Botschafter des Heils in Christo 1865

Enthaltsamkeit

Das Wort „Enthaltsamkeit“ in 2. Petrus 1,6 hat eine weit tiefere Bedeutung, als man ihm gewöhnlich beilegt, indem man es nur auf Essen und Trinken anwendet. Ohne Zweifel ist dieses mit einbegriffen; allein es enthält weit mehr; es gibt die Idee von jemandem, der das eigene „Ich“ in steter Unterwürfigkeit hält. Und dies ist in der Tat eine seltene und wunderbare Gnade, die ihren geheiligten Einfluss über den ganzen Wandel, den ganzen Charakter und das ganze Betragen eines Menschen ausübt. Sie zielt nicht nur auf eine oder zwei oder zwanzig selbstsüchtige Gewohnheiten hin, sondern auf das ganze „Ich“, in der Länge und Breite jenes umfassenden und hässlichen Wortes. Viele, die mit stolzer Verachtung auf den Schwelger oder Trunkenbold herabblicken, mögen wohl jede Stunde darin fehlen, die Gnade der Enthaltsamkeit in ihrem täglichen Wandel zu offenbaren. Es ist wahr, dass Schwelgerei und Trunkenheit zu der abscheulichsten und niedrigsten Form der Selbstsucht gehören; man kann sie unter die bittersten Früchte zählen, die auf jenem ausgebreiteten Baum wachsen. Ja, das „Ich“ ist ein Baum und nicht nur ein Zweig oder die Frucht eines Zweiges; und wir sollten es nicht nur richten, wenn es wirksam ist, sondern auch im Zaum halten, damit es nicht wirksam werde.

Es mögen nun einige fragen: Wie aber können wir das ich bezwingen? – Die Antwort ist höchst einfach: „Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt“ (Phil 4,13). In Christus haben wir die Errettung empfangen; – und was umfasst dies köstliche Wort? Etwa nur die Errettung von dem zukünftigen Zorn? Nur die Vergebung der Sünden und die Gewissheit, dass wir nicht in den See kommen, der mit Feuer und Schwefel brennt? Es ist weit mehr als dieses, so teuer und schätzbar diese Dinge auch sind. Die Errettung schließt in sich eine volle und herzliche Annahme Christi, als meine „Weisheit“, um mich aus den dunklen und irrigen Pfaden der Torheit in die Pfade des himmlischen Lichtes und Friedens zu leiten; als meine „Gerechtigkeit“, um mich im Angesicht eines heiligen Gottes zu rechtfertigen, – als meine „Heiligung“, um mich auf praktische Weise heilig zu machen in allen meinen Wegen, – und als meine „Erlösung“, um mir endliche Errettung zu geben von der Macht des Todes, und einen reichlichen Eingang in die ewigen Gefilde der Herrlichkeit (1. Kor 1,30).

Deshalb ist es augenscheinlich, dass die „Enthaltsamkeit“ in die Erlösung, die wir in Christus haben, eingeschossen ist. Es ist ein Resultat jener praktischen Heiligung, mit welcher die göttliche Gnade uns begabt hat. Wir sollten uns vor der Gewohnheit, einen engen Begriff von der Erlösung zu haben, sorgfältig hüten, sondern vielmehr bemüht sein, in deren ganze Fülle einzutreten. Es ist ein Wort, das sich erstreckt von Ewigkeit zu Ewigkeit und alle die praktischen Einzelheiten des täglichen Lebens völlig umfasst. Ich habe kein Recht, von der Erlösung meiner Seele für die Zukunft zu reden, wenn ich mich weigere, ihren praktischen Einfluss auf meinen Wandel in der Gegenwart anzuerkennen und zu offenbaren. Wir sind nicht nur von der Schuld und Verdammnis der Sünde befreit, sondern auch ebenso völlig von deren Kraft, deren Ausübung und von der Liebe zu derselben. Diese Dinge sollten nie getrennt werden; und es wird sie auch niemand trennen, der in der Bedeutung, der Tragweite und der Kraft jenes köstlichen Wortes „Erlösung“ göttlich unterwiesen ist.

