Botschafter des Heils in Christo 1864
Der mitleidige Hohepriester
Es gibt nichts Tröstlicheres für ein verwundetes Herz, als die Teilnahme, das Mitgefühl von jemand, der sich einmal in gleicher Lage befunden hat. In Augenblicken des Schmerzes, des Kummers und der Leiden ist nur teilnehmende Liebe fähig, Balsam in die offene Wunde zu träufeln. Ein einziges Wort, ein Händedruck, ja nur ein teilnehmender Blick zeigt oft eine größere Wirkung, als die schönste Rede. Kein Wunder. Das leidende Herz fühlt kein Bedürfnis nach schönen Reden, wohl aber nach Erquickung und Trost; und nur der vermag zu trösten, der die Tiefe des Schmerzes einigermaßen begreift und herzlichen Anteil daran zu nehmen im Stand ist.
Vor allem aber fühlt der Jünger des Herrn auf seinen leidensvollen Pfaden ein Bedürfnis nach einer solchen Teilnahme. Zwar ist sein Herz glücklich in dem Bewusstsein, dass seine Sünden vergeben sind und er ein Kind Gottes geworden ist. Er hat die Gnade und Liebe Gottes erkannt, und sein Herz ruht darin; sein Gewissen ist von bösen Werken gereinigt, und er hat völlige Freimütigkeit in der Gegenwart Gottes zu erscheinen. Sein Schatz, sein Leben, sein Bürgerrecht ist im Himmel; er gehört nicht mehr dieser, sondern der neuen Schöpfung an, und ist bereits selbst in Christus in den Himmel versetzt. Durch die praktische Gemeinschaft mit seinem Heiland genießt er schon im Vorgeschmack die himmlische Seligkeit und schaut durch den Glauben die Herrlichkeit, die seiner wartet.
Nichtsdestoweniger aber befindet er sich hienieden in allerlei Schwierigkeiten. Denn ist diese Erde schon für den Weltmenschen, der den Becher ihrer so genannten Genüsse mit vollen Zügen leert, ein Schauplatz des Elends und des Leidens, wie vielmehr für den, der hier Fremdling ist und ein anderes, besseres Vaterland besitzt – für den, der zu unterscheiden versteht zwischen Licht und Finsternis, zwischen Leben und Tod, und dessen Auge nicht nur für das Seufzen der Kreatur geöffnet ist, sondern der auch bei jedem Schritt die Sünde wirken sieht, deren Abscheulichkeit er, weil davon erlöst, durch die Gnade erkannt hat! Für ihn ist die Welt in Wahrheit eine Wüste, worin er keine Ruhe, keine Erquickung zu finden vermag, sondern wo er den Leiden, dem Schmerz, der Trübsal, der Täuschung und anderen Übeln unterworfen ist. Wohin sich sein Blick wendet, begegnet er allerwärts den Folgen der Sünde und den Werken der Diener der Ungerechtigkeit, und ist Tausenden von Versuchungen des Teufels, der Welt und des Fleisches ausgesetzt. Überdies findet er als Kind des Lichts von Seiten der Welt nichts als Hass, Spott, Hohn und Verfolgung, In der Tat, nirgends findet er Ruhe. Deshalb fühlt er sich gleich dem Apostel beschwert, und – gleich ihm seufzt er voll Verlangen, von der irdischen Hütte erlöst und bei Christus zu sein; ja, deshalb regt sich, wenn auch unvollkommen und in einem geringen Maße, jenes Gefühl, welches Jesus zu dem Ausruf drängte: „Wie der Hirsch lechzt nach Wasserbächen, also lechzt meine Seele nach dir, O Gott!“ (Ps 42,1)
Wahrlich, der Jünger Christi bedarf in solchen Umständen des Trostes, des Mitgefühls und der Kraft. Ein jeder fühlt dieses! und gerade dieses Gefühl wird oft für manchen eine Ursache des Zweifelns an der Möglichkeit, sich allezeit im Herrn freuen zu können. Gebeugt unter den Bürden des täglichen Lebens und niedergedrückt durch Kampf und Leiden, ist freilich keine wahre Freude denkbar; und selbst der Gedanke an das baldige Kommen des Herrn gibt in solcher Lage keinen hinreichenden Trost. In Augenblicken des Leidens sehnt man sich nach einem teilnehmenden Freunde, nach einem mitfühlenden, mitleidenden Herzen; man hat das Verlangen, den Kummer der Seele durch Mitteilung auszuschütten, um dadurch den Schmerz zu lindern und dem Stachel desselben die scharfe Spitze abzubrechen. Haben wir uns dessen zu schämen? Keineswegs. Wir sind und bleiben Menschen, die nimmer gegen Schmerz und Weh unempfindlich sein können. Erst im Himmel sind alle Tränen abgewischt. Unser himmlischer Vater aber kennt unsere Schwachheiten und ist mit väterlicher Fürsorge auch hier unseren Bedürfnissen begegnet, damit unsere Freude völlig sei und wir im Ausblick zu Ihm stets singen können: „Weint gleich das Aug‘ in tiefem Schmerz,
Und schleicht sich Angst und Weh ins Herz,
Mit Jesu kann ich leiden.
