Botschafter des Heils in Christo 1864
Anläufe des Feindes beim Antritt des Lebensweges
Vor nicht langer Zeit wurde ich gebeten, einen jungen Mann zu besuchen, der gemütsleidend war. Er war Dragoner–Lieutenant und lag bereits seit 70 Tagen im Lazarett. Bei Gelegenheit meines Besuchs fühlte er sich körperlich etwas wohler, so dass er im Stand war, mit mir auf dem geräumigen Kasernenlatz hin und her lustwandeln und die freie Luft genießen zu können. Ich bemerkte bald, dass sein Gemütszustand ein höchst unglücklicher war. Er war etwa seit fünf Jahren beim Heer gewesen und hatte ohne Zweifel, gleich den meisten jungen Leuten seines Standes, ein höchst lockeres Leben geführt. Eine Kaserne ist, wie jeder weiß, eben kein geeigneter Platz für Sittlichkeit und Gottesfurcht. Es gehört in der Tat ein nicht geringes Maß von Gnade und sittlicher Kraft dazu, um den verderblichen und vergiftenden Einflüssen der Umgebung in solch einem Räume Widerstand bieten zu können; und ein großer Teil der Jünglinge, die zwar eine gute sittliche Erziehung genossen, aber Jesus nicht kennen gelernt haben, erliegen leider der Macht dieser Einflüsse.
Es erregte daher keineswegs mein Befremden, als ich aus dem Mund des Lieutenants die Schilderung seines höchst leichtfertigen Lebens vernahm. Ich war vielmehr sehr erfreut, in der Art und Weise seiner Mitteilung ein tiefes Gefühl von Schuld zu entdecken und zu sehen, wie die Pflugschar dieses Bewusstseins mächtige Furchen in das Gewissen grub, um den unverweslichen Samen des Evangeliums in einem fruchtbaren Erdreich aufnehmen zu können. Überhaupt ist es mir stets erfreulich, wenn die Sprache eines Gewissens eine verständliche und das Sündenbewusstsein ein tiefes ist. Ich habe oft bemerkt, dass die, welche erst nach den gewaltigen Stürmen ihres Gewissens und nach den heftigsten Erschütterungen ihres ganzen sittlichen Wesens den Hafen des wahren Friedens erreichen, späterhin die standhaftesten Christen sind.
Da nun das Gewissen des jungen Mannes erwacht war, und das kostbare Blut Jesu das göttliche und allgenügsame Heilmittel für ein gebrochenes Herz und ein beunruhigtes Gewissen ist, so zeigte ich ihm sogleich diesen Balsam der Seele. Vor allem bemühte ich mich, ihm eine Wahrheit, die vor etwa 20 Jahren mir selbst Frieden gebracht, ans Herz zu legen: dass nämlich nicht das Werk des Geistes Gottes in uns, sondern das auf Golgatha für uns vollbrachte Werk das einzige Rettungsmittel sei. Der Geist hatte sein Gewissen von Sünden überzeugt; allein nur dadurch, dass er sein Vertrauen setzte auf den Wert und die Vollgültigkeit der durch Christus bewirkten Versöhnung, vermochte sein Gewissen Ruhe zu finden. Ist man durch Gott in Betreff seiner Sünden beunruhigt, so kann man auch nur auf göttlichem Weg zum Frieden gelangen. Ich will nicht rufen: „Friede, Friede!“ wenn kein Friede vorhanden ist. Nur durch den Heiligen Geist wird die Seele in die Lage gebracht, das Versöhnungswerk Christi erkennen zu können, durch welches alle Sünde getilgt und jede Forderung des gerechten Gottes befriedigt ist, der seine Gerechtigkeit in der Rechtfertigung eines jeden offenbart, welcher einfältig an Jesus glaubt.