Indem ich nun über den Gegenstand der Enthaltsamkeit etwas Praktisches vorführen möchte, so will ich ihn nach drei Seiten hin betrachten: Zuerst in Bezug auf die Gedanken, dann in Bezug auf die Zunge, und endlich in Bezug auf das Temperament. Ich bemerke aber dabei, dass sich diese Zeilen ausschließlich auf solche beziehen, die errettet sind. Sollte mein Leser dies noch nicht sein, so kann ich ihn nur zu dem einen wahren und lebendigen Wege hinweisen: „Glaube an den Herrn Jesus Christus und du wirst errettet werden.“

Zuerst also, was unsere Gedanken und deren Beherrschung betrifft. Ich glaube, dass es wenige Christen gibt, die nicht von bösen Gedanken zu leiden haben – von jenen quälenden Gedanken, die selbst in unsere tiefste Zurückgezogenheit eindringen und fortwährend unsere innere Ruhe zu stören suchen – die so oft die Atmosphäre um uns her verdunkeln, und uns verhindern, die völlige und klare Aussicht nach oben zu dem glänzenden Himmel zu genießen. Der Psalmist konnte sagen: „Ich hasse eitle Gedanken.“ Kein Wunder; sie sind wahrlich hassenswert und sollten gerichtet, verdammt und vertrieben werden. Freilich kann ich es nicht verhindern, dass böse Gedanken in mir auftauchen; aber ich kann ihnen ihren Aufenthalt in mir verwehren.

Wie aber können wir unsere Gedanken beherrschen? Wir vermögen dies ebenso wenig, als unsere Sünden zu tilgen oder eine Welt zu schaffen. Was haben wir denn zu tun? Auf Christus zu schauen. Dies ist das wahre Geheimnis der Enthaltsamkeit. Er kann uns vor dem Aufenthalt, ja sogar vor der Einflüsterung böser Gedanken bewahren. Wir vermögen weder das eine, noch das andere; Er aber vermag beides. Er kann den schlechten Eindringlingen nicht nur das Eintreten, sondern auch sogar das Anklopfen an die Tür verwehren. Wenn das göttliche Leben in wirklicher Energie ist – wenn der Strom der geistlichen Gedanken und Gefühle tief und reißend ist – wenn die Zuneigungen des Herzens einzig und allein mit der Person Christi beschäftigt sind, so werden die bösen Gedanken uns nicht stören. Nur wenn innere Trägheit uns beschleicht, so brechen die bösen Gedanken, diese hässliche, abscheuliche Brut, wie eine Flut über uns herein und dann ist unsere einzige Sicherheit, direkt auf Jesus zu schauen. Wir könnten ebenso gut versuchen, mit dem ganzen Heer der Hölle zu kämpfen, als mit einer Schar böser Gedanken. Unsere Zuflucht ist in Christus. Er ist uns von Gott gemacht zur Heiligung. Alles vermögen wir durch Ihn. Wir haben nur den Namen Jesu der Flut böser Gedanken entgegen zu stellen und Er wird uns gewiss völlige und augenblickliche Befreiung geben.

Es ist aber ein vortrefflicherer Weg, um vor den Einflüsterungen des Bösen bewahrt zu bleiben, sich stets mit dem, was gut ist, zu beschäftigen. Wenn der Kanal der Gedanken entschieden nach oben geht, wenn er tief und wohl geordnet und frei von allen Krümmungen und Einbiegungen ist, dann wird der Strom der Einbildungskraft und des Gefühls, sowie er von den tiefen Quellen der Seele ausströmt, ganz natürlich in dem Bett jenes Canals vorwärts fließen. Dies ist, ich widerhole es, ohne Zweifel ein vortrefflicherer Weg. Mögen wir es durch unsere eigene Erfahrung erproben. „Im Übrigen, Brüder, alles, was wahrhaftig, alles, was würdig. Alles, was gerecht. Alles, was keusch. Alles, was lieblich. Alles, was wohllautend ist; ist es eine Tugend, ist es ein Lob, dieses erwägt. Was ihr auch gelernt und empfangen und gehört, und an mir gesehen habt, dieses tut, und der Gott des Friedens wird mit euch sein“ (Phil 4,8–9). Wenn das Herz ganz und gar mit Christus, der lebendigen Quelle aller in Vers 8 enthaltenen Dinge erfüllt ist, so genießen wir einen tiefen Frieden, der nicht durch böse Gedanken gestört wird. Dies ist wahre Enthaltsamkeit.

