses dadurch, dass er sich der Speise bedient, die man ihm Vorsetzt. Und wenn sich jemand als völlig verloren hat kennen gelernt, so traut er sich der Gnade Gottes an, die ihm in Christus Jesus angeboten wird. Er erwartet nichts in Betreff seiner selbst; er weiß, dass keine Verbesserung seiner Natur möglich ist; und darum erfreut er sich in der Gnade Gottes, in dem Werk Christi, und ist dadurch völlig versichert, dass er ein Kind Gottes ist. Er versteht das kostbare Wort, welches wir in Jesaja 43,25 lesen: „Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.“
Wie lieblich wird dieses Wort einmal das Ohr der Israeliten berühren! Wie wird ihr Auge glänzen in Wonne und Entzücken! Gebeugt unter der Bürde ihrer Schuld, niedergedrückt durch das Bewusstsein, den Sohn Gottes getötet zu haben, ohne Hoffnung und bis zur Verzweiflung gestachelt durch ein erwachtes Gewissen, dringt plötzlich das Wort Jehovas zu ihnen: „Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.“ – Sie haben ihren Messias verworfen und dadurch jegliches Mittel zu ihrer Errettung mit Füßen getreten; ihr Zustand ist ein hoffnungsloser; und nichts als ewige Strafe ist ihre trostlose Erwartung. Da ertönt der Ruf Gottes: „Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.“ In sich selbst finden sie nichts; eine Erlösung um ihretwillen ist nicht denkbar. Gibt es keinen anderen Weg, dann ist ewige Trennung von Gott ihr Los. Aber es gibt noch einen anderen Weg. „Um meinetwillen“, sagt der Herr der Heerscharen, „um meinetwillen tilge ich deine Übertretungen. Um deinetwillen kann ich es nicht; denn du bist verloren; aber um meinetwillen werde ich es tun.“ – O unaussprechliche Gnade!
Verstehst du dieses Wort, geliebter Leser? Bist du schon zu den Füßen Jesu in Anbetung niedergesunken? Hast du Ihn; dein Loblied gesungen? Gott vollbringt um seinetwillen das ganze Werk der Erlösung und Versöhnung mit allem, was dazu gehört. Blicke nur zurück auf deinen Wandel, findest du da etwas, dessen du dich rühmen, etwas, welches du vor Gott bringen kannst? Findest du da irgendein unbeflecktes Werk, eine sündenreine Handlung, ein Werk zur Verherrlichung Gottes? Ach! Du wirst es verneinen müssen. Dir wird um das Bekenntnis übrigbleiben: „Ich habe Gott Arbeit und Mühe gemacht mit meinen Sünden und Missetaten.“ Ist denn nichts in uns, wodurch Gott angezogen und veranlasst werden kann, uns zu erlösen? Nein, nein; wir sind elend, nackt, jämmerlich und hassenswürdig in den Augen Gottes; nichts anders findet sich bei uns, als das, was Ihn von uns abstoßen kann, und woran Er einen Gräuel hat. Wir sind verloren und tot in den Vergehungen und in den Sünden; wir sind Feinde Gottes. Musste Er um unsertwillen vergeben, dann würden wir ewig in unseren Sünden bleiben. Aber Gott sei gepriesen! Er ruft uns zu: „Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen.“ Ja, Geliebte, Er tut es um seinetwillen, und nicht wegen unserer Werke, unserer Tränen, unserer Seufzer, unserer Gebete, unserer Erfahrungen oder dergleichen. Leider denkt mancher ein Recht auf die Seligkeit zu haben, weil er so viel gebetet und geweint, oder weil er solange gesucht hat. Der eine sagt: „Ich habe schon solange gesucht und schon so viele Tränen vor Ihm vergossen; Er wird mich doch wohl endlich erhören.“ Ein anderer: „Ich habe schon so viele Erfahrungen von der Liebe Gottes gemacht, dass ich wohl glauben kann, dass Er mich endlich annehmen wird.“ Ein Dritter: „Ich habe den Herrn schon seit Jahren gesucht, und werde Ihn doch wohl endlich finden.“ – Aber alle diese Gedanken stehen in geradem Widerspruch mit dem Wort Gottes und sind nur die Folge der traurigen Eigengerechtigkeit des menschlichen Herzens. Wenn man nicht mehr aus seine Werke vertrauen kann und die Eigengerechtigkeit in ihrer gröbsten Gestalt verschwunden ist, dann tritt sie in einer feineren Form auf und man setzt sein Vertrauen ans Gebete, auf Tränen, auf Gefühle und ans das treue Trachten nach der Seligkeit. Doch ach, mein geliebter Leser! Würdest du auch so viele Tränen vergießen, dass ein Meer damit erfüllt werden könnte, würdest du jahrelang Tag für Tag seufzen und beten, würdest du von den süßesten Gefühlen reden können, die nur irgend denkbar sind, würdest du endlich seit langen Jahren nach der Seligkeit getrachtet haben, so könnte Gott dich dennoch nicht erlösen um deinetwillen. Nein, nicht um deinetwillen; aber um seinetwillen tilgt Er deine Übertretungen. Und weißt du, warum? Weil Er nicht will, dass du dich irgendeines Dinges rühmst. O wie gern möchten wir sagen: „Meine Gebete, meine Tränen, mein eifriges Suchen sind die Ursache gewesen, dass Gott sich über mich erbarmt hat.