Indes wurde mir klar, dass das Auge des jungen Mannes auf etwas ganz anderes, als auf das vollkommene Werk des Sohnes Gottes gerichtet war. Er suchte Ruhe und Trost zu erlangen durch sein Beten und Bibellesen, durch Dinge, die, wie ich ihm bemerkte als Früchte des Glaubens an Christus freilich hoch zu schätzen seien, die aber als Gründe für den Frieden eines schuldigen Sünders durchaus keinen Wert hätten. Ich suchte ihm deutlich zu machen, dass es unmöglich sei, je glücklich zu werden und Frieden zu finden, solange er sein Auge abwende von dem Gegenstand, auf den Gott blicke.
„Gott sieht“ – sagte ich – „auf Christus; und Sie sehen auf ihre Werke. Gott sagt: ‚Wenn ich das Blut sehe, will ich vorübergehen.‘ Gott ist zufrieden mit dem, was Er für Sie getan hat; Sie aber suchen Ruhe in dem, was Sie für Ihn zu tun sich abmühen. Sehen Sie nicht diese große Verschiedenheit? Gott hat stets ein vollbrachtes Werk vor Augen; und Sie ein noch zu vollbringendes Werk. Daher kommt ihr Elend. Sie müssen sich unglücklich fühlen, solange ihr Blick auf ein unvollendetes Werk gerichtet bleibt. Wenn noch irgendetwas von meiner Seite getan werden muss und zwar etwas, zu dessen Vollbringung ich unfähig bin, so fühle ich mich selbstredend höchst unglücklich. Wenn ich aber im Gegenteil sehe, dass dieses Werk durch einen anderen und zwar durch Christus für mich bereits vollbracht worden ist, so bin ich vollkommen glücklich.“
Ich gab mir viele Mühe, meinem Freund, während wir uns auf dem Kasernenplatz hin und her bewegten, diese Wahrheit ans Herz zu legen. Er schien einigen Trost daraus zu schöpfen; es war mir, als dringe ein Strahl himmlischen Lichts in seine umnachtete Seele. Indes war meine Zeit abgelaufen, und wir verabschiedeten uns. Er begleitete mich bis ans Tor, dankte mir herzlich für meinen Besuch, versprach mir, der Evangeliums–Verkündigung am folgenden Abende beiwohnen zu wollen, und hielt Wort.
Kurz nachher verließ ich für etliche Wochen die Stadt. Bei meiner Rückkehr vernahm ich indessen, dass mein armer Freund wieder sehr krank sei, nicht nur dem Leib, sondern auch der Seele nach. Im Gefühl der tiefsten Teilnahme schritt ich dem Lazarett zu. Kaum erblickte ich ihn, so musste ich leider bekennen, dass man mir das Trostlose seines Zustandes nicht übertrieben hatte.
„Aber, mein lieber Lieutenant“, – begann ich nach einer kurzen Begrüßung, – „wie sehr haben Sie sich verändert! Ich meinte, Sie seien vor sechs Wochen, als wir uns am Kasernentor verabschiedeten, sehr glücklich gewesen. Was ist denn eigentlich geschehen?“
„Ach, mein Herr!“ – war seine Antwort. – „Ich fürchte, dass ich nicht den rechten Glauben habe; ja, ich fürchte, dass ich überhaupt nicht bekehrt bin. Ach! ich bin sehr, sehr unglücklich.“
Ich begriff augenblicklich, wo es ihm fehlte, und sagte: „Teurer Freund! Vor sechs Wochen waren Sie mit ihren Werken beschäftigt, und demzufolge unglücklich; jetzt blickt ihr Auge auf ihren Glauben, und nicht minder sind Sie unglücklich. Und warum? Einfach darum, weil Sie durch das Beschauen ihres Glaubens ihren Blick von Christus abwenden, ebenso, wie dieses beim Beschäftigtsein mit ihren Werken der Fall war. Der Glaube schaut nie auf sich selbst, um seine Echtheit zu erforschen, sondern auf Christus, als den Gegenstand des Glaubens. Überdies erlaube