Botschafter des Heils in Christo 1865
Paulus und Felix
Dies Kapitel liefert uns einen bemerkenswerten Kontrast zwischen einem wahren Christen und einem Weltmenschen – zwischen Paulus, dem Gefangenen, und Felix, dem Richter. Wir sehen sie hier einander gegenüberstehen, und haben Gelegenheit, die Quellen der Handlung in dem Gefangenen und in dem Richter zu betrachten. Das Auge des Paulus ruhte auf dem Unsichtbaren und Ewigen, das Auge des Felix aber auf dem Sichtbaren und Zeitlichen; Paulus stand im Licht des Himmels, Felix war eingehüllt in die Finsternis der Erde. Mit einem Wort, sie stellen in jeder Beziehung einen lebhaften und lehrreichen Gegensatz dar. Lasst uns deshalb dies bezeichnende Bild ein wenig näher betrachten. Und indem wir dieses tun, werden wir sehen, was – wie wir es bezeichnen wollen – der Glaube, die Hoffnung und das praktische Leben beider Menschen war.
Lasst uns denn zuerst von den Lippen des Paulus, dem Gefangenen Jesu Christi, eine Darstellung seines Glaubens, seiner Hoffnung und seines praktischen Lebens hören.
„Aber dieses bekenne ich dir, dass ich nach dem Weg, den sie Sekte nennen, also dem Gott meiner Väter diene, indem ich allem glaube, was nach dem Gesetz ist und in den Propheten geschrieben steht“ (V 14). Hier war der Glaube des Paulus: „Allem, was nach dem Gesetz ist, und was in den Propheten geschrieben steht.“ Ein Christ hat jetzt, wie wir wissen, ein weiteres Feld; er ist fähig hinzuzufügen: „Allem, was im Neuen Testament geschrieben steht.“ Dies ist der Glaube eines Christen: – das ganze Wort Gottes – der ganze Canon der göttlichen Eingebung. Er bedarf nichts mehr, er kommt nicht mit Wenigerem aus; er wünscht nichts anderes. „Die ganze Schrift“ ist das Glaubensbekenntnis eines Christen, und sicher ist sie völlig hinreichend. In ihr findet er seine Standarte, sein Bekenntnis, seinen Prüfstein, sein alles. Durch sie kann er sich selbst und alles um sich her prüfen – sowohl seine eigenen Gedanken als auch die seines Mitmenschen. Sitten und Lehren können alle mit diesem Maß gemessen und in dieser Wage gewogen werden. Sie reicht auf göttliche Weise hin für alle Zeitalter und alle Nationen. Hohe und Niedere, Reiche und Arme, Gelehrte und Ungelehrte, Alte und Junge können im Wort Gottes alles finden, was sie bedürfen. Zu sagen, dass wir je etwas außer demselben nötig haben, heißt Unehre legen auf das, was unser Gott so gnädig gegeben hat.
Und was war die Hoffnung des Paulus? „Und ich habe die Hoffnung zu Gott, welche auch selbst diese annehmen, dass eine Auferstehung der Toten sein wird, sowohl der Gerechten als auch der Ungerechten“ (V 15). das ist die Hoffnung eines Christen: „Hoffnung zu Gott“ – Hoffnung der Auferstehung. Es ist nicht zum Menschen, noch steht sie zu irgendetwas diesseits des Grabes in Beziehung. Alle irdische Hoffnungen und Erwartungen schwinden wie die Wolke am Morgen. Der Stempel des Todes ist hienieden auf alles gedrückt. Das Grab ist das traurige Ende der Geschichte des Menschen in dieser Welt. Aber, gepriesen sei Gott, die Hoffnung des Christen führt denselben ganz und gar über das Grab hinaus, und verbindet ihn mit jenen ungesehenen und ewigen Wirklichkeiten, die ihm, als auferweckt mit Christus, angehören. Hier unten hat nichts Wert, um darauf zu hoffen. Alles geht schnell vorüber. Der kalte Odem der Sterblichkeit durchkreuzt beständig die lieblichsten Szenen der Erde und zerstört sie; durch die am zärtlichsten gepflegten Hoffnungen in Bezug auf die Kreatur werden wir sicher am meisten getäuscht. Paulus war deshalb weise, als er sagte: „Ich habe die Hoffnung zu Gott.“ Wäre es anders gewesen, so würde sein Los höchst elend gewesen sein. Er hatte das Ende von allem erreicht, was diese Welt darbieten konnte; er hatte die Lockerheit der schönsten Anmaßungen des Menschen erprobt; deshalb blieb ihm nichts anderes als alle seine Hoffnungen auf den zu gründen, der die Toten lebendig macht– auf den lebendigen Gott – auf den Gott der Auferweckung. So viel in Betreff der Hoffnung eines wahren Christen.