Schaut doch sein Aug‘ so mitleidsvoll
Auf mich herab. Wohlan, nichts soll
Von seiner Lieb mich scheiden!“ Ja, wahrlich, Er hat uns einen Weg geöffnet, auf welchem unser Herz inmitten der schwierigsten Umstände stets Trost und Kraft zu finden vermag. Auf diesem Weg ist es möglich, sich selbst während des Leidens im Herrn freuen zu können, weil hier unser Auge Ihn selbst, den Tröster unserer Herzen, erblickt. Christus ist alles in allem. Er ist nicht allein unser Erlöser und Bräutigam; Er hat nicht nur alles vollbracht, was zu unserem ewigen Heil nötig war, sondern Er hat auch für alles gesorgt, was wir in dieser Wüste bedürfen. Er ist der mitleidige Hohepriester. „Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht mit unseren Schwachheiten Mitleid haben kann, sondern der in allem gleich wie wir versucht worden ist, ausgenommen die Sünde. Lasst uns denn mit Freimütigkeit zu dem Thron der Gnade hinzutreten, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe“ (Heb 4,15–16).
Welche Fülle von Trost liegt in diesen Worten! Jesus ward Mensch; Er – „der es nicht für eine Beute hielt, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem Er in Gleichheit der Menschen geworden ist“ – Er ward geringer, als der Geringste, ärmer, als der Ärmste, damit Er allen helfen und allen ein mitleidiger Hohepriester werden könnte. Er ward in allem gleich wie wir versucht, ausgenommen die Sünde. Nichts ist davon ausgeschlossen. Drei und dreißig Jahre hindurch wandelte Er als Mensch auf dieser Erde. Jedes Leid hat Er erfahren, jeden Schmerz gefühlt, jeden Kampf gekämpft. Jedes menschliche Gefühl ist Ihm bekannt. Außer der Sünde gibt es nichts, wo Jesus nicht sagen könnte: „Ich weiß, was es ist.“ – In Ihm finden wir also jemanden, der uns verstehen kann. Gott ist allwissend und kennt ohne Zweifel unsere Lage; aber wie unendlich nahe rückt die Liebe unserem Herzen die Person Christi, der alle Dinge aus Erfahrung kennt, um uns dadurch zutraulich und fähig zu machen, Ihm alles mitzuteilen. Wahrlich, der Herr Jesus versteht unser Herzeleid, unseren Schmerz, unsere Trübsal, unsere Tränen und alle die Schwierigkeiten unseres Weges, weil Er selbst darin gewesen ist und sie selbst durchgemacht hat. Welch süßer Trost! Er kann nun mit uns leiden. Kommt man zu Ihm mit einer Bürde, die uns zu Boden drücken will, so findet man nie eine kalte, das Herz abstoßende Gleichgültigkeit, sondern vielmehr eine Teilnahme, die Vertrauen weckt und den Balsam des Trostes in die Wunde träufelt. Man fühlt, dass Er ein Herz hat, welches uns versteht und den innigsten Anteil an unseren Leiden nimmt. Er weist uns nicht hartherzig von sich, sondern trocknet unsere Tränen; Er macht uns in Betreff unseres Kummers keinen Vorwurf, sondern teilt und fühlt den Schmerz mit uns.
O wie glücklich sind wir, solch einen Freund zu besitzen, der uns nimmer abweist und uns nimmer die Worte hören lassen kann: „Ich verstehe dich nicht; ich habe keinen Trost für dich!“ Welch ein Vorrecht, wenn man versteht, dass Er auch darum Mensch warb, um Mitleid mit unseren Schwachheiten haben zu können!