Richten wir jetzt unseren Blick auf die Zunge, – auf jenes einflussreiche Glied, das so fruchtbar im Guten, und so fruchtbar im Bösen ist – auf das Werkzeug, wodurch wir Ausdrücke sanften und zärtlichen Mitgefühls, oder Worte bitterer Ironie und brennenden Zorns kundmachen. Nie höchst wichtig ist die Gnade der Enthaltsamkeit in ihrer Anwendung auf solch ein Glied. Unheil, welches Jahre nicht gut zu machen vermögen, kann mit der Zunge in einem, Augenblicke angerichtet werden. Worte, um welche wir, wenn wir sie zurückzurufen vermöchten, die ganze Welt gäben, falls wir sie hätten, können in unbewachter Stunde durch die Zunge ausgesprochen werden. Hören wir, was der Heilige Geist durch den Apostel über diesen Gegenstand sagt: „Denn wir straucheln alle mannigfaltig. Wenn jemand nicht im Wort strauchelt, dieser ist ein vollkommener Mann, der auch den ganzen Leib zu zügeln vermag. Siehe, den Pferden legen wir Gebisse in die Mäuler, dass sie uns gehorchen, und ihren ganzen Leib wenden wir um. Siehe, auch die Schiffe, die so groß sind, und von heftigen Winden getrieben werden, werden durch ein sehr kleines Steuerruder umgewandt, wohin irgend der Wille des Steuermanns will. Also ist auch die Zunge ein kleines Glied und rühmt sich großer Dinge. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen großen Haufen zündet es an! Auch die Zunge ist ein Feuer, die Welt der Ungerechtigkeit. Also ist die Zunge unter unseren Gliedern, sie, die den ganzen Leib befleckt und den Lauf (unseres) Wesens anzündet, und von der Hölle angezündet wird. Denn jede Natur, sowohl der Tiere als der Vögel, sowohl der kriechenden als der Meerestiere, wird gezähmt und ist gezähmt worden durch die menschliche Natur. Die Zunge aber kann niemand der Menschen zähmen; sie ist ein unaufhaltsames Übel voll tödlichen Giftes!“ (Jak 3,2–8)

Wer kann die Zunge zähmen? „Kein Mensch“; aber Jesus Christus vermag es; und nur zu Ihm haben wir aufzuschauen in einfältigem Glauben, der sowohl das Gefühl unserer eigenen großen Hilflosigkeit als auch seiner Allgenügsamkeit umfasst. Es ist ganz und gar unmöglich, dass wir die Zunge im Zaum zu halten vermöchten. Ebenso gut könnten wir versuchen, die Ebbe und Flut des Ozeans, den Bergstrom oder die Lawine zu hemmen. Wie oft haben wir, wenn wir unter den Folgen eines groben Vergehens durch die Zunge zu leiden hatten, den Entschluss gefasst, das nächste Mal dieses unruhige Glied besser zu zügeln; aber ach! unsere besten Vorsätze waren gleich der vorüberziehenden Morgenwolke; und es blieb uns nichts anders übrig, als in der Einsamkeit unseren traurigen Mangel an Enthaltsamkeit zu beklagen und zu beweinen. Und warum war es also? Einfach deshalb, weil wir die Sache in unserer eigenen Kraft unternahmen, oder wenigstens ohne ein hinreichend tiefes Bewusstsein unserer eigenen Schwachheit zu haben. Wir müssen uns an Christus klammern, wie das Kindlein sich an seine Mutter klammert. Nicht als ob unser Anklammern an und für sich von irgendwelchem Wert sei; aber dennoch müssen wir uns anklammern. Auf diese Weise, und nur auf diese Weise, sind wir im Stande, die Zunge mit Erfolg im Zaum zu halten. O lasst uns zu jeder Zeit die feierlich erforschenden Worte desselben Apostels im Gedächtnis haben: „Wenn jemand meint. Einer zu sein, der Gott dient, und seine Zunge nicht zügelt, sondern sein eigenes Herz verführt, dessen Gottesdienst ist eitel“ (Jak 1,26). Dies sind nützliche Worte für eine Zeit, wie die gegenwärtige, in welcher so viele ungezähmte Zungen freien Lauf haben! Möge uns der Herr Gnade geben, diese Worte zu beachten! Möge ihr heiliger Einfluss in unserem ganzen Wandel bemerkbar sein!