“ Aber das will der Herr nicht. Er will, dass, wenn wir rühmen, wir uns im Herrn und in Ihm allein rühmen. Er will nicht, dass wir im Blick auf uns Ansprüche machen auf die Vergebung unserer Sünden; seine Gnade allein muss es sein, durch welche wir erlöst werden; und die Gnade muss der einzige Grund unserer Sicherheit sein. Jeder anders Grund ist ein falscher. Gründest du deine Sicherheit auf deine Gebete und auf wunderbare Erscheinungen bei deiner Bekehrung, und es tritt eines Tages jemand mit der Behauptung vor dich hin, dass du noch zu wenig gebetet hast und dass seine Bekehrung noch wunderbarer gewesen sei, dann wird ohne Zweifel dein vermeintlich so sicheres Gebäude bald wanken und zusammenstürzen. So wird es immer sein. Sobald man sein Vertrauen stellt auf Gebete oder Erfahrungen, auf eine Bekehrungsgeschichte oder auf etwas dergleichen, dann kann von keiner Gewissheit der Seligkeit die Rede sein. Den einzigen, wahren Grund finden wir in dem Werk Christi, in der Gnade Gottes, in dem kostbaren Worte: „Ich, ich will deine Übertretungen tilgen um meinetwillen.“
Ja, in der Tat, um Gotteswillen und nicht um unsertwillen erlangen wir die Vergebung unserer Sünden. Oder denkst du etwa, dass der elende Zustand, worin wir uns befanden, Gott bewogen habe, uns zu erlösen? Dann irrst du dich sehr. Er rettet uns um seinetwillen und in keiner Beziehung um unsertwillen. Aber warum um seinetwillen? O Geliebte! es gibt ein Wort in der Schrift, welches uns dieses erklärt, ein Wort, welches, wie kurz es auch ist, uns das Geheimnis der Erlösung aufschließt und uns die Ursache erkennen lässt, um derentwillen Gott den verlorenen Sünder, der nichts als Sünde und Elend hat, erlösen und selig machen kann. Und dieses eine Wort, welches das ganze Evangelium umfasst, ist das herrliche Wort von Johannes: „Gott ist die Liebe!“ – Ja, Er ist die Liebe; Liebe ist seine Natur, sein Wesen; und darum hat Er das Bedürfnis, Liebe zu üben, zu beweisen und zu offenbaren. Die Liebe ist die Ursache unserer Erlösung. Es war die Liebe, die gleich nach dem Fall, noch vor den Ankündigungen der Strafe, die frohe Botschaft der Erlösung brachte, dass der Same des Weibes der Schlange den Kopf zertreten sollte. Es war seine Liebe, die in der Fülle der Zeiten den Sohn seines Wohlgefallens vom Himmel auf die Erde sandte, um unsere Sünden an das Kreuz zu tragen und für uns zur Sünde gemacht zu werden. Die Liebe ist die Quelle von allem. Alles ist geschehen um Gottes willen, weil Er die Liebe ist. Und warum hat Er dich aufgesucht, der du nicht nach Ihm fragtest? Nicht wegen deiner Werke und deiner Tränen, auch nicht aus Mitleiden gegen dich, sondern weil Er die Liebe ist. Ja, weil Er das Bedürfnis hatte, Liebe zu üben, hat Er uns aufgesucht, da wir tot, hassenswürdig und durch tausend Sünden verunstaltet waren. O welch wunderbare Gnade! Welche Ruhe für das Herz! Denke einmal zurück an den Augenblick, wo du nach vielem Seufzen und Wirken als ein Mühseliger und Beladener in Jesu Vergebung deiner Sünden fandst; und was fandst du da? Die Liebe Gottes. Aber gehe noch einen Schritt weiter zurück. Stelle dich an den Kreuzespfahl, der vor 18 Jahrhunderten auf Golgatha aufgerichtet war, und woran Jesus, der Sohn Gottes hing, beladen mit deinen Sünden und verlassen von Gott; und was schaust du dort? Wiederum die Liebe Gottes. Und wenn du noch weiter zurückgehst bis zu der Zeit, wo noch kein Mensch und keine Erde geschaffen war, was findest du dort? Immer wieder die Liebe Gottes. Der Apostel ruft uns zu: „Gott hat uns vor Grundlegung der Welt in Christus auserwählt, dass wir heilig und tadellos vor Ihm in Liebe sein sollten; und Er hat uns zuvor verordnet zur Kindschaft durch Jesus Christus für sich selbst nach dem Wohlgefallen seines Willens.