Endlich ein Wort über das praktische Leben des Paulus. „Indessen übe auch ich mich, allezeit ein Gewissen ohne Anstoß vor Gott und den Menschen zu haben“ (V 16). das ist die praktische Übung des Christen. Möge es von Tag zu Tag in allen Szenen unseres Lebens die unsrige sein. Mögen wir fähig sein, uns in einer solchen Weise zu betragen, dass wir dem Menschen keinen Anstoß – keinen gerechten Anlass dazu geben, und vor Gott ein reines, nicht verurteiltes Gewissen bewahren. Nie sollten wir mit wenigerem, als diesem, zufrieden sein. Wir können missverstanden werden, wir können Dinge in Unwissenheit tun, Fehler machen und in vielen Dingen zu kurz kommen; aber bei diesem allem sollen wir stets ernstlich und aufrichtig begehren, ein Gewissen ohne Anstoß vor Gott und den Menschen zu haben. Die „Hebung“ wird ohne Zweifel gefordert, und kann nicht ohne Schwierigkeit erreicht werden; aber sie sollte eifrig gesucht werden, denn sie ist die wahre Praxis eines Christen.
Dies ist nun das liebliche Bild, das dargestellt wurde in der Person des Paulus, des Gefangenen – das Bild eines wahren, praktischen Christen. Sein Glaube ruhte auf der Offenbarung Gottes – seine Hoffnung erstreckte sich bis nach der Auferstehung, und sein praktisches Leben wurde charakterisiert durch die ernste Übung, ein tadelloses und aufrichtiges Leben vor Gott und den Menschen zu führen. Gott gebe, dass wir in dieser Zeit, wo so viel leeres Bekenntnis herrscht, diese Dinge kennen und verwirklichen.
Jetzt lasst uns einen flüchtigen Blick auf das Bild eines völligen Weltmenschen werfen. Wir wollen dabei die Aufmerksamkeit des Lesers nur auf dessen Hauptzüge lenken.
Der Geist Gottes hat uns das, was wir den Glauben des Weltmenschen nennen können, in dem vorliegenden Kapitel in höchst eindringlicher Sprache vorgestellt. „Als Paulus aber Über Gerechtigkeit, und Enthaltsamkeit, und das kommende Gericht redete, geriet Felix in Furcht und antwortete: Für jetzt gehe hin; wenn ich aber gelegene Zeit habe, so werde ich dich rufen lassen“ (V 25). Der treue Gesandte stand vor dem wollüstigen Landpfleger und donnerte feierliche und ergreifende Töne in Betreff der Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit und des kommenden Gerichts in sein Ohr. Und als der Gefangene sprach, da zitterte der Richter. Wie ungewöhnlich! Es war etwas Neues– etwas das ganz verschieben von dem war, was gewöhnlich in den Gerichtshallen gesehen wird. „Felix zitterte.“ Arme Kreatur! Wohl mochte er zittern, und wie glücklich wäre er gewesen, wenn sein Zittern über sich selbst ihn zu Jesu geführt hätte! Aber ach! er begnügt sich mit dem Glauben an eine „gelegene Zeit“, die, insoweit die Geschichte uns meldet, nimmer kam. Es ist vergeblich für einen Menschen von „einer gelegenen Zeit“ zu sprechen, da er sie jedenfalls nimmer finden wird. Da wird immer etwas sein, das seinem ernsten Nachdenken über die große Frage seiner ewigen Bestimmung hemmend in den Weg tritt – etwas, das es ungelegen macht. Er mag bei der ernsten Berufung auf den wichtigen Gegenstand des „kommenden Gerichts“ zittern; aber die Welt in ihren verschiedenen Formen wird dazwischenkommen und es zu einer ungelegenen Zeit machen, und also geht er von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr dahin, bis der Tod kommt und ihn an jenen Platz des ewigen Elends führt, „wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt.“ Gottes Zeit ist jetzt. „Jetzt ist die wohl angenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Heute, so ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.“
Doch betrachte die Hoffnung des Felix. „Zugleich hoffte er auch, es würde ihm vom Paulus Geld gegeben werben.“ Welch ein Gedanke! Felix konnte „oft“ zu Paulus senden mit der Hoffnung, Geld zu erhalten; aber in Betreff der Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit und des kommenden Gerichts hatte er gar keine gelegene Zeit. Welch eine Entfaltung der verborgenen Quellen der Handlung haben wir hier! Welch eine Enthüllung der Wurzeln der Dinge! Die Ewigkeit wird bei Seite gesetzt – nach Geld wird mit Fleiß getrachtet. Jede Zeit ist „gelegen“, wenn Geld zu hoffen ist – keine Zeit ist gelegen, wenn das kommende Gericht zu fürchten ist.
Jetzt noch ein Wort in Betreff des praktischen Lebens des Felix. „Als aber zwei Jahre um waren, bekam Felix zum Nachfolger den Porcius Festus; und da Felix sich bei den Juden in Gunst setzen wollte, hinterließ er den Paulus gefangen“ (V 27). Dies vollendet das trübe Bild eines Weltmenschen. Sein Glaube war „an eine gelegene Zeit“, die nimmer kam, seine Hoffnung auf „Geld“ das er nimmer empfing, und sein praktisches Leben, einen unschuldigen Menschen in Gefangenschaft zu lassen, um ein wenig Volksgunst zu erlangen. Möge der Geist Gottes die lehrreiche Aufgabe, die uns durch dieses klare Bild des Paulus und Felix vorgestellt ist, unseren Herzen tief einprägen!