Endlich kommen wir auf das Temperament, das mit den Gedanken und der Zunge so eng verbunden ist. Wenn die Quelle der Gedanken geistlich ist und ihr Lauf nach oben geht, so ist die Zunge nur wirksam im Guten und das Temperament ist ruhig und still. Wenn Christus durch den Glauben im Herzen wohnt, so ordnet Er alles. Ohne Ihn ist alles schlechter als wertlos. Ich mag die Selbstbeherrschung eines Sokrates besitzen und ausüben, und doch zu gleicher Zeit ganz und gar unwissend sein in Betreff der Enthaltsamkeit in 2. Petrus 1,6. Die Letztere ist auf den Glauben, die Erstere auf die Philosophie gegründet – zwei ganz verschiedene Dinge. Wir müssen nicht vergessen, dass es heißt: „Fügt zu eurem Glauben.“ Der Glaube hat die erste Stelle, als das alleinige Band, welches das Herz mit Christus, der lebendigen Quelle aller Kraft, verbindet. Wenn wir Christus haben und in Ihm bleiben, so sind wir fähig, zu unserem Glauben „die Tugend, die Kenntnis, die Enthaltsamkeit, das Ausharren, die Gottseligkeit, die Bruderliebe, und die Liebe“, zuzufügen. Das sind die köstlichen Früchte, die von dem Bleiben in Christus hervorkommen. Ich aber kann ebenso wenig mein Temperament, als meine Zunge oder meine Gedanken im Zaum halten, und wenn ich mich daran wage, so werde ich sicher jede Stunde mein Vergehen zu beklagen haben. Ein Philosoph ohne Christus mag mehr Enthaltsamkeit in Betreff seiner Zunge und seines Temperaments ausüben, als ein Christ, wenn er nicht in Christus bleibt. Dies sollte nicht sein und würde auch nicht sein, wenn der Christ einfach auf Jesus schaltete. Fehlt er hierin, so gewinnt der Feind die Oberhand. Der Weltweise, ohne Christus, scheint oft in der Arbeit der Enthaltsamkeit erfolgreicher zu sein; aber ach! er wird in Wirklichkeit nur immer blinder über seinen wahren Zustand und geht plötzlich ins ewige Verderben. Doch vergessen wir nicht, dass Satan seine Lust daran findet, einen Christen zum Straucheln und zum Fall zu bringen, damit dadurch der köstliche Name Jesu verlästert werde.

Geliebter Leser! lass uns diese Dinge zu Herzen nehmen. Lass uns auf Christus schauen, um unsere Gedanken, unsere Zunge und unser Temperament im Zaum zu halten. Lass uns „allen Fleiß erweisen“, und wohl erwägen, wie vieles darin enthalten ist. „Denn wenn diese Dinge bei euch sind und reichlich vorhanden, so stellen sie euch nicht träge, noch fruchtleer hin in der Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus. Denn bei welchem diese Dinge nicht sind, der ist blind, kurzsichtig und hat die Reinigung seiner früheren Sünden vergessen“ (2. Pet 1,8–9). Wie ernst sind diese Worte! Nie leicht verfallen wir in einen Zustand geistlicher Blindheit und Vergesslichkeit. Kein Maß der Erkenntnis, weder der Lehre noch des Buchstabens der Schrift, kann unsere Seele vor diesem schrecklichen Zustand bewahren. Nur „die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus“ kann uns von Nutzen sein; und diese Erkenntnis wird dadurch in der Seele vermehrt, dass wir allen Fleiß erweisen, zu unserem Glauben alle die verschiedenen Gnaden hinzuzufügen, die der Apostel in jenem höchst praktischen und ergreifenden Abschnitt anführt. „Deshalb vielmehr, Brüder, befleißigt euch, eure Berufung und Auserwählung fest zu machen; denn wenn ihr dieses tut, so werdet ihr niemals straucheln. Denn also wird euch reichlich dargereicht werden der Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilands Jesu Christi“ (2. Pet 1,10–11).

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