Ja, Jesus wurde in allem versucht, ausgenommen die Sünde, auf dass Er mit unseren Schwachheiten Mitleid haben könnte. Von diesem Gesichtspunkt aus finden wir in der Lebensgeschichte unseres Herrn eine Fülle von Trost. Keine Lage ist denkbar, worin Er sich nicht befand. Bist du ein Handwerker, und will dich die Schwierigkeit deines Geschäfts zu Boden drücken, o dann denke an den demütigen Zimmermann aus Nazareth, und du wirst bald innewerden, dass das Herz Jesu Anteil an deinen Mühen nimmt, und dass Er dein Freund ist, der dich versteht und dir Rat geben kann, weil Er selbst deine schwierige Lage erfahren hat. – Oder ist dein Herz traurig über den Verlust teurer Angehörigen, mm dann richte das tränenfeuchte Auge zu Ihm, der auch am Grab des Lazarus Tränen vergoss und am Kreuz der bekümmerten Mutter die Worte zurief: „Weib, siehe. Dein Sohn! Sohn, siehe. Deine Mutter!“ – und gewiss. Dein Kummer wird gemildert werden beim Erkennen einer solchen Teilnahme. Sollte Er, der am Grab seines Freundes weinte, kein Mitleid haben mit unserem Schmerz? Sollte Er, der auf solch rührende Weise von seiner Mutter Abschied nahm, nicht das Weh unserer Herzen begreifen beim Scheiden von denen, die uns teuer sind? – Oder ist dein Herz mit Schmerz wegen deiner noch unbekehrten Kinder erfüllt, o dann erhebe den besorgten Blick auf jene liebliche Szene, wo der Herr Jesus die Kinder segnet und dabei den Jüngern zuruft: „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt ihnen nicht!“ – und sicher. Du wirst erkennen, dass du auch diesen Kummer in das Herz Jesu ausschütten und seiner wärmsten Teilnahme versichert sein darfst. – Oder bist du krank, nun so wende dem Herz zu Ihm, der unsere Krankheiten auf sich genommen, und der während seines Wandelns hienieden nicht ermüdete, wohl zu tun und allerlei Krankheiten zu heilen; und gewiss, du wirst bald fühlen, dass Er auch auf dich sein mitleidiges Auge gerichtet hat. – Oder wirst du verhöhnt, verspottet, verfolgt und geschlagen; hast du keinen Ruheplatz; bist du allein, ohne Hilfe, ohne Freunde, und hast du gar von Seiten anderer Jünger zu leiden, – nun dann schaue hin auf das Leben des Herrn selbst, und du siehst Ihn in allen diesen Umständen, um Mitleiden mit deinen Schwachheiten zu haben. – Oder bist du endlich den Versuchungen Satans preisgegeben; fühlst du seine Macht und List, – nun, so denke an jene 40 Tage, die der Herr in der Wüste zubrachte, und an den schweren Kampf in Gethsemane; – und sicher, du wirst in Ihm den wahren Helfer und Tröster in deinen Versuchungen erblicken.
Und eine Fülle anderer Beweise für die Versuchungen und das Mitgefühl des Herrn in jeder Lage liefert– uns das Wort. Man denke an den Unglauben der Menge, an die Hartnäckigkeit der Pharisäer, an die Feigheit des Pilatus, an den Unverstand seiner Jünger, und an so viele andere Vorfälle in seinem Leben hienieden, und alles dieses wird es bestätigen, dass der Herr in allem versucht ward, ausgenommen die Sünde. Und warum ward Er in allem versucht? Damit wir freimütig mit all unserer Angst und Beschwerde, mit unserem Schmerz und unserem Kampf, ja mit allem, was uns begegnet, zu Ihm kommen und Gnade zur rechtzeitigen Hilfe finden möchten. Sobald wir unseren Jesus mit allem vertraut machen, werden unsere Herzen inmitten der Umstände getröstet sein, weil sein Mitleid uns fühlen lässt, dass wir nicht mehr allein drinstehen; und eben dieses Bewusstsein wird uns nicht nur fähig machen, die Schwierigkeiten mit Geduld zu ertragen, sondern auch, uns inmitten derselben freuen zu können. Und stets wird Er uns „zur rechten Zeit“ Seine Hilfe senden und dem Leiden ein Ende machen, oder Er wird, wenn die Abhilfe derselben weder uns, noch der Verherrlichung Gottes dienlich ist, dieselbe verzögern bis zur „rechten Zeit“, die nur Er allein kennt. Aber selbst in diesem Fall wird sich das Herz glücklich fühlen in der Gemeinschaft des Herrn, der mit unseren Schwachheiten Mitleid hat. O wie vollkommen ist Er allen unseren Bedürfnissen zuvorgekommen! Wie gut, wie gut ist Er! Wie glücklich sind die Herzen, die dieses verstehen und Gebrauch davon machen!
Und dennoch ist dieses nicht alles. Wir finden in dem Mitgefühl des Herrn nicht nur Trost, sondern auch Kraft bei Ihm (Hiob 5,18). Wir bedürfen der Unterstützung im Kampf; ja, wir bedürfen in den Versuchungen der göttlichen Kraft. Wer aber anders kann uns diese darreichen, als Er, der in allem auch versucht ward? Wer außer Ihm weiß, welches Maß von Kraft wir bedürfen, um stehen zu bleiben, und welche Weisheit, um Widerstand leisten zu können? Er, der in allem vollkommen war, weiß, was wir bedürfen; und Er hilft uns nicht nur insoweit, als wir sehen oder fühlen, sondern Er gibt uns gerade so viele Kraft, als wir nötig haben. Welch eine Gnade! Wie ruhig können wir uns Ihm anvertrauen! Von welchem Wert ist es deshalb für uns, dass Er wahrhaftig Mensch geworden ist, dass Er als solcher auf Erden wandelte und jetzt als solcher zur Rechten Gottes sitzt!
Geliebte Brüder! Lasst uns diese Wahrheit in unserem Herzen aufnehmen und bewahren; und gewiss, wir werden dann bald die herrlichsten und tröstlichsten Folgen in unserem Wandel verspüren. Es wird uns antreiben, viel mit Ihm zu verkehren und Ihn zu unserem Vertrauten zu machen; und unser Herz wird sich dann selbst in Kampf und Leid freuen in dem Herrn; denn „Jeden Schmerz hilft Er uns tragen,
Jedes Leid kann Er versteh‘n;
Und Er wird in allen Lagen
Stets zum Vater für uns fieh‘n.“