ich mir, Ihnen zu bemerken, dass der Grund meines Friedens nicht meine vor etwa 20 Jahren geschehene Bekehrung, sondern das vor 1800 Jahren vollbrachte Werk Christi ist, der meine Sünden ans Kreuz trug und ohne Sünden gen Himmel fuhr. Wohl glaube ich, dass ich bekehrt bin, dass eine wirkliche Veränderung in mir stattgefunden und der Geist Gottes selbst in mir gewirkt hat; aber das ist nicht der Grund meines Friedens, und würde es selbst dann nicht sein, wenn auch alle Heiligen ans der Erde und alle Engel im Himmel meine Bekehrung als vollkommen bezeichneten. Der Grund meines Friedens ist, dass Gott in Betreff meiner Sünden vollkommen befriedigt ist durch das vollbrachte Werk Christi. Sie können in ihren Begriffen hinsichtlich des wahren Grundes ihres Friedens nicht zu einfältig sein. Nicht durch ihre Bekehrung, oder durch ihren Glauben, oder durch ihr Gefühl, sondern nur durch die Tatsache, dass Jesus starb und auferstand, können Sie Frieden mit Gott erlangen. Das, was der Heilige Geist bei der Bekehrung einer Seele tut, darf allerdings keineswegs von dem, was Christus zu unserer Erlösung getan, getrennt, aber auch ebenso wenig mit demselben verwechselt werden. Tausende tun dieses und geraten dadurch in Finsternis und Traurigkeit.“
So sprach ich mit dem jungen Mann, für dessen Seelenzustand ich das lebhafteste Interesse fühlte. Ich hatte etliche Apfelsinen für ihn mitgebracht und nahm eine derselben zur Hand, um ihm das, was ich seinem Herzen einprägen wollte, noch mehr zu verdeutlichen.
„Sehen Sie sich einmal diese Apfelsine an“, sagte ich. – „Wenn ich Ihnen nun diese Frucht einhändige, was wird dann ihren Durst löschen, die Apfelsine oder ihre Hand?“
„Ohne Zweifel die Apfelsine“, war seine Antwort.
„Gut“, fuhr ich fort. – „Ein Kind wird es begreifen, dass Ihnen nicht ihre Hand, sondern die Apfelsine Erquickung bringt. Indes dürfen beide nicht voneinander getrennt und ebenso wenig mit einander verwechselt werden. In Betreff ihres Glaubens und dem Gegenstand, an welchen der Glaube sich festklammert, zeigt sich derselbe Fall. Ihr Glaube mag stark oder schwach sein; allem nimmer ist es ihr Glaube, sondern Christus, der Ihnen Ruhe gibt.“
„Das ist klar, sehr klar“, unterbrach mich der Kranke mit Kraft und Wärme. – „Wirklich nun ist mir es deutlich. Ich habe mein Auge von Christus abgewandt und bin dadurch in Finsternis gekommen. Ach, möchte mein Blick fortan doch fest auf Ihn gerichtet bleiben!“
„Das wünsche ich Ihnen von Herzen“, fügte ich hinzu. – „Wollen Sie elend sein, so blicken Sie auf sich selbst; wollen Sie Zerstreuung, dann schauen Sie sich um in ihrer Umgebung; wünschen Sie aber den Genuss himmlischer Freude, dann richten Sie ihr Auge nach Oben.“
Nachdem wir in dieser Weise unsere Unterhaltung noch eine Zeitlang fortgesetzt hatten, nahm ich wieder Abschied von meinem Freund. Als ich aber etliche Tage später im Begriff war, in einem der Kaserne nahe gelegenen Saale das Evangelium zu verkündigen, kam er mir zu meiner großen Freude und Verwunderung mit einem fröhlichen Gesicht entgegen. Er schien nicht mehr derselbe Mann zu sein. Man hatte ihn seines körperlichen Zustandes wegen zu fernerem Militärdienst unfähig erklärt; und er sah seiner Verabschiedung entgegen. Als ich nun meine Freude, ihn zu sehen, und Zugleich die Hoffnung ausdrückte, dass er jetzt wohl vollkommen Frieden haben werde, sagte er: „O gewiss, teurer Freund; jetzt ist mein Glück vollkommen; und ich bin nun fest entschlossen, das Panier des Kreuzes durch das ganze Land zu tragen.“
Ein feuriger Blick begleitete diese Worte. Ich zweifelte nicht einen Augenblick an seiner Aufrichtigkeit; allein mich beschlich die Furcht, dass der Feind beschäftigt sein könne, ihm andere Fallstricke zu legen und sagte nach einer Pause:
Mein Freund! Ich rate Ihnen, auf ihrer Hut zu sein. Durch das Beschauen ihrer Werke waren Sie vor etlichen Monden sehr unglücklich; und Sie waren es nicht minder, als Sie einige Wochen später auf ihren Glauben den Blick richteten. Jetzt aber sind Sie beschäftigt mit ihrem Dienst, den Sie dem Herrn zu widmen gedenken, wobei ich fürchte, dass auch dieses wieder ihr Auge von Christus abwenden wird. Nicht, als ob ich Glauben und Dienst geringachtete; nein – aber ich schätze Christus über alles. Ich bin vielen unbekehrten Seelen begegnet, die vielmehr mit ihrem Dienst als mit Christus selbst beschäftigt waren. Jene erlaubten es, dass ihr Dienst zwischen Christus und ihren Herzen einen Platz einnahm, und verfielen bald darauf in Traurigkeit und Mutlosigkeit. Nur wenn Sie ihren Blick auf den Herrn richten, wenn Sie sich fest an Ihn klammern und in Ihm bleiben, dann – aber auch nur dann werden Sie allezeit und auch bei seiner Erscheinung in seinem Dienst erfunden werden. Unsere Fruchtbringung ist bedingt durch unser Bleiben in dem Weinstock. Wir haben dadurch keinen Teil an Christus, dass wir Ihm dienen, sondern wir dienen Ihm, wenn wir in Ihm bleiben. Der Herr Jesus sagt: „Wenn jemand dürstet, der komme zu mir und trinke.“ – Und warum sollen wir kommen? Etwa um andere herbei zu ziehen? Nein, um selbst zu trinken. Und was wird die Folge davon sein? „Von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Nur dann, wenn unser Dienst seine Quelle hat in der Gemeinschaft mit dem Herrn, ist derselbe ein wahrhaft guter und Gott wohlgefälliger. –
Das waren meine Unterhaltungen mit dem jungen Mann; und ich wünsche von Herzen, dass dieselben vielen Neubekehrten zum Segen dienen möchten. Legt doch der Teufel jene Stricke, womit er meinen Freund zu fangen suchte, fast einem jeglichen, der den Weg des Lebens zu betreten beginnt; und leider fallen manche hinein. Sie suchen irgendetwas, was es auch sei, außer Christus, und glauben darin Ruhe zu finden, aber sie finden nur Unruhe und Elend. Der Herr selbst sagt: „Kommt her zu mir, alle Mühselige und Beladene, und ich werde euch Ruhe geben.“ Er sagt: zu mir. In Ihm allein finden wir alles, was ein schuldbeladenes Gewissen völlig entlasten und ein unruhiges Herz völlig beruhigen kann. Außer Ihm aber suchen wir dies alles vergeblich, wo wir es auch suchen mögen. Wo! mögen wir uns eine Zeitlang durch unsere Gefühle täuschen lassen; aber nie finden wir den wahren Frieden, der in den mannigfachen Versuchungen dieses Lebens Stich hält, sondern fallen im Gegenteil oft, wenn wir unsere Täuschung erkennen, in die traurigsten Zweifel. Sollte daher meine Mitteilung etwas dazu beitragen, dass der Leser durch unverrücktes Hinschauen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, vor den Fallstricken Satans bewahrt bleibe, so werde ich Gott dafür preisen und loben. –