“ – (Eph 1,45) Wenn du dieses alles siehst, wirst du dann nicht losgemacht von dir selbst? Gibt es dann noch Raum um an dich, an deine Werke, an deine Gebete, an deine Tränen und Gefühls zu denken? Ist dir nun das Wort deutlich: „Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen.“ Von Ewigkeit her ist Gott die Liebe, und bis in alle Ewigkeit wird Er die Liebe bleiben. Er liebte uns, ehe die Welt gegründet war. Überall, wohin ich meine Blicke richte, sehe ich die Liebe Gottes. Sie ist die Quelle meines Glücks, meines Friedens, meiner Ruhe und meiner Seligkeit. Gott selbst, der die Liebe ist, ist der Grund meiner Sicherheit. Fragst du mich, warum ich glücklich und meiner Seligkeit gewiss bin, so antworte ich: „Weil Gott die Liebe ist.“ In mir finde ich nichts, in Gott alles? Hätte ich um meinetwillen erlöst sein müssen, dann war es sicher, dass ich ewig verloren war; aber da ich jetzt erlöst bin um seinetwillen, weiß ich, dass nichts mich scheiden wird von der Liebe Gottes. Ich bin nun völlig ruhig; jeder Schatten von Zweifel ist verschwunden; denn die vollkommene Liebe Gottes hat alle Furcht ausgetrieben.
Ja, die Liebe Gottes ist der unerschütterliche Grund unserer Sicherheit. Alles, was von uns herkommt, ist dem Wechsel unterworfen; die Liebe Gottes aber ist unveränderlich. Sie ist gestern und heute und in Ewigkeit dieselbe. Sehe ich auf meine Werke, dann finde ich alles besudelt; sie sind wie ein unflätig Kleid. Sehe ich auf meine Gebete, Seufzer und Tränen, so erkenne ich, dass sie meine Sünden nicht auszulöschen vermögen. Setze ich mein Vertrauen auf meine Bekehrungsgeschichte, dann finde ich, dass andere eine noch trefflichere zu erzählen missen. Blicke ich auf meine Erfahrungen, so wissen andere noch mehrere aufzuweisen; – oder ans die Erkenntnis meiner Sünde, so fühle ich, dass ich noch schlechter bin, als ich je gedacht hatte. Dieses alles wirkt keinen dauernden Frieden; es kann mich vielleicht für etliche Augenblicke glücklich machen; aber die geringsten Umstände werden mein Glück zertrümmern. Blicke ich auf das Werk des Geistes in mir; o wie veränderlich ist auch da alles? An dem einen Tage fühle ich mich bei Weitem heiterer und freudiger, als an dem anderen; heute fühle ich mich zu dem Wort Gottes mehr hingezogen, als gestern; morgen fühle ich vielleicht viel weniger Bedürfnis zum Gebet, als heute; fast mit jedem Tag verändern sich meine Gefühle. Sehe ich endlich auf meinen Wandel, ach, wie vieles habe ich da zu richten und zu verurteilen! Wie viele Verirrungen, wie viele Schwächen und Gebrechen finde ich hier; wie oft muss Gott auch zu nur sagen: „Du hast mir Arbeit gemacht mit deinen Sünden.“ Aber richte ich meine Blicke auf die Liebe Gottes, dann ist alles in völliger Sicherheit. Die Liebe ruft mir zu: „Und hast du mir auch Arbeit gemacht mit deinen Sünden, so bin ich es doch, der deine Übertretungen tilgt um meinetwillen.“ Und sollte ich zweifelnd blicken auf meine Verdorbenheit, die ich täglich mehr erkenne, so ruft wiederum die Liebe mir zu: „Ich, ich tilge deine Missetaten um meinetwillen.“ – Wie gesegnet, wenn unsere Herzen dieses verstehen, wenn wir auf diesen festen und sicheren Grund bauen! Gott ist unveränderlich; bei ihm ist kein Wechsel. Wie oft wir uns auch verändern. Er verändert sich nicht. Nichts vermag den Strom seiner Liebe zurück zu halten. Ein törichter Gedanke ist es zu meinen, dass unsere Schwachheiten, unsere Mängel und Gebrechen seine Liebe verändern könnten. Gott liebte uns, da wir seine Feinde waren, wie vielmehr jetzt, da wir seine Kinder sind. Wäre die Liebe Gottes von uns abhängig, dann freilich müsste sie sich verändern, je nachdem wir gut oder schlecht wandelten; aber jetzt, da sie von Gott abhängig ist, bleibt sie unwandelbar und unveränderlich. Er tilgt die Übertretungen um seinetwillen; Er liebt, weil Er die Liebe ist. – Der Herr gebe, dass wir diese Wahrheit mit unserem ganzen Herzen auffassen!