Botschafter des Heils in Christo 1865
Des Pilgers Trost
Das achte Kapitel des 5. Buches Mose enthält herrliche, trostreiche und ernste Lehren. Der Geist Gottes redet hier durch den Mund seines Knechtes Moses mit seinem Volk, welches, am Ziel einer vierzigjährigen Wanderung, im Begriff ist, das ihm verheißene Land in Besitz zu nehmen. Er richtet den Blick dieser Pilger der Wüste auf die zurückgelegten Pfade und erinnert sie an alle die Ereignisse jener Zeit und an die –nie mangelnde Hilfe und unablässige Treue Gottes. Hauptsächlich aber werden uns hier zwei Dinge vor Augen gestellt: 1. Die Absicht Gottes in Betreff der uns begegnenden Umstände, und 2. seine Hilfe und Sorgfalt für uns, während wir, mit der Aussicht auf die Herrlichkeit, durch die Wüste pilgern.
1. In dem zweiten Verse des oben bezeichneten Kapitels lesen wir: „Du sollst gedenken alles des Weges, den dich der Herr, dein Gott geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf dass er dich demütigte, und versuchte dich, dass kundwürde, was in deinem Herzen wäre, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht.“ – Hier wird uns hinsichtlich der Absicht Gottes, bei den Umständen, die uns begegnen, ein völliger Aufschluss gegeben. Die uns treffenden Umstände sind in seiner Hand die Mittel, wodurch Er alles das, was in unseren Herzen verborgen ist, offenbar machen und vor unseren Augen ins Licht stellen will. Mögen wir uns in traurigen oder glücklichen Lagen befinden; mögen Schwierigkeiten und Mühsale unsere Schritte hemmen, oder Stunden kurzer Rast an uns vorüberziehen; mag die Wut der Verfolgung ihr Riesenhaupt erheben, oder der ungestörte Genuss der uns geschenkten Vorrechte uns vergönnt sein – alle diese Umstände offenbaren, in welchem Zustand unsere Herzen sich befinden.
Dieses zeigt uns die Geschichte der durch die Wüste wandernden Kinder Israel in der augenscheinlichsten Weise. Nur wenige Tage nach dem Auszug aus Ägypten bot schon der Mangel an Fleisch die Gelegenheit, um zu offenbaren, wie ihr Herz mehr durch die Schätze Ägyptens, als durch die Gegenwart des Herrn angezogen ward. „Ach, dass wir in Ägypten gestorben wären!“ schrien sie. Ebenso stellte die vierzigtägige Abwesenheit Mose auf dem Berg unverhüllt ins Licht, wie sehr sie durch den ägyptischen Götzendienst verunreinigt waren; denn das längere Verweilen des Knechtes Gottes auf dem Berg ward zum Prüfstein für das Verhalten Israels, sowie der eingetretene Mangel an Wasser klar und bestimmt bekundete, dass das Herz dieses Volkes, angesichts der geringsten Unannehmlichkeit, zum Murren und zur Empörung geneigt war. Und eben dieses Murren wurde selbst für Moses, dessen Handlungen in vielen anderen Umständen die größte Sanftmut, den stärksten Glauben und das unerschütterlichste Gottvertrauen zur Schau trugen, ein geeignetes Mittel, um das Verborgene seines Herzens erkennen zu lernen. Und wenn wir schließlich noch daran erinnern, wie es nur des Berichts der Kundschafter bedurfte, um das Misstrauen Israels gegen die Macht Gottes wach zu rufen, so werden uns diese einzelnen Beispiele schon zur Genüge belehren, dass Gott sich all dieser äußeren Umstände bediente, um den Zustand der Herzen zu offenbaren.
Und so ist es noch immer. Werden wir durch Trübsal, Leiden und Schwierigkeiten heimgesucht, so sind diese Umstände die von Gott gewählten Mittel, uns durch das Offenbarwerden unserer Herzen zur Selbsterkenntnis zu führen, auf dass wir uns vor Gott demütigen, und vom Bösen gereinigt, mehr und mehr fähig werden, Ihn zu verherrlichen. Alles, was über uns ergeht, hat diesen gesegneten Zweck. Die uns treffenden Umstände werden entweder offenbaren, dass unser Herz befestigt ist und sich in der Nachfolge Jesu befindet, oder dass verkehrte Grundsätze in uns tätig sind. Hat jemand mit Armut und Dürftigkeit zu kämpfen, so wird bald kundwerden, ob sein ganzes Vertrauen auf den Herrn gerichtet und sein Herz darum von Frieden und Trost erfüllt ist, oder ob er ängstlicher Sorge Raum gibt, und voll Unzufriedenheit über sein Verhängnis murrt und in Klagen ausbricht. Ist jemand beleidigt worden, so wird sogleich ins Licht treten, ob er, sanftmütig wie Jesus, für seinen Beleidiger zu bitten vermag, oder ob gekränkte Eitelkeit, verletzter Stolz, Zorn und Rache seine Handlungen leiten.
Es ist von großer Wichtigkeit, diese Wahrheit ernstlich zu erwägen. Wir sind so sehr geneigt, beiden Umständen zu verweilen, ohne Gott darin zu sehen; besonders aber sind wir bemüht, die Hand Gottes dann vollends auszuschließen, wenn wir durch andere Menschen, ohne unsere Schuld, in unangenehme Umstände gestürzt worden sind. Ach, wie unmutig widersetzt sich in solchem Fall das Herz und wie sehr verkennt man die Absicht Gottes, wenn man nicht glauben kann, dass Er selbst die verkehrten Handlungen der Menschen zulässt, um unser Wachstum zu fördern! Dennoch aber ist es also; und darin liegt für uns ein großer Trost. Hat unser Herz den gesegneten Zweck der uns begegnenden Umstände begriffen, so gewinnen die Leiden, die Kämpfe und alle Schwierigkeiten ein ganz neues Aussehen; und wir tragen dann das glückliche Bewusstsein in uns, dass alle Dinge für uns zum Guten mitwirken müssen. Vergessen wir also nicht, dass Gott es ist, der die für uns passenden Umstände bewirkt oder zulässt, um uns zu segnen und zu erziehen; denn wenn dieses nicht verstanden wird, so ist alles umsonst, was Er an uns tut. Und in der Tat wird dann unser Herz nicht nur unruhig und unglücklich, sondern auch unfähig sein, die Stimme des Herrn zu vernehmen und von Ihm zu lernen. Wir sind seine Kinder; und kein Haar fällt von unserem Haupt ohne seinen Willen. Unser Glück ist sein Wunsch; unser Wachstum sein Zweck. Beachten wir daher seine Worte, wenn Er sagt, dass all dieses geschehe, damit „kundwürde, was in dem Herzen ist.“
2. Jedoch ist dieses nicht alles. Wir bedürfen nicht nur des Offenbarwerdens unseres Herzenszustandes, sondern auch der Hilfe und des Trostes Gottes, um unsere Wanderung durch eine öde, dürre Wüste mit Ausharren und Sündhaftigkeit vollenden zu können. Und welch herrliches Vorbild liefert uns in dieser Beziehung das nach Kanaan pilgernde Israel! Vierzig Jahre hindurch war das große israelitische Heer in einer Wüste umhergeirrt, die weder Brot noch Wasser, weder Kleider noch Schuhe dem Pilger bot, wo vielmehr die alles versengenden Strahlen der Sonne den Sand des Bodens fast bis zur Glut anfachten, und kein schattenspendender Baum zur Ruhe und Erquickung einlud, und wo sogar ganze Scharen wilder Kriegsvölker in ihren Verstecken lauerten, oder mit Wutgeschrei hervorbrachen, um dem wandernden Volk den Durchzug streitig zu machen. Dennoch aber konnte nach Ablauf dieser vierzig Jahre der Herr sagen: „Eure Kleider sind nicht veraltet, eure Füße nicht geschwollen diese vierzig Jahre!“ (V 4) Ist es nicht, als ob Erfragte: „Hat euch in den vierzig Jahren je etwas gemangelt?“ Welch herrliche Offenbarung der Liebe Gottes! Trotz all ihrer Untreue, ihres Murrens, ihres Unglaubens und ihrer Abgötterei war Er in seiner Treue unverändert Derselbe geblieben. An jedem Morgen hatte das Manna den Boden bedeckt, an jedem Tag war Wasser in Überfluss aus dem Felsen hervorgesprudelt, – nicht veraltet waren ihre Kleider, nicht geschwollen ihre Füße während dieser vierzig Jahre. „Hat euch je etwas gemangelt?“ Wohl mag Israel bei dieser Frage mit Scham auf jene Zeit zurückgeblickt haben; wohl mag diesem halsstarrigen Volk das Bewusstsein seiner Untreue lebendig vor die Seele getreten sein; nichtsdestoweniger aber wird ihr Herz vor Freude gehüpft haben bei Erinnerung an die unwandelbare Treue Gottes. Nicht einen einzigen Augenblick hatte Er sie versäumt. Welch ein Gott! Und dieser Gott ist der unsrige! Er, der diese Worte einst zu Israel redete, wird sie am Ende unserer Pilgerreise auch an uns richten. Im Hinschauen auf die zurückgelegten Pfade, auf seine Führungen und Leitungen, und bei der völligen Erkenntnis seiner anbetungswürdigen Liebe, werden wir auf die an uns gerichtete Frage: „Hat euch je etwas gemangelt?“ die freudige Antwort geben: „Nein, Herr, nichts!“ – Darin werden wir erkennen, wie Er jeden Umstand für uns zum Segen bereitete, wie das schnell vorübergehende Leichte unserer Drangsale uns ein überreichlich, überschwängliches, ewiges Gewicht von Herrlichkeit bewirkte und wie Er uns versorgte, leitete, schirmte und uns sogar aus tausend Gefahren errettete, die wir kaum ahnten. Und wo werden wir dann Worte finden, um eine solche uns stets bewiesene Liebe zu preisen!
Und warum werden wir an dieses alles erinnert? Darum, weil die Fürsorge Gottes unser Auge auf jenen Tag der Zukunft richten will. Gleich Israel in der Wüste der Welt, die weder Speise noch Labung bietet, finden wir hienieden nichts als Kampf, Elend und Mühsal. Als Fremdlinge, wandelnd inmitten feindlicher Grenzen, erblicken wir hier keine Heimat, keinen Ruheort und, als Nachfolger Christi, keinen Platz, um unser Haupt darauf niederlegen zu können. Das kleine Häuflein, oft in den kümmerlichsten Lagen und der Welt unbekannt, ist ein armes, schwaches und verachtetes Volk. Je mehr wir uns als Pilger und Fremdlinge bewähren, und unseren himmlischen Charakter verwirklichen, desto mehr werden sich Angst und Beschwerde, Schmach und Hohn an unsere Ferse heften. Wollen wir die Waffen strecken und mutlos niedersinken? Ach, nein! Das Auge ist gerichtet auf den Tag der Zukunft, auf das Ziel der Pilgerschaft; und ins Herz dringt das mächtige Wort des Herrn: „Eure Kleider sind nicht veraltet, eure Füße nicht geschwollen!“ Das Auge des Glaubens schaut den starken Arm des treuen Gottes, und mit Beschämung und Reue über unseren Unglauben klammern wir uns desto fester an den Unsichtbaren. Und blicken wir selbst schon jetzt auf die bereits zurückgelegte Strecke, so müssen wir, ungeachtet des vielen Dunkels, welches erst der Tag aufklären wird, mit Anbetung bekennen, dass uns nie etwas gemangelt hat. Ihr, die ihr, arm an zeitlichen Gütern, oft ratlos und mutlos unter der Bürde des Lebens geseufzt habt, – hat euch je etwas gemangelt? Hat Er, der die Raben speist und die Lilien kleidet, Euch nicht mit Nahrung und Kleidung versorgt? Habt ihr nicht oft, wenn die Not ihren Gipfel erreichte, seine mächtige Hilfe erfahren? Wohlan denn: „Seid um nichts besorgt; sondern in allem lasst durch Gebet und Flehen mit Danksagung euer Gebet vor Gott kundwerden.“ Ihr, die ihr in allerlei Schwierigkeiten verwickelt seid, oder gar für den Namen des Herrn geschmäht werdet, – Ihr, die ihr das Werk des Herrn treibt und mit so vielem Widerstände, mit Hartnäckigkeit, Unglauben und Heuchelei von Seiten eurer Widersacher zu kämpfen habt; – und ihr alle endlich, in welchen Lagen und Umständen ihr auch sein möget – hat euch je im Geistlichen wie im Leiblichen etwas gemangelt? Nein, tausendmal nein! So lasst uns denn dem Herrn vertrauen; lasst uns Ihm alles übergeben, und an seiner Hand mutig vorwärts pilgern! Wie dürre, wie öde, wie mühsam die Wüste auch sein mag – seine Nähe ersetzt alles; und Er wird alles wohl machen.
O geliebte Brüder! Möchten wir doch alle – ein jeder in dem Kreis, wohin Gott ihn gestellt hat – als Lichter in der Welt scheinen; möchte doch unser ganzes Verhalten ein Zeugnis sein, dass wir ein besseres Vaterland und größere Reichtümer besitzen, als die Welt und ihre eitlen Genüsse; möchten wir doch durch Wort und Wandel in allen Lagen laut verkünden, dass wir glauben an den allmächtigen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde! Von diesem Glauben zu reden, genügt nicht; er muss in unseren Herzen gewurzelt sein. „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Der Glaube allein überwindet die Welt. Er findet zu jeder Zeit die Vorratskammern Gottes geöffnet und empfängt daraus seinen völligen Bedarf. Der Glaube erblickt in allen Umständen die Treue Gottes und schöpft für die Folge stets neue Kraft aus der Erfahrung dieser Treue; er richtet die Blicke auf die ihm vorliegende, ewige Herrlichkeit und vernimmt inmitten der Kämpfe und Trübsale dieser Welt das Wort des Herrn: „Habt ihr je Mangel gehabt?“
Ja, geliebte Brüder! Wie einst Israel, so stehen auch wir an der Grenze des gelobten Landes, des himmlischen Kanaans. Nur noch wenige Augenblicke der Mühe und der Drangsal, und der Herr wird kommen, um uns aus dem Streit abzurufen und dem Vaterhaus entgegenzuführen, wo ein überfließendes Maß ewiger Freude uns durch die Gnade bereitet ist. Dann wird verwandelt sein das Leid in Herrlichkeit, die Fremde in eine Wohnstätte des Vaterlandes, die Wüste in ein Land, wo Milch und Honig fließt. Darum lasst uns im Rückblick auf die bereits überschrittenen Pfade und im Anschauen der zukünftigen Herrlichkeit, unsere Pilgerreise mutig und in der Kraft dessen fortsetzen, der uns vorangegangen ist als der Anfänger und Vollender des